Filmstoff Migration

Ein Gespräch über Stadt, Migration und Identität mit Lotte Schreiber, der Kuratorin der gleichnamigen Programmsektion beim diesjährigen »crossing europe«-Filmfestival. Von Michael Gams.

Wo liegen die zentralen Unterschiede zur letztjährigen von Ihnen kuratierten Sektion »Reclaiming Space«?
Im Thema, welches sich am jeweiligen Jahresthemenschwerpunkt des afo orientiert. Letztes Jahr »Reclaiming Space«, dieses Jahr »Stadt, Migration, Identität«. Parallel zum Festival wird am 13.4. um 17:00 im afo, die von Peter Arlt kuratierte Ausstellung »Viertelwelten« eröffnet, die kritisch über Modelle interkulturellen Wohnens reflektiert. Darüber hinaus wird es heuer bei Crossing Europe einen Programmplatz mehr geben – also vier Filme zum Thema.
Welche Filme erwarten uns heuer in der Sektion »Stadt, Migration, Identität«?
Vier sehr unterschiedliche Dokumentationen, die das Leben von Menschen mit Migrationshintergrund in vier unterschiedlichen europäischen Städten beleuchten - Bern, Berlin, Calais und die Ränder von Paris.
Knapp über 15 Prozent der Linzer EinwohnerInnen haben einen so genannten »Migrationshintergrund«. Selbst im vergleichsweise kleinen Linz ist Migration ein häufig besprochenes Thema, unter anderem in so unappetitlichen Zusammenhängen wie dem Bettelverbot, vor dem Hintergrund angeblicher »ausländischer Bettelbanden«. Wie rücken die Filme der Sektion »Stadt-Migration-Identität« Bilder wie dieses zurecht?
Dass die so genannten »Bettelbanden« bisher jeglicher Beweisführung entbehren, sollte jeder wissen, der seine Informationen abseits der populistischen Medien gewinnt. Es gibt sie einfach nicht! Einer der gezeigten Filme, »Le bateau au carton« (Übers.: das Papierschiff) gibt uns Einblick in das Leben der Volksgruppe der Roma, die vor der bitteren Armut und Diskriminierung aus ihrer Heimat Rumänien nach Frankreich geflüchtet sind. Der Film lässt uns mit großem Respekt vor den einzelnen Menschen an deren Bedürfnissen und Träumen teilhaben und zeigt ungeschönt ihren täglichen Kampf ums Überleben, fern jeglicher »Bettelbanden«-Vorurteile. Zwei Jahre lang verbringt der Filmemacher Vieira mit ihnen, in ihren selbstgezimmerten Barackensiedlungen, beobachtet mit der Kamera ihr alltägliches Familienleben und wird dabei auch Zeuge der groß angelegten Räumungs- und Abschiebungsaktionen der französischen Regierung.
»Neukölln Unlimited«« ist einer der Filme, die in dieser Sektion gezeigt werden. Was hat Sie dazu bewegt, ihn auszuwählen?
Der Film zeigt abseits herkömmlicher Klischees und ohne auf die »Tränendrüse drücken zu wollen«, das Leben dreier libanesischer Geschwister im Berliner Migranten-Stadtteil Neukölln. Obwohl in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert, müssen sie tagtäglich darum kämpfen, dass sie und ihre Familie nicht abgeschoben werden. Dabei gewährt der Film auch einen interessanten Einblick in den bürokratischen Instanzen-Dschungel eines Asylverfahrens - »Jeder Fall ist ein Einzelfall«. Es ist aber ein durchaus positiver Film, der die Motivation und Energie dieser jungen Leute vermittelt und auch zeigt, wie absurd der Gedanke ist, dass diese Menschen in ein Land abgeschoben werden sollen, dessen Sprache sie nicht mal wirklich beherrschen.
Der Film ist eine Doku aus der Perspektive der jugendlichen Geschwister Hassan, Lial und Maradona, die mit Hip Hop und Breakdance aufgewachsen sind und ihre Familie finanziell unterstützen müssen. Sie fühlen sich manchmal fremd in dem Land, in dem sie aufgewachsen sind. Wem würden sie diese Doku besonders ans Herz legen?
Jedem!
 
Filmtipp #1: Ein Boot aus Papier...
...wird nicht schwimmen. Im Film »Le bateau on carton« bildet diese an sich banale Erkenntnis den schrecklichen, geschichtlichen Hintergrund, vor dem zahlreiche Roma aus Rumänien flüchten. Die Roma-Gruppe, die der portugiesisch-französische Filmemacher José Vieira zwei Jahre lang mit der Kamera begleitet, weiß um die Geschichte mit dem »Papierboot«. Aber nicht nur Todesangst, auch Arbeitslosigkeit und Armut treiben Roma-Familien in die Flucht. Diese endet meist in Westeuropa, beispielsweise in Frankreich. Dort hoffen sie auf ein besseres Leben, zumindest können sie dort Geld erbetteln, um für ihre Familien zu sorgen. Der Film zeigt in einfachen Bildern, wie der Alltag in einem Roma-Lager nahe Paris abläuft, wie die Leute dort hausen und warum sie kaum eine andere Wahl haben. Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge leben auf engstem Raum, helfen sich, freunden sich an und sind sogar einigermaßen zufrieden. So lange, bis ein Bulldozer kommt und das Lager dem Erdboden gleich macht. Mit 300 Euro in der Hand werden die Roma »nach Hause« geschickt – in diesem Fall nach Rumänien. Dort bleiben sie so lange, bis sie die Armut wieder forttreibt. Die Kinder, entwurzelt und nirgends zu Hause, können keine Schule besuchen, nicht lesen, nicht schreiben. Ein Kreis, der sich nie zu schließen scheint. Vieira stellt diesen Kreis anschaulich dar, als Zuseher fühlt man sich plötzlich mitten in die Gruppe versetzt. Die nahe Autobahn und der ständig präsente Geräuschpegel derselben bilden eine fremdartig wirkende Kulisse, vor der die Protagonisten agieren. Holz holen, Hütten winterfest machen, Essen kochen, aber auch Musizieren und miteinander plaudern – zwischendurch kommen Erinnerungen an eigene Zeltlager während der Schulzeit auf. Vieira sorgt dafür, dass diese Erinnerungen nicht Überhand nehmen und lässt die Protagonisen unkommentiert zu Wort kommen. Ein kleiner Junge erzählt völlig abgeklärt über die Zerstörung des Lagers und die Abschiebung, ein erwachsener Mann hingegen reißt sich aus Verzweiflung selbst die Haare aus. Sehr wohl inszeniert wirken hingegen die »Familienportraits« vor den Baracken, die Vieira wohl als Nachdenkpausen und als dramaturgische Elemente einsetzen möchte. Ein Film, der vor allem vom Perspektivenwechsel profitiert und den sich dringendst Frankreichs, aber auch Österreichs verantwortliche Politikerinnen und Politiker anschauen sollten.
Filmtipp #2: Tanz für dein Bleiberecht!
Abschiebefälle kommen oft erst in die Medien, wenn es soweit ist, dass Leute auf Wiedersehen sagen müssen oder Kundgebungen für sie veranstaltet werden. Fälle wie Melitus (seit mehren Jahren Straßenzeitungsverkäufer in Linz) oder Ganaa (seit sechs Jahren Teil einer Gastfamilie in Steyr) gingen unlängst durch die Medien. Ausbildung, die deutsche Sprache, Freunde, Talent – das alles haben auch die drei Geschwister im Dokumentarfilm »Neukölln Unlimited« von Agostino Imondi und Dietmar Ratsch. Hassan ist Tänzer und »Leithammel« der Familie, seine Schwester Lial tanzt und singt, der jüngere – Maradona – tanzt Breakdance und ist darin einer der Besten in Deutschland. Und das mit 15 Jahren. Leider ist er in der Schule alles andere als Spitze. Genau hier liegt die Stärke des Films. Er zeigt die Geschwister, die mit ihrer libanesischen Mutter alleine im Berliner Stadtteil Neukölln leben, mit ihren Macken, Stärken und Schwächen. Junge Leute eben, da kann nicht alles perfekt laufen, ist man geneigt zu schreiben. Nur, dass es da einen Haken gibt: Sie müssen alleine für den Unterhalt der fünfköpfigen Familie aufkommen. Der Vater hat sich abgesetzt, ihre Mutter muss zu Hause bleiben und auf den Kleinsten schauen. So tragen sie Monat für Monat ihr Geld zusammen, damit die Familie legal im Land bleiben darf. Libanesisch kann außer der Mutter keiner von ihnen. Der Film lebt vor allem von den spektakulären Breakdance-, Sing- und Tanzsequenzen, die den eher grauen Alltag der Jugendlichen kontrastieren. Das Schöne daran: die Geschwister werden nicht als Opfer dargestellt. Sie kämpfen mit ihrem Schicksal, schöne Momente wechseln mit Niederlagen. Eine mitreißende Geschichte über drei Geschwister, die den Libanon nur vom Hörensagen kennen und dennoch um Asyl im eigenen Land – Deutschland – kämpfen müssen.

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