Die Ehrenrettung einer Generation

Anna M. Liebmann über die StudentInnenproteste

Am 17. November wird der International Students Day begangen, in Erinnerang an die Ermordung von neun tschechischen Studenten durch die SS 1939 als Antwort auf Studentenproteste in Prag, die sich gegen die deutsche Besatzung richteten. Weiters wurden tschechische Universitä-ten geschlossen und anschließend beschlagnahmt, Studentenheime gestürmt, und über tausend Studenten ins KZ Sachsenhausen verschleppt.
Wahrscheinlich wäre dieses Datum in Österreich unbeachtet geblieben, so wie es anderen »Spezialtagen« geht, solange sich niemand um sie kümmert. Es ist ja selten ein Datum-an-sich, das auf Interesse stößt, sondern das Interesse ist vielmehr Ausdruck der Stärke einer Bewegung oder Lobby, die ein Datum zum Anlass nimmt.
Und nach vier Wochen Besetzung des Auditorium Maximum an der Universität Wien verliert sich zwar das mediale Interesse in Österreich, aber allein schon das Überschwappen der Proteste auf Deutschland gibt Anlass zur Verwunderung ob der Durchsetzungskraft.
Beinahe schon die Ablehnung der »Leidensdruck-These« revidierend stoßen die Proteste aufgrund der äußerst gewandten medialen Selbst-Repräsentation der Protestierenden auf Verständnis. Selbst »alte Neoliberale« wie der Rektor der Universität Wien zeigen Verständnis für die Frustration der Studierenden ob ihrer ungenügenden Lage.

Der Umstand, dass die versuchte Abwehr des Bachelor-Master-PhD-Systems an einer Kunstuniversität in Wien als Initialzündung für die Besetzung etlicher Hörsäle in Österreich und Europa ausreicht, rückt von den StudentInnen ausreichend angesprochene Punkte ins Licht: Die zunehmende Ökonomisierung der Bildung, auch als Bologna-Prozess bekannt, hat in ganz Europa katastrophale Auswirkungen.
Stand nach Demonstrationen gegen Schwarz-Blau die versuchte Verhinderung der Studiengebühren, die von der Implementierung des Universitäts-Gesetzes 2002 ablenkten, im Vordergrund, so arbeitet sich eine neue Generation an StudentInnen mit der vor sieben Jahren beschlossenen systematischen Aushungerung, den Folgen der Entdemokratisierung und des gesteigerten Leistungsdruck auf alle Universitätsmitglieder ab. Dabei hängt sich der Protest an einem Punkt auf: der sich zunehmend verschlechternden Qualität der Lehre aufgrund der viel zu hohen TeilnehmerInnenzahlen in Lehrveranstaltungen und den immer repressiveren »Lösungsansätzen« (zusätzliche Zugangsbeschränkungen, Knock-Out-Prüfungen in der Studieneingangsphase) dieses Problems seitens der Politik. Dass sich die StudentInnen im Gegenzug dieser Entsolidarisierung verweigern und einen neu überdachten und erweiterten freien Hochschulzugang entgegensetzen, ist ihnen hoch anzurechnen. Die StudentInnen sowie sich solidarisierende Universitätsmitglieder kritisieren vehement bestehende Ausschlussmechanismen im tertiären Sektor, wie soziale Segregation, rassistische Verdoppelung der Studiengebühren für studierende Nicht-EWR-Bürgerinnen, und bauliche Barrieren für Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen.
Erstmals in der Geschichte Österreichs gibt es einen gemeinsamen Ruf aller an der Universität vertretenen Gruppen nach Öffnung des tertiären Bildungssektors als Gegenentwurf zu den von Wirtschaft und Politik favorisierten weiteren Beschränkungen.
Richteten sich die Proteste 1996 und 2001 noch gegen konkrete Maßnahmen der Regierung und versuchten einen Status Quo gegen enorme Verschlechterungen der Studienbedingungen zu verteidigen, erhalten diese Proteste eine neue Qualität, indem sie gegen keine neuen Maßnahmen ankämpfen, sondern selbsttätig eine neue Richtung für Universitäts- und Gesellschaftspolitik einfordern und gleich anbieten. Universitäre Bildung wird hier nicht mehr als Elitenbildung verstanden, es geht auch nicht um das Verwertungspotential in der Wirtschaft, vielmehr wird der emanzipatorische Charakter von Bildung in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, nicht die mangelnde Rentabilität von SeniorenstudentInnen.
Kernaufgaben von Universitäten anhand von gesellschafts-, umwelt- und sozialpolitischen Anforderungen der nächsten zwanzig bis dreißig Jahre neu zu verhandeln und festzulegen und sich danach um die Umsetzung und finanzielle Ausstattung zu kümmern, wäre eine Aufgabe der Politik ebenso wie die Teilnahme aller Betroffenen am Entscheidungsprozess zu organisieren, nur versagt diese bei diesen Fragen. Stattdessen nehmen sich die Protestierenden dieser Frage an und legen innerhalb weniger Wochen mehr diskussionswürdige bildungspolitische Ansätze auf den Tisch als alle Bildungsminister der geschätzten letzten fünfzehn Jahre, denen über die gesamte Zeit nichts anderes einfällt als Ausleseverfahren im Vorschulalter.
StudentInnen machen sich selbst zu ExpertInnen in ihrer Sache, abseits von parteipolitischen Trara und Politikkindergarten à la Österreichische HochschülerInnenschaft, und schaffen damit ganz nebenbei so etwas wie die Ehrenrettung einer Generation.
Bei den letzten Nationalratswahlen waren wir 20 - 29jährigen (Ex-) StudentInnen ja als perspektivenlose, brave, entmündigte politikverdrossene FPÖ-wählende Dummhirnis abgeschrieben, die glauben sich gegen ein Politik-Establishment zu stellen, wenn sie auf kurzhemdelige Bubis hineinfallen, und durften uns von fünfzig- und sechzigjährigen Jugendforschern in überteuerten Lederjacken anhören, wie gut, wie schlecht oder wie sonstwie wir es nicht hätten. Zwar wären wir mit dem Internet besser unterwegs und hätten das mit dem Web2.0 schon drauf, und in Iran hätten Kollegen auch eine ansehnliche Revolte losgetreten, nur um uns war's eigentlich schon g'schehn. Gefangen in der Praktikumshölle würd' aus unserer Generation nix mehr wer'n, voll durchschaut ab auf den Müllhaufen mit uns. Dass mit diesen Einschätzungen eine Generation ihren Bankrott auf eine etwas jüngere projiziert, machen die Proteste deutlich. Den Tod der Sozialdemokratie nach ihrem Wachkoma ab 1989 nehmen die Fünfzigjährigen viel schwerer, schlagen sich noch immer mit der angeblichen Aussichtslosigkeit des Kapitalismus herum und laborieren an den Psychopharmaka, die sie aus falsch verstandenem Pragmatismus gegen jegliche Utopie, jede Vision einnehmen.
Denn entgegen Verleumdungen, entgegen dem Abschreiben meiner Generation haben wir Lazzerato und Negri, genauso wie Butler und Holloway nicht nur gelesen, sondern auch verstanden. Und die Erkenntnis, dass Ausnutzung gemeint ist, wenn Praktikum drauf steht, ist kein Privileg habilitierter SoziologInnen. Wir sehen auch Geschlechterungerechtigkeiten, Barrieren und Rassismus, und uns widern hierarchische Strukturen an. Also her mit der Basisdemokratie mit oder ohne haarige Achselhöhlen. Und das Anrecht auf ein menschenwürdiges Dasein außerhalb der Erwerbsbiographie ist nicht verhandelbar.
Dass sich der Kapitalismus derzeit weniger vor entideologisierten linken Protesten als seinen selbst gestellten Fallen fürchten muss, und die Proteste wahrscheinlich weniger am Status Quo rütteln, als ihnen zustünde, ist so schade wie vorhersehbar. Eine bildungspolitische Debatte wird vorerst nicht in ausreichendem Maße geführt werden, insbesondere, als dass sich der zuständige Bildungsminister auf dem Weg auf die europäische Abschiebebank befindet. Die Verweigerungshaltung seitens der Politik schmälert nicht die Leistung der StudentInnen, ihre Spontaneität, ihre Kreativität im Protest, ihre Fähigkeiten zur Selbstrepräsentation. Ihre Solidarität und ihr Eifer sind beachtenswert. Außerdem stellen die StudentInnen eine Kernkompetenz tertiärer Bildung unter Beweis: nicht nur fachliches Verständnis, über das ich nicht in der Lage bin ein Urteil zu fällen, sondern Engagement an der Gesellschaft, Interesse an komplexen Sachverhalten und die Fähigkeit diese in Zusammenhang zu setzen. Sehr gut, weitermachen!
Die letzten Wochen rücken auch wieder ins Bild, wie gegenseitig fördernd, ansteckend und inspirierend Protest sein kann, dass es unter Umständen gar nicht darum geht, was jetzt alles durchgesetzt werden soll (wir sind ja nicht bei Kollektivlohn-Verhandlungen), sondern was der Protest als Bewusstseinsschaffung unter den TeilnehmerInnen erreicht. Die Ernüchterung nach Ende kann gar nicht so groß sein, dass nicht das Gefühl entstünde, viel daraus gelernt zu haben.

 

Chronologie der Ereignisse mit Schwerpunkt Linz

20. Oktober, 12:00: Pressekonferenz an der Akademie der Bildenden Künste
20. Oktober, 12:25: Besetzung der Akademie der Bildenden Künste
22. Oktober, 8:30: Proteste vor dem BMWF
22. Oktober, 13:15: Besetzung des Auditorium Maximum an der Universität Wien
27. Oktober, 13:50: Besetzung HS1 Universität Linz
31. Oktober, 21:30: Stadtwerkstatt verlegt Konzerte in den HS 1 der Universität Linz
4. November: Spätzünderin Kunstuni Linz: Einrichtung des Basislager K2
5. November: Bundesweiter Aktionstag, mit Demonstrationen in mehreren österreichischen und deutschen Städten, darunter auch in Linz. Am Abend Diskussion u.a. mit Robert Menasse in der Stadtwerkstatt
6. November: Freiwillige Räumung des Hörsaal 1 an der Universität Linz
9. November: Besetzung des Hörsaal 3 an der Universität Linz
16.-19. November: Aktionswoche der Linzer Universitäten im Zusammenhang mit dem International Students Day, an dem sich StudentInnen in 25 Ländern beteiligen.

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