»Die Jugendlichen wollen ein normales Leben führen«

Anna Masoner sprach in Paris mit dem Soziologen Marwan Mohammed über die Jugendrevolten in den französischen Vorstädten, deren mediale Bilder vor fünf Jahren um die Welt gingen.

Im Herbst 2005 kam es drei Wochen lang zu heftigen Unruhen in den Banlieus, besonders jenen in Paris. Es folgten Exzesse urbaner Gewalt, bei denen es zu Konfrontationen zwischen Gruppen von Jugendlichen und der Polizei kam. Verfolgungsjagden, Steinwürfe, brennende Autos und demolierte Gebäude prägten damals die medialen Bilder, die um die Welt gingen. Die jugendlichen Aufrührer verkündeten keinen Forderungskatalog, die Auftritte waren sporadisch und improvisiert. In der öffentlichen Diskussion ist die politische Dimension des Aufstandes deshalb vielfach geleugnet worden. Von einer »Vorherrschaft des Gesindels« sprach etwa der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy. In der sozialwissenschaftlichen Forschung werden diese Akte mehrheitlich als politischer Protest verstanden, hinter dem soziale Motive stehen.
Der Soziologe Marwan Mohammed vom Centre de Recherches Sociologiques sur le Droit et les Institutiones Pénales (Paris) hat nach den Aufständen mit den Bewohnern eines der betroffenen Stadtviertel in Villiers-sur-Marne Interviews geführt, um mehr über Hintergründe und Motive sowie ihre Sichtweise zu den Aufständen herauszufinden.

Sie haben 2010 gemeinsam mit Benoit Grimont den Dokumentarfilm »Die Rebellen aus der Vorstadt« herausgebracht, in dem Sie fünf Jahre nach den Ereignissen mit damaligen Protagonisten der Aufstände, aber auch mit deren Eltern und Nachbarn in den Vierteln gesprochen haben. Was wollten Sie mit dem Film bewirken?

Es sollten endlich einmal die Betroffenen selbst zu Wort kommen, nachdem bisher hauptsächlich Politiker, Journalisten oder Sozialwissenschaftler ihren Senf dazu abgegeben hatten. Um den Jugendlichen den politischen Inhalt ihrer Auflehnung gegen Diskriminierung und schlechte Lebensbedingungen abzusprechen, sprachen manche Politiker und Journalisten damals von mutwilliger Sachbeschädigung. Aber die Wahl der Worte, ob man von Vandalismus oder Sachbeschädigung spricht, ist auch ein politischer Akt. Und diese Wahl wurde ganz bewusst getroffen. Sie erlaubte es, eine Mobilisierung oder eine Bewegung zu disqualifizieren und gleichzeitig nahezulegen, dass die Lösung darin liege, mehr Polizei in die Stadtviertel zu schicken. Bei den Aufständen von 2005 hat die Regierung, allen voran der damalige Innenminister und heutige Staatspräsident, von der Vormacht der Banden gesprochen. Er sprach von Sachbeschädigung, von Vandalismus, von Gesindel, von einer Meute, vom Abschaum der Gesellschaft. Als wir in Interviews die Bewohner der betroffenen Viertel befragten, sprachen die von Mobilisation, von Überdruss, von kollektivem Zorn, und davon, dass sie etwas zu sagen hätten. Man hat so getan, als ob man sie nicht hören würde. Die Antwort der Regierung war Verstärkung der Polizeitruppen und Verhängung einer Ausgangssperre.

Warum gingen die Jugendliche vor fünf Jahren auf die Straße?

In den Banlieus gibt es sehr viele Probleme. Die Arbeitslosenquote etwa ist doppelt so hoch wie im Rest Frankreichs. In vielen Siedlungen oder Wohnhäusern liegt die Arbeitslosigkeit sogar bei über 50 Prozent. Die Beschäftigungsverhältnisse, die es gibt, sind sehr prekär. Sehr viele haben keinen Schulabschluss. Die meisten Jugendlichen stammen aus Einwandererfamilien. Die Eltern sind meist aus Afrika oder dem Maghreb eingewandert. Die Kinder haben zwar die französische Staatsbürgerschaft, wenn sie in Frankreich geboren wurden, trotzdem fühlen sie sich aufgrund ihrer Herkunft oft stigmatisiert oder diskriminiert. Aus ethnischen Gründen und weil sie in bestimmten Stadtvierteln leben. Arbeitslosigkeit, Armut, Unsicherheit, schlechte Wohnverhältnisse, fehlende berufliche Perspektiven, das sind die Probleme. Die Jugendlichen sind, was ihre soziale Lage anbelangt, verzweifelt. Die Aufstände sind eine Form der Revolte, der tiefsten Unzufriedenheit gegenüber einer Situation, die sie als ungerecht erleben.

Warum sind die Krawalle eigentlich 2005 so massiv und flächendeckend ausgebrochen? Es gab ja schon vor 2005, eigentlich seit den 1980er Jahren, regelmäßig lokale Aufstände.

Vordergründig sind die Unruhen im Herbst 2005 durch den Tod zweier Jugendlicher, von Zied und Bouna ausgelöst worden. Die Jugendlichen wurden bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei getötet. Aber es sind bereits in den Jahren davor Jugendliche bei Zwischenfällen mit der Polizei ums Leben gekommen. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy leugnete anfangs, dass die zwei Jugendlichen von der Polizei verfolgt worden waren, er bezeichnete sie als Diebe. Kein Wort des Beileids an die Familien. Das löste in den Siedlungen, wo die beiden gewohnt hatten, Proteste aus. Ausgeweitet haben sich die Proteste, als die angerückte Polizei eine Tränengasgranate in eine Moschee schleuderte. Das war während des Ramadans. Es gab danach ein Video im Netz, dass zeigte wie Frauen, Männer und Kinder aus der Moschee liefen. In einem sehr islamophoben Klima war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Proteste haben sich wie ein Lauffeuer in verschiedenen Gemeinden der Banlieus ausgeweitet. Je mehr in den Zeitungen darüber geschrieben und berichtet wurde, desto mehr Leute identifizierten sich mit Zied und Bouna.

Damals brannten ja häufig Autos und Schulen. Gibt es einen Grund warum gerade diese Objekte zur Zielscheibe wurden?

Man könnte sagen, dass die Autos für die Konsumgesellschaft stehen, an der die Jugendlichen nicht teilnehmen können. Die Schulen stehen symbolisch für die Republik, die eigentlich allen Staatsbürgern gleichermaßen Bildung vermitteln sollte. Die Schule haben die Jugendlichen oft als Ort des Versagens erlebt, wo sie schlechte Erfahrungen gemacht haben, wo bestimmte Versprechen nicht eingehalten wurden. Frankreich schuldet ja sozusagen allen seinen Kindern die gleiche Bildung. Das ist, das muss man eingestehen, oft nicht der Fall. Nicht viele Einwandererfamilien bringen die nötigen Voraussetzungen für den Schulerfolg mit, es fehlt oft die Nähe von schulischer und familiärer Kultur und die nötige Vertrautheit mit dem Bildungssystem. Es gibt zwar im Bildungssystem keine ethnische Diskriminierung, aber der Staat unternimmt nichts, um den Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine bessere Schulkarriere und damit Aufstiegswege in der Gesellschaft zu ermöglichen. Ich rechtfertige natürlich nicht, dass Schulen in Brand gesetzt wurden und werden. Ich sage das, um die Logik hinter den Taten zu beleuchten. Ein großer Teil der französischen Gesellschaft, hauptsächlich Kinder und Jugendliche, befinden sich in einer sozialen Sackgasse.

Wie könnte man die Situation verändern?

Wenn die Regierung etwas daran setzen würde, das Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung zu verbessern, wäre schon viel gewonnen. Ich denke da an Großbritannien. Dort konnten die Spannungen zwischen Ordnungskräften und Bevölkerung stark verringert werden. So wurde ein paritätisch besetztes, unabhängiges Gremium eingesetzt, an das sich die Bürger wenden können, wenn sie der Ansicht sind, Opfer polizeilicher Übergriffe zu sein. Dort ist die Idee von der Polizei im Dienst des Bürgers sehr stark verankert.
Dann bleibt aber noch die soziale Lage der Jugendlichen. Bis zur Mitte der 1970er Jahre hat die gute wirtschaftliche Lage die Arbeit der Jugendarbeiter vereinfacht. Machte ein Jugendlicher damals Schwierigkeiten, konnte ihm ein Sozialarbeiter einen stabilen Vollzeitjob anbieten. Dadurch konnte er sich eine Wohnung leisten, mit einem Partner zusammenziehen, Kinder haben. Das ist es, was die Jugendlichen wollen: Ein normales Leben führen, autonom sein. Wenn ein Sozialarbeiter heute einen Jugendlichen ohne Schulabschluss vor sich hat: Was kann er ihm anbieten? Vielleicht ein Praktikum, das in eine unterbezahlte Ausbildung mündet.
Wenn es statt der 630.000 Arbeitslosen unter 25 nur 100.000 gäbe, wäre ein Großteil der Probleme gelöst. Doch das entspricht ganz und gar nicht den Prioritäten der jetzigen Regierung.

Wie schätzen sie die Stimmung in den Banlieus heute ein?

Der Aufstand ist punktuell, aber der Frust ist permanent. Das, was 2005 passiert ist, wäre trotz der Heftigkeit der Auseinandersetzungen eine Gelegenheit für die Regierung gewesen, sich endlich mit den sozialen und urbanen Problemen, mit den Konflikten zwischen der Polizei und den Bewohnern, mit der Alltagsdiskriminierung auseinanderzusetzen. Zu signalisieren: das was ihr zu sagen habt, euren Zorn, den nehmen wir ernst. Auch wenn ihr die falschen Methoden verwendet, um euch Gehör zu verschaffen. Aber das ist nicht passiert. Die Antwort war: auf mutwillige Sachbeschädigung und Bandenbildung reagieren wir mit strafrechtlicher Verfolgung, harter Bestrafung und Verstärkung der Ordnungskräfte vor Ort. Anstatt die Situation zu beruhigen und zu beschwichtigen haben wir heute Helikopter und Drohnen über den Banlieus. Die Abwesenheit von Verständnis, von simplem Pragmatismus ist offensichtlich.

Anna Masoner hat in Wien, Linz, Paris und Melbourne Geschichte und Medientheorie studiert. Von 2007 bis 2009 war sie im Team der Stadtwerkstatt. Derzeit ist sie freie Mitarbeiterin bei Radio Österreich 1.

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