Neurath’s offenes Museum: Ziviles Engagement auf Augenhöhe

Wer leiht mir Bücher? Die Wiener Arbeiterbüchereien‘, Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, Wien, ca. 1929.
‚Wer leiht mir Bücher? Die Wiener Arbeiterbüchereien‘, Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, Wien, ca. 1929. (C) Otto und Marie Neurath-Collection - Foto: H. Kraeutler, 1991.

Otto Neurath (geb. Wien 1882– gest. Oxford 1945), der Philosoph, Sozial- und Wirtschaftswissenschafter, gründete und leitete das in der Tat Aufsehen erregende Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien (1925–1934). Der “Universalgelehrte“ Neurath ist vielen als Organisator/Motor des neopositivistischen Wiener Kreises ein Begriff. Unermüdlich propagierte er eine “wissenschaftliche Weltauffassung“ und wissenschaftliche Haltung – dies in vielfältigen Arbeitszusammenhängen und unterschiedlichen Foren.

Neurath behandelte und verwendete Museen und Ausstellungen als außergewöhnliche gesellschaftliche Werkzeuge, besonders geeignet, den Diskurs und Austausch über brisante Themen ‘auf Augenhöhe‘ zu ermöglichen – auch und vor allem zwischen den Laien (Neurath: Ungebildeten, Analphabeten, Kindern) und den Experten (die andernorts mit Fachwissen und einem zu hintergehenden Fachjargon gerüstet auftraten).

Die Frage stellt sich aber: Welche der vielfältigen Leistungen Neuraths werden in unserer Zeit rezipiert, während andere – eigentlich brisant und breitenwirksam interessant – bisher unbearbeitet blieben? Im kommunikations-wissenschaftlichen Diskurs werden Neuraths Arbeiten mit der Bildstatistik meist beschränkt auf “Visualisation of (technical) information“ diskutiert, ohne die weiteren Zusammenhänge, nämlich die Praxis der Museums- und Ausstellungsarbeit, die ja als treibender Motor fungierte, gesamthaft zu reflektieren.1 Auch im Museums-nahen Betrieb ist die Neurath-Rezeption oft stark zusammen-gestutzt: meist beschränkt sich dies auf ein paar bildstatistische Elemente, also (relativ leicht zu reproduzierende) Versatzstücke, die – quasi als Verweis/Ausweisung für die Karriere-entscheidende ‘peer-review‘ – ohne strukturellen Zusammenhang eingebaut werden.

Hier ist nun Gelegenheit, Neuraths Museumsarbeit und die topaktuellen Ideen dahinter zu diskutieren. Ausschlag gebend waren die neuen Ansätze: der Prozess der Transformation, die Orchestrierung, das Collage-Prinzip, und damit einhergehend, eine betont egalitäre und demokratie-politisch ausgerichtete, funktionale Beziehung zu den “Usern“. Neuraths Konzepte erhalten Aktualität durch heutige Technologien und die revolutionierten Kommunikationskulturen.

Neurath wird in den gegenwärtigen Diskussionen im Kontext unterschiedlicher Disziplinen behandelt (https://en.wikipedia.org/wiki/Otto_Neurath). Mein Zugang (museologisch theoretisch und praktisch begründet) untersucht Neuraths Museums- und Ausstellungsarbeit in Bezug auf deren Anliegen, Wirksamkeit und Aktualität und unter Hinweis darauf – wie auch er durchwegs betonte – dass dies die Arbeit eines Teams war, das im Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum koordiniert und verantwortlich agierte. Diesbezüglich belegen/bestätigen heutige fach-wissenschaftliche Untersuchungen: Museen und Ausstellungen sind ideale Medien für partizipative und befähigende Kommunikation.2

Demokratisch-kommunikative Arbeit mit (u.a.) Museum/Ausstellung bedeutet im Sinne Neuraths: relevante Inhalte interessant und nachvollziehbar zu präsentieren und damit die User – informiert, befähigt und mitverantwortlich – zu involvieren für ein gesamtgesellschaftliches Mehr an Demokratie und selbstgewählter / selbstbestimmter Lebensqualität.

Aus der aktuellen Wiener Museumspraxis, die (lt. Homepage) Ähnliches erreichen will, wäre zum Beispiel die MAK-Ausstellung ‘2051: Smart Life in the City’ zu nennen. “[Sie] … untersucht die Rolle von Design als Werkzeug für einen weltverträglichen und solidarischen Lebensstil.“ Bei einer Info-Veranstaltung (2015-09-01) wurde gefragt: “Was waren die strukturellen und organisatorischen Herausforderungen bei der Realisierung des Konzepts? Warum bleibt die museale Praxis träge? Wie kann Design als Strategie vermittelt werden?“3

Hier kann Neuraths Arbeit konkrete Antworten geben. Im Folgenden werden zentrale Strategien/Ideen dieser Arbeit anhand von 4 Beispielen beleuchtet, dann das GWM- Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum kurz vorgestellt (Einblick in die Museums- und Ausstellungsarbeiten, in Wiener- /Isotype-Methode, Visual Education) und dies abschließend in einen Zusammenhang mit heutiger progressiver Museologie, zum Thema ‘Museum mit Club-Atmosphäre‘ gebracht.
Vorweg drei kurze Passagen (Stimmen) zu ‘Museum der Zukunft‘ und zum Glücksmaximum, die den komplexen Gesellschafts-Teppich und seine verwobenen Muster an- und aufzeigen helfen:

Stimme 1 – 1933:

Otto Neurath im Artikel ‘Museums of the Future’: “Supposing somebody … said, ‘Build the museum of the future just as you want it.’ (…) ‘Agreed,’ I would say, ‘but that is not the way to put it. There is no such thing as the museum of the future. I can only talk about the museumS (sic) of the future.’ And I would go on: ‘Museums of the future, anyhow, ought not to be as I would like to have them, but as the visitors and users would want them if they knew what makes a museum.’ (…) Museums, exhibitions and periodicals might be regarded as three different means of education with the identical purpose of making (…) less afraid of the world. (…) The museums of the future will have to be organized by agents of the museum users and not and not by specialists who want to exhibit what they consider important.” 4

Stimme 2 – 2011:

Chris Dercon, Direktor, Haus der Kunst, München, “Das Museum der Zukunft ist eine riesige Plattform, eine Agora, auf der das Publikum die unterschiedlichsten Fragen stellt. Oft … Fragen, die nichts mit Kultur oder Kunst zu tun haben, sondern mit Politik, mit Nachhaltigkeit etwa. (…) Neue Kommunikationsmuster und -strategien, aber auch Informations- und Publikationswege zeichnen sich ab, die unsere Gesellschaft nachhaltig verändern (…)“. 5

Stimme 3 – … nochmals Otto Neurath (Manuskript 1945):

“Mostly, museums and exhibitions are fatiguing, and only a few have facilities for recreation and relaxation in adjacent rooms. Rarely does one feel comfortable in exhibition rooms, as in a club.“ 6

Museums-/Ausstellungsarbeit – Interaktion unterschiedlicher Communities auf Augenhöhe

Neurath und sein Team organisierten ihre Museums-/Ausstellungsarbeit als vordergründig beteiligende Diskussion und Interaktion unterschiedlicher Communities auf Augenhöhe (Wissenschaft, Laien, etc.). Die Aufmerksamkeit galt der primär visuell-bestimmten Formulierung offener Settings. So wurden, in systematisch reflektierter Praxis, engagierende, multidimensional strukturierte Lern-, Begegnungs- und Aktionsstrategien entwickelt, um – im weiteren Sinn – bezogen auf ein gesellschaftliches Ganzes, eine Utopie, ein ‘pleasure maximum’ in den Bereich des Möglichen zu stellen.

Welche topaktuellen Ideen stehen nun hinter Neuraths Museumsarbeit? Ausschlag gebend waren seine neuen Ansätze: der Prozess der Transformation, die Orchestrierung, das Collage-Prinzip und damit eine betont egalitäre und demokratie-politisch ausgerichtete, funktionale Beziehung zu den ‘Usern‘. Diese Konzepte erhalten Aktualität durch heutige Technologien und die revolutionierten Kommunikationskulturen.

Neuraths neue Ansätze – 4 Beispiele

1.Beispiel: wir kennen interaktive Tische/Oberflächen, wie sie oft in Ausstellungen verwendet werden. Dies wurde von der Magnetreliefkarte von Österreich (damals ein “junger“ und umstrittener Begriff, den es zu erkunden galt) im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum (ab 1925 in der Volkshalle des Wiener Rathauses) vorweggenommen.
Das höchst attraktive Modell konnte aktiv (durch die Hände und vor den Augen der Anwesenden), d.h. durch Dazugeben oder Wegnehmen von Magnet-Symbolen, in ihrer Aussage und Interpretierbarkeit verändert werden. Es lockte die (damals medial absolut nicht verwöhnten) Menschen an und sorgte für Partizipation und Diskussion.
2.Beispiel: Ausstellungen wurden ‘mehrfach‘ erzeugt (konträr zu jeglicher Vorstellung von elitärem oder monetärem Wert ‘Original‘), zum Beispiel im Zusammenhang mit der Tuberkulose-Bekämpfung in 5.000 Exemplaren (US-National Tuberculosis Association, 1935-1938) oder mit 3 Exemplaren der Kunst-soziologischen Ausstellung “Rondom Rembrandt“, die gleichzeitig in drei Flagship Stores des niederländischen Warenhauses De Bijenkorf gezeigt wurden (1936 in Amsterdam, Rotterdam, Den Haag).
3.Beispiel: Usern und zukünftigen Usern (Ungelernten ArbeiterInnen, Schulkindern, Lehrlingen …) wurde zu aktiver Ausstellungskompetenz verholfen.
Sie lernten diese “Sprache“ verstehen und verwenden.
4. Beispiel: Evaluierung – im heutigen Museumsgeschehen oft ein Desiderat – wurde quantitativ und qualitativ ausgerichtet durchgeführt, und die Ergebnisse re-integriert.

Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum im “Roten Wien“

Das sozialdemokratisch organisierte “Rote Wien“ bot für Neuraths Wirken exzellente Rahmenbedingungen, vor allem auch für die Aufsehen erregend-erfolgreiche Arbeit im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, die Neurath und sein Team in den Jahren von 1925 bis 1934 leisteten.

Keine Unbekannten arbeiteten mit, so war z.B. Josef Frank (http://www.architektenlexikon.at/de/146.htm) der kongeniale Museumsarchitekt und Gerd Arntz (http://www.gerdarntz.org) war ab 1929 als Chefgrafiker engagiert. Ein hochmotiviertes, ‘handverlesenes’ und interdisziplinäres Expertenteam und zahlreiche, oft auch nur kurzzeitig engagierte MitarbeiterInnen (u.a. Margarete Schütte-Lihotzky, Marie Jahoda) waren mit den vielfältigen Aufgaben betraut.
Kooperationen mit herausragenden Wissenschaftern und Künstlern und der gezielte Einsatz neuester Technologien gewährleisteten die Aktualität des GWM.

Die Arbeitsthemen im GWM betrafen: Gesundheit, Wohnen, Bildungschancen, Ökonomie, Handel, globale Zusammenhänge, und, wie kurz angedeutet, auch Kunst aus soziologischer Perspektive.

Im direkten Zusammenhang mit dieser Museums- und Ausstellungsarbeit entstand die “Wiener Methode der Bildstatistik“ (in der Emigration, ab 1934: Isotype – International System of Typographic Picture Education), deren Piktogramme gemeinsam mit Arntz entwickelt, heute unverzichtbar und im öffentlichen Raum ubiquitär präsent sind. So wurden z.B. die Zahlen der Arbeitslosen … oder der Warenproduktion in verschiedenen Ländern auf eine Art und Weise dargestellt, die es den Ausstellungs-NutzerInnen leicht machte, diese zu vergleichen und mit anderen “Tatbeständen“ zu korrelieren.

Das GWM im Rathaus wurde so charakterisiert: “Eine kommunale Einrichtung, mit Abendöffnungszeiten, gratis und frei zugänglich für alle;
Menschen versammeln sich dort in kleinen Gruppen um die Bildtafeln und diskutieren die vorgestellten Themen. Die Leute erfahren über das Leben in ihrer Stadt, über ihre Position in der Welt; sie lernen denken und argumentieren, miteinander auszukommen. Dies war Neuraths Ideal. Es war ein demokratisches und sozialistisches Ideal.“ (Robin Kinross, 1994, 76) Diese Kurzdarstellung trifft die Kernidee des GWM perfekt, sagt aber nichts über die größeren Zusammenhänge, den tatsächlichen Umfang der Aktivitäten oder die Arbeitsformen und die erreichten Qualitäten aus. Halten wir uns vor Augen: neben der permanenten Hauptausstellung im Wiener Rathaus, wurden im Schnitt sieben Ausstellungen pro Jahr organisiert; daneben gab es drei Zweigstellen in Wien: in einer davon, der ‘Zeitschau’, informierten sich bis zu 2.000 Personen pro Tag über Wirtschafts- und Sozialdaten; dies war, ab 1933 in der Tuchlauben im ersten Wiener Bezirk, also mitten im Zentrum der Großstadt.

Im Kontext der Wiener Schulreform – oberflächliches Stichwort Otto Glöckel – wurden im GWM nicht nur neueste pädagogisch-didaktische Erkenntnisse integriert sondern auch die breite Anwendung der Wiener Methode geübt – Ausstellungspraxis mit Kindern, Jugendlichen, Unterrichtenden, oder in der Lehrlingsausbildung.

Das GWM, Neurath und Team, arbeitete für den Teil der Bevölkerung, der durch das Verwerfen von überlebten Traditionen nichts zu verlieren hatte, der weder über tatsächliches noch über ‘kulturelles Kapital’ (Pierre Bourdieu, Elmar Altvater) verfügte. Es mussten daher ‘Sprachen’, Darstellungsweisen, und Methoden gefunden werden, die den ‘(akademisch) Ungebildeten’ interessierten, und die es erlaubten, rasch betreffende Information zu relevanten Themen zur Verfügung zu stellen.

Diese an verschiedene Öffentlichkeiten gerichtete Informations- und Aufklärungsarbeit mit Hilfe von Visualisierungen – hier (siehe Abbildung Rembrandt/Rubens) ein gut ‘lesbarer‘/merkbarer Überblick über komplexe Prozesse – war ein politisches Projekt zur Demokratieerziehung, das nicht allein auf die von Neurath so genannten ‘Ungebildeten’ abzielte, sondern auch auf die besser gestellten, die ‘Gebildeten’ bzw. ‘Experten’ (gegen deren befremdenden Jargon). Dies war in Museen, Ausstellungen, Publikationen und Vorträgen. Erklärtes Ziel von Neuraths demokratie-politischen Bildungsbemühungen war, die breite Masse durch Zugang zu relevanter Information in gesellschaftliche Kommunikation und Entscheidungen einzubinden. Als wirksamstes Mittel dafür sah er das Schaffen von ‘offenen’ Gelegenheiten für Austausch, wie Ausstellung und Museum, und den Einsatz der visuellen Sprache.

Das GWM arbeitete mit einem Netz an Multiplikatoren: In Arbeiterbildungsvereinen und Gewerkschaftsgruppen, in der Schulstruktur. Es propagierte seine Methoden - bei Konferenzen, bei Besuchen von Fachleuten und/oder Politikern (aus anderen Städten/Gemeinden/Staaten) und beriet über die Möglichkeiten der Kooperation. Dies weckte auch andernorts Interesse, u.a. beim Völkerbund in Genf, in Mexiko, Norwegen, Russland, USA. So entstanden schon nach den ersten Aufbaujahren viele Arbeitsaufträge im In- und Ausland, vielfältige Kooperationen und Netzwerke, Zweigstellen oder Vertretungen (in Berlin, Den Haag, London, Moskau, New York, Zagreb).

Die oben erwähnte, mit 8 x 4 Metern groß-dimensionierte, inter-aktive Magnet-Reliefkarte von Österreich, die im Eingangsbereich des GWM, die Menschen direkt vom Rathausplatz ins Museum “lockte“, z. B. sorgte für Aufsehen in der internationalen Fachwelt. Das Chicagoer Museum of Science & Industry ließ bei Neurath anfragen, was dieses Magnetmodell koste und ob es zu beziehen wäre.

Eine Neujahrsgrußkarte (Abb.) von 1939/ 1940 zeigt die Isotype-Export-Routen, und vergegenwärtigt – sozusagen visionär – Neuraths tatsächliche Fluchtsituation nach England – auf einem überfüllten offenen Boot, nur wenige Monate später (Mai 1940).

Neuraths ‘utopisches’ Projekt der Zwischenkriegszeit – beendet in Wien 1934 durch den Austrofaschismus, später vertrieben aus Holland durch NS-Terror – integrierte u.a. folgende konkrete und ideelle Ziele - im Sinne eines PLEASURE MAXIMUM: die Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerungsmehrheit (Gesundheit, Wohnen, Bildungschancen), politische Bildung (Arbeitsrecht, demokratische Strukturen), Meinungsaustausch/ Meinungsbildung auf Augenhöhe (Austausch der Positionen ‘user’ und ‘producer’).

Neurath unterstrich, dass visuelle Lehrmethoden und visuelles Lernen (“visual education“) eine zentrale Rolle in dieser Bildungsarbeit spielen sollten. Nicht nur die prinzipielle Egalität der direkten Sinneswahrnehmung (zu beachten der Zusammenhang zu philosophischen Debatten im Wiener Kreis und Neuraths ‘Protokollsätze‘) fiel dabei ins Gewicht, sondern auch die Vorteile der Bildpädagogik bei der Überwindung nationaler, sozialer und kultureller Grenzen.
Drei spezifische Isotype-Ansätze: Transformation, Orchestrierung, Collage.

Der oder die Transformator/in, eine Schlüssel-Position im Team (Marie Neurath arbeitete hauptsächlich in dieser Position), war für die Auswahl der zu übermittelnden Information und die Formulierung der Angebote an die User verantwortlich. In der Transformation entstand das Gesamterscheinungsbild (Visualisierung der Experten-Daten und ihrer Zusammenhänge mit bildstatistischen Tafeln, Anordnung, Proportionen; Informationsstruktur und Dramaturgie; Lichtführung, etc.) und wurde entschieden, was dem Publikum wie zugemutet wurde, also wie die gewählten Inhalte an vorhandene Erfahrungen (der potentiellen User) anknüpfen, und diese erweitern und aktivieren sollten.

Ein Beispiel für Orchestrierung : Durch orchestriertes – abgestimmtes, akkordiertes – Zusammenwirken unterschiedlicher Medien (Buch, Film, Radio, Ausstellung) und/oder zusammenschauendes Betrachten diverser Komponenten (Bild/er und Text/e) z.B. einer Schautafel, nicht allein durch eine Informationsquelle oder durch Lesen nur einer Abhandlung, entsteht die implizite, von den unterschiedlichen ‘Usern’ selbst und das heißt in ihrer eigenen Sprache zu produzierende Botschaft. Hier ist eine Ausstellungstafel, die 9 eigentlich unauffällige Porträtfotos zeigt. Die knappe Überschrift fordert auf, herauszufinden, wer von der TBC betroffen ist, und führt drastisch die unberechenbare weil unsichtbare Gefahr auf (siehe Abb.).

Neurath unterstrich, dass Darstellungen, die auf diese Weise aktives Kontemplieren/Abwägen und Formulieren der Aussagen verlangen und die Nutzer direkt und emotional betreffen, besonders geeignet sind, persönlich zu involvieren und nachhaltig zu motivieren.

Die Portraits-Tafel war Teil von ‘Modern Man Fights Tuberculosis’ – ein Ausstellungs-Auftrag der US-National Tuberculosis Association, die – so Marie Neurath – ‘auch die Eskimos’ erreichte, und in 5.000 Exemplaren hergestellt wurde. Die Begleitpublikation verkaufte sich 200.000 Mal. Es gab spezielle Information für die Organisation und die Multiplikatoren vor Ort, wie sie die Ausstellung - Layout und Botschaft für die lokale Bevölkerung aktualisieren sollte. 7

Zum Collage-Prinzip

Im GWM wurden betreffende Themen nicht als ‘fertig’ vorgestellt, sondern als ‘eröffnender’ Beitrag und nachvollziehbares Informationsangebot, das aus divergierenden Perspektiven und in partnerschaftlicher Diskussion weiter beleuchtet werden sollte. Es war daher Platz für unterschiedliche Auffassungen und Lebensvorstellungen und für die Qualität ‘kontroversiell’ – dem einem demokratischen Verständnis notwendig innewohnenden Aspekt – nämlich Unfertigkeit, der Verhandelbarkeit und Veränderbarkeit der Verhältnisse.

Wirkung und Methode unterschiedlicher Informationsmedien im Zusammenspiel / in der Orchestrierung abwägend, hob Neurath Museum und Ausstellung hervor
als Orte, an denen die Auseinandersetzung mit neuer Information in Gruppen, im Austausch und in gemeinsamen Lernprozessen -
Stichwort: Community of Learners - stattfindet.

1933 formulierte Neurath das übergeordnete Anliegen so: “Museen, Ausstellungen und Zeitschriften (dies kann heute erweitert werden: Radio, Film, TV und Internet) können als ... verschiedene Unterrichtsmittel angesehen werden, die denselben Zweck haben: die Angst vor der Welt zu verringern. Jemand der sich vorher von der Verzwicktheit der Tatbestände bedrückt fühlte, sollte nach einem Museumsbesuch das Gefühl haben, dass man schließlich doch ‘durchblicken kann’“ (Haller/Kinross 1991, 256).

Interdisziplinarität, Team-Arbeit und Transformation bildeten so die kritischen Schnittstellen für Inhalt, Formulierung und Evaluierung der gesamten Arbeit des GWM. Aus diesen spezifischen Ansätzen wurde abgeleitet: Ausstellungsarbeit ist als optimierbare und (bis zu einem gewissen Grad) erlernbare Technik zu sehen. Es wurden also Arbeitserfahrungen aus der Isotype-Arbeit, Dokumentation und Evaluation gesammelt (Archiv für bildhafte Pädagogik; siehe Abb.), um der Planung und Verbesserung von künftiger Arbeit zu dienen.

Visuelle Kommunikation /visuelles Lernen – Wiener Methode/Isotype

Neurath war klar, dass Bilder – überall sehr beliebt – die schnelle, scheinbar anstrengungslose Übermittlung von Information erlauben.
(in Film, Reklame, Zeitschriften, Tagespresse). Unter Hinweis auf das ‘Jahrhundert des Auges’ und darauf, dass sich die Kommunikationsmittel und die durch sie geprägte Wahrnehmung wandeln, vertrat er die Überzeugung, eine breit angelegte Bildungsarbeit geschehe am besten mit visuellen Mitteln. Seine bekannten Slogans, ‘Worte trennen, Bilder verbinden’, oder, ‘Was man mit Bildern zeigen kann, sollte man nicht mit Worten sagen’ finden sich in vielen Artikeln zu diesem Thema. 8

Neurath sah visuelle Kommunikation als demokratische – egalitäre, nachvollziehbare, kontrollierbare und sogar international funktionierende – Möglichkeit, als ein mächtiges Mittel für die erforderliche Verständigung über gesellschaftliche Verhältnisse. Er argumentierte: “der moderne Mensch ist gewohnt, in der Freizeit, schnell und vergnüglich informiert zu werden, wie Kaufhaus und Künstler wissen“ (Haller/Kinross 1991, 337).

Im Lauf der 10 Arbeitsjahre in Wien wurde ein komplexes, den gesamten Gestaltungsprozess betreffendes Regelwerk entwickelt, also ‘Best Practice’-Standards für sorgfältig visuell aufbereitete und organisierte Ausstellungen (Regeln für Struktur, Aufbau, Kapitelgliederung; für gleich bleibende, wiederholbare Symbole, deren Größen, Kombination und Anordnung, Farbkodierung, ...). Ausstellungen wurden im Modulsystem produziert, austauschbar, veränderbar, verschieden kombinierbar. Zur leichteren Handhabung durch die jeweiligen Organisatoren vor Ort wurden Manuals erarbeitet.
(siehe Abb. Begleitheft zu einer Ausstellung mit 20 Educational Charts.)

Bildstatistische Charts / Tafeln (und Gestaltungsmutationen) sollten thematisch und sprachlich an die Zielgruppen angepasst werden, und flexibel – auf die unterschiedlichen örtlichen etc. Vorgaben reagierend – arrangiert werden. Marie Neurath, Ottos 3. Frau, bezeichnete das GWM als ein ‘visual centre’, da es neben den Ausstellungen auch Bücher, Zeitschriften und Ausstellungs-Begleithefte publizierte, Symbole, Lichtbildserien, Tafeln als Unterrichtsmaterialien herstellte, viele Kurse und Vorträge angebot. Im ‘Archiv für bildhafte Pädagogik’ wurden die Fotodokumentation der Arbeiten des GWM, sowie ein Thesaurus der Bildsymbole angelegt.

Bildung und Museumsarbeit. Museum mit Club-Atmosphäre

Neurath hat seine Überlegungen zu Erziehung und Bildung, im speziellen zu den gesellschaftlichen Funktionen von Museum und Ausstellung sowie zu visueller Erziehung vielfach dargelegt, theoretisch begründet, mit Praxisbeispielen erläutert. In den 1940er Jahren (auch in Zusammenhang mit Überlegungen zur Re-Education nach dem Zweiten Weltkrieg) stellte Neurath fest, dass ‘education’ (Bildung, Lernen, Erziehung) – mit der Fähigkeit zu tun habe, Beobachtetes zu analysieren, etwas herauszufinden und unter allen relevanten Gesichtspunkten zu betrachten. Er betonte, dass dies der Entwicklung der eigenen Urteilsfähigkeit und einer ‘wissenschaftlichen Haltung’ diene und setzte dafür den Ausdruck ‘Meditation’ ein.

Eine solch offene, wissenschaftliche Haltung sollte gefördert werden, um von vornherein auszuschließen, dass Vorurteile oder gar ein Anspruch auf eine scheinbare ‘absolute Wahrheit’ die Oberhand gewinnen. Die Sprach-Bilder ‘Collage’ und ‘Orchestrierung’ deuten auf diese Offenheit, auf Interdisziplinarität und eine grundsätzliche Erweiterbarkeit.

Dieser Anspruch, der dem traditionellen top-down-Modell zuwider lief (zuwider läuft), entsprach der Auffassung von gesellschaftlich verantworteter Wissenschaft, wie sie im Wiener Kreis zu finden war. 9

Das GWM, als ‘trustworthy knowledge broker’ – eine Qualität, die heute den Museen generell zugesprochen wird – das GWM also, Teil der Kommunalpolitik im Roten Wien, war als Werkzeug für demokratischen und beteiligenden Austausch konzipiert, als Instrument für gesellschaftliche Veränderung. Dieses neue Modell ‘Museum’ sollte durchaus auch eine Demokratisierung des Museums erreichen und überlieferte institutionelle Arbeitsweisen zur Debatte stellen.

Auch beim letzten praktischen Arbeitsvorhaben Neuraths, das all die Erfahrungen des Wiener GWM (Stichwort: Rotes Wien, Sozialdemokratie, Wohnen, Gesundheit, Bildung) noch einmal aufleben ließ, dem sogenannten ‘Bilston Venture‘ (ein ‚housing and city-planning‘-Projekt, 1945) konnten die Isotype-Methoden für Empowerment und Bürgerbeteiligung im Sinne eines selbstbestimmten “besseren“ Lebens überzeugen. Der Bilstoner Kommunalpolitiker (the administrator), der diesbezüglich in Kontakt mit Neurath war, beschrieb seine Erfahrung wie folgt:

“Having met a man like Neurath (…) one is very chary of the pompous and phony in the field of planning. His capacity to adjust the desirable to the practical was an achievement which inspired and instructed the administrator who, under his influence, came to know and feel that plans were of no use unless people could participate in them and be happy with them (...)”. 10

In dieser (Prozess-fördernden, aber Ergebnis-orientierten) Isotype-Arbeit sowie in den Projekten des GWM wurden die Machtverhältnisse, die traditionell im Museum vorherrschen, zugunsten der immer wieder neu zu entwickelnden und zu reflektierenden Position aufgegeben (Ausstellung als Auslöser von Diskursen). Im traditionellen Museum sind diese Positionen entsprechend lang vorher durchgesetzter Interessen und Fach-disziplinären Strukturen bestimmt (Sammlung als Fundament; Ausstellung als ultimativer und autoritativer Standpunkt). Neurath lehnte eine prinzipielle Unterscheidung zwischen der Arbeit der Wissenschaft und derjenigen des gewöhnlichen Alltags ab: Er sah beide als abhängig von kritischem Denken und Wissen, wobei er unterstrich, dass der Begriff ‘Wissen’ wiederum oft verunklärend sei, da er ein positives Urteil vermittle, und dass etwas (schon) akzeptiert sei. Museen und Ausstellungen waren bestens geeignet, um im Zusammenspiel mit den anderen ‘gesellschaftlichen Werkzeugen’ entsprechende Traditionen zu entwickeln.

Zeitgemäße Museologie fordert vom ‘Museum’, eine bürgernahe und beteiligende Lernkultur zu leben, als offen zugängliche, sichere Orte für die verlässliche Behandlung aktueller Themen der Zivilgesellschaft. Entsprechende institutionelle Veränderungen werden von vielen renommierten MuseologInnen vorgeschlagen, hin zu einer demokratischen und beteiligenden Museumskultur. 11

Vor 90 Jahren hatten Neurath und Team wirksame gesellschaftliche Werkzeuge entwickelt, im Sinn einer reflexiven Aufklärung und Demokratisierung, der nachhaltigen Teilhabe über Klassen- und Sprachgrenzen und räumliche Distanz hinweg, für demokratisches Argumentieren, und den Austausch zwischen den ‘Ungebildeten’ und den Sach-Experten. Wir wissen um Neuraths Feststellung, dass sich Museen erst am Beginn einer bewusst zu gestaltenden, produktiven Beziehung zur Öffentlichkeit befinden, dass erst aufbauende, Gesellschafts-verändernde Arbeit und die Berücksichtigung der Nutzer-Interessen, die erwünschte Wirkung erhoffen lasse, und immer Kontextabhängigkeit und Unsicherheiten bestehen. Auch mit der zeitlichen Distanz und gerade wegen des drastisch veränderten Umfelds – medial, politisch, kulturell, ökologisch und technologisch, mit revolutionierenden Kommunikationstechnologien und Interfaces – stellt das Museums- und Ausstellungsprojekt Neuraths und seines Teams ein aussagekräftiges Beispiel wirksamer Museumsarbeit dar. Als reflektierte Praxis ist Isotype anregend und herausfordernd für die heutige Diskussion.

  • 1. Vgl. einschlägige Fachliteratur (u.a.): Hartmann/Bauer: 2006, Bildersprache: Otto Neurath Visualisierungen, WUV, Wien; Burke/Kindel/Walker: 2013, Isotype: design and contexts, 1925-1971, Hyphen Press, London; Kinross: 1994, Blind Eyes, Innuendo and the Politics of Design: A Reply to Clive Chizlett, in: Visible Language, 28, 1. S. 68-78; Marie Neurath/Robin Kinross: 2009, The Transformer: principles of making isotype charts, Hyphen Press, London.
  • 2. Ich verweise auf (z.B.) Forschungsprojekte diverser Museen in Großbritannien; auf die Arbeit der School of Museum Studies, Leicester (http://www2.le.ac.uk/departments/museumstudies), auf Arbeiten und Strukturen von ICOM, dem internationalen Museumsrat (http://icom.museum/ ), Themen und Diskussionen der Jahrestagung der American Alliance of Museums (http://aam-us.org/), oder den Österreichischen Museumstag 2015 (http://www.museumsbund.at/).
    Mit diesen Web-Adressen haben Sie auch einen Teil meiner professionellen Vernetzungen im Griff. Die hier verwendeten Abbildungen sind aus meiner Neurath-Publkation (Kraeutler: Otto Neurath. Museum and Exhibition Work: Spaces (Designed) for Communication, Peter Lang, 2008); Die Übersetzungen sind von mir, teils sind Original-Texte in Englisch; alle Web-Abrufe, 27. 08. 2015.
  • 3. ( http://www.mak.at/jart/prj3/mak/main.jart?content-id=1343388632770&rel=de&article_id=1439611879480&e...).
  • 4. (Survey Graphic, Vol.22/9, New York 1933, pp.458-463.)
  • 5. Chris Dercon, Direktor, Haus der Kunst, München, 2011 (http://www.ausstellungen-einstellungen.de/museum-der-zukunft-ist-eine-plattform/).
  • 6. Otto Neurath (Manuskript 1945): Museums Today and in the Future, in: Visual Education. Humanisation versus Popularisation, in Nemeth E. and Stadler F. (Hg., 1996), Encyclopedia and Utopia. The Life and Work of Otto Neurath (1882-1945) - Vienna Circle Institute Yearbook, Bd. 4, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, Boston, London. SS. 245-335, 314).
  • 7. Marie Neurath (1947), ‘An Isotype Exhibition on Housing’, in, The Journal of the Royal Institute of British Architects, 54, 13, Royal Institute of British Architects, London: 600-603).
  • 8. Vgl.: Haller/Kinross, (Hg., 1991): Otto Neurath, Band 3: Gesammelte bildpädagogische Schriften, Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, Wien: 190, 242, 342, 346).
  • 9. Stadler, F. (1997), Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Suhrkamp, Frankfurt/Main.
  • 10. Williams, A.V. in: Neurath, M./Cohen, R. (1974), Otto Neurath. Empiricism and Sociology, S.78.)
  • 11. Vgl. (u.a.) Anderson 2004, Dodd/Jones/Sawyer/Tseliou 2012, Falk/Sheppard 2006, Heuman-Gurian 2006, Hooper-Greenhill 2007, John/Dauschek 2008, MacLeod 2013, Marstine/Bauer/ Haines 2013, Roberts 1997, Sandell 2006, Sandell/Nightingale 2012).