Das Paradox des Privaten - eine Polemik
In die Diskussion um den Schutz der Privatsphäre bzw. deren zunehmenden Verlust haben sich einige fundamentale Denkfehler eingeschlichen, weshalb diese Anliegen, so sie als defensive Verteidigung eines Menschenrechts aufgefasst werden, zum Scheitern verurteilt sind. Das Begriffspaar öffentlich/privat muss, anstatt als gegeben angenommen neu aufgelöst werden, insbesondere da die Dynamik der gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen längst Tatsachen gesetzt haben, die über das von George Orwell in 1984 geschilderte Bedrohungsszenario nicht nur hinaus gehen sondern auch deutlich abweichen.
Das kapitalistische System ist nicht gegen die Privatsphäre, ganz im Gegenteil. Auf ideologischer Ebene wollen die herrschenden Mächte, dass wir privat sind. Wenn wir ganz privat unser subjektives Ich erleben, im Kreis der Familie, zu Hause, dann ist das genau der Ort, wo man uns haben will -- und nicht auf den Straßen und den Barrikaden, z.B.. Der Staat ist auch nicht besonders interessiert, in diese Privatsphäre einzugreifen und auch für die Wirtschaft geht es beim Data Mining vor allem um die Statistik und nicht uns als Individuen. Richard Sennett argumentierte schon 1974, dass das öffentliche Leben geradezu vom Privaten verseucht ist. Anstatt politischer Auseinandersetzungen und rationaler Argumente versorgen uns Politiker mit Schnappschüssen aus ihrem Privatleben. In Athen, wie Hannah Arendt hervorhub, verachteten freie Bürger die Domäne des Privaten und genossen das öffentliche Leben auf der Agora. Das deutsche Wort "Idioten" ist eine Ableitung des griechischen Wortes für Banausen, Leute die nie aus dem Haus gehen (frei nach Flusser).
Die Diskussion ist irgendwo erstarrt zwischen den Habermasianern und einer bürgerlich und eurozentrisch definierten Privatsphäre einerseits, und den Post-Focaultschen Warnern vor der Kontrollgesellschaft andererseits. In "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" veranschaulicht Marx, dass die soeben erworbenen bürgerlichen Rechte und Freiheiten der Bourgeoise von Anfang an gegen die Arbeiterklasse gerichtet wurden und alles dafür getan wurde, dass diese nicht in den Genuss der selben Rechte kamen wie sie. Deshalb ist die Idealisierung der Privatsphäre wie sie von Habermas vorgemacht und von anderen wie z.B. Beate Rössler in zeitgemäßerer Form weiter betrieben wird, ebenso übrigens wie die Idealisierung der athenischen Demokratie keine tragende Konzeption für eine positive Formulierung der Öffentlichkeit oder Privatheit, da beide auf dem Ausschluss der Mehrheit der Menschen beruhen (und diese Konzepte ihre negative Dialektik somit bereits in sich tragen). Die Privatsphäre als das Reich der schrankenlosen Herrschaft des männlichen Patriziers hat ausgedient. Zu verteidigen ist nicht die Privatsphäre, sondern die Freiheit. Letztere kann aber wohl nicht in einem privaten Rückzugsrecht bestehen. Was bei Habermas allerdings hervorsticht ist nicht so sehr die Ableitung der politischen Öffentlichkeit aus dem bürgerlichen literarischen Salon und Theater, als seine Analyse der Privatsphäre im sozialdemokratischen Verbändestaat. In dem Moment in dem der Staat beginnt, sich für das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger verantwortlich zu fühlen, vermischen sich die Domänen von öffentlich und privat. Von einer ganz anderen Seite kommend gelangt er zu einem ähnlichen Ergebnis wie der englische Philosoph Raymound Geuss, der meint, dass es keine klare Grenzziehung zwischen öffentlich und privat gäbe. Diese Begriffe seien nicht einfach Gegensätze zwischen denen sich ein klarer Trennstrich ziehen ließe.
Wie David Lyon und andere gezeigt haben, sind Zählen und Sortieren elementare Prozesse einer auf Quantifizierung aufgebauten Gesellschaft, die solcher Rückkopplungen bedarf, um überhaupt funktionieren zu können. Elektronik und digitale Technologien generieren diese Daten 'automatisch' und man könnte sie zwar löschen, tut es aber im allgemeinen nicht, da sie der Wirtschaft Effizienzsteigerungen und dem Einzelnen angeblich besseren Service verheißen. Auch dem heutigen Bürgertum ist die Privatsphäre der 'anderen' egal, weshalb die umfassendsten Datenbanken, biometrische Ausweise und dergleichen zuerst bei Migranten und Migrantinnen ausprobiert wurden. In England (und nicht nur hier, aber hier ist es wohl am fortgeschrittensten) sind alle, die nicht weiß, Mittelklasse und mittleren Alters sind, automatisch verdächtig, und es wurde eine vielschichtige Überwachungsarchitektur eingerichtet, um sie - Kinder, Jugendliche, ethnische Minderheiten, alleinerziehende Mütter, alte Menschen - in Schranken zu halten. Bezeichnend die Forderung, die DNA bei sechsjährigen Schulkindern abzunehmen, um so evtl. frühzeitig das 'kriminelle Gen' festzustellen. Schon jetzt muss jeder, der von der Polizei verhaftet oder auch nur kurzfristig festgehalten wird, eine DNA-Probe abgeben. Hier manifestiert sich auf dem neuesten Stand der Technik übelster Sozialdarwinismus, d.h. die Rückprojektion kulturell erworbener Eigenschaften wie 'kriminelles Verhalten' auf die Biologie. Wie Brian Holmes argumentiert, tendieren diese Architekturen zur prognostischen Bildung von Annahmen über Verhaltensweisen. Im Londoner Stadtteil Newham laufen Feldversuche mittels Überwachungskameras und spezieller Software verdächtiges Verhalten automatisch feststellen zu können. Auch wenn diese Versuche nie zu etwas führen, so dienen sie doch einem Zweck, der Einschüchterung der Menschen gegenüber technologischer Allmacht. So sind die 'Precogs' im Film Minority Report eine Metapher für die bereits im Aufbau befindlichen Strukturen einer viel umfassenderen Überwachung, einem vorausschauenden Ahnen und Steuern.
Nachdem der scharfe Sozialabbau und die unnötige Prekarisierung aller Lebensumstände im Namen einer Risikogesellschaft zunächst noch von einer milderen Rethorik des "dritten Wegs" begleitet war, zeigt diese nun ihr autoritäres Gesicht. Der chinesische Polizeiknüppel verteidigt ja in Wahrheit 'unsere' kapitalistische Überproduktion, weshalb 'wir' in Wahrheit gar kein Interesse an Menschenrechten in China haben oder diese sind ein leeres Gesäusel wenn 'wir' mit Produkten von KnastinsassInnen in autoritären Staaten Profit machen und uns die Füße am Erdgas aus Russland wärmen. Während die Europäer sich immer noch schulmeisterlich in der Rolle der Hüter von Recht und Demokratie verstehen und die Meinungsfreiheit zu verteidigen glauben, wenn xenophobe angeblich 'lustige' Zeichnungen veröffentlicht werden, so kauft uns das doch längst keiner mehr ab und sogar ein Ahmedinejad oder Putin kann sich als Anti-Imperialist darstellen. Was die Problemlage verschlimmert ist, dass sich der neue alte autoritäre Geist vortrefflich mit der Technik verträgt. Die bürokratische Technogesellschaft verleiht dem System so viel Macht, dass es tatsächlich so aussehen könnte, als gäbe es eine Eigendynamik des Fortschritts, was es den Menschen letztlich verunmöglichen würde, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. So sind die Organe und Tentakel des Überwachungsstaates letztlich eine Funktion der vielen Heteronomien, denen wir ausgesetzt sind und die es aufzulösen gilt. Anstatt den Geist der untergehenden Privatsphäre zu beschwören, sollten wir uns lieber der Frage stellen, wie es um die Qualität des öffentlichen Lebens steht und warum dieses so vor die Hunde gegangen ist.
Zitate
"On the one hand, a new breed of social organizations based on principles of weak cooperation and peer-production is sharply expanding the scope of what can be achieved by civil society. These are voluntary organizations, with flat hierarchies and trust-based principles. In general, they are transformative not revolutionary in character. This phenomenon is termed “bourgeois anarchism”. On the other hand, the liberal state – in a crisis of legitimacy and under pressure from such new organizations, both peaceful (civil society) and violent (terrorism) – is reorganizing itself around an increasingly authoritarian core, expanding surveillance into the capillary system of society, overriding civil liberties and reducing democratic oversight in exchange for the promise of security. This phenomenon is termed “authoritarian democracies”."
Felix Stalder, Bourgeois Anarchism and Authoritarian Democracies.
http://www.thenextlayer.org/files/Bourgeois-AnarchismV2.pdf
"they [4 specific types of surveillance technologies] are only a tiny part of a vastly wider range of surveillance techniques, all integrated to larger control systems which tend increasingly to rely on predictive algorithms. When surveillance develops to this degree you can say goodbye not only to privacy, but to the entire public/private divide on which individual choice in a democracy was founded. Today, what Habermas called the “structural transformation of the public sphere” has crossed another threshold."
Brian Holmes, Future Map
http://brianholmes.wordpress.com/2007/09/09/future-map/
"The aim of the liberal art of government is never to punish, transform or even save individuals, as in a disciplinary architecture, but instead to arrive at the optimal distribution of certain phenomena in society, “to reduce the most unfavorable, deviant normalities in relation to the normal, general curve.”"
Brian Holmes quoting Focault (from above text).
Reading Notes
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1972
Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962; 1990; Suhrkamp
Richard Sennett, The Fall of the Public Man; 1974; W.W. Norton
David Lyon: “Security, Seduction and Social Sorting: Urban Surveillance” in In the Shade of the Commons.
Beate Rössler, Der Wert des Privaten. 2001, Suhrkamp
Raymond Geuss, Public Goods, Private Goods, 2001, Princeton University Press
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1852
http://www.mlwerke.de/me/me08/me08_111.htm