Braucht Medienkunst eine Geschichte? Ausgehend von der Konferenz Media Art Histories, Riga 2013, und einer Reihe von Interviews für die Sendung "Braucht Medienkunst eine Geschichte?", ORF Ö1, Radiokolleg, 27.-30.Januar 2014, wirft dieser Artikel einen inter-subjektiven und polyphonen Blick auf die Geschichtlichkeit von Kunst und Medien.
the world in 24 hours: telefax action: robert adrian, waltraut cooper, norbert hinterberger and otto mittmannsgruber (1982), photo: Robert Adrian
In Riga, Lettland, fand im Oktober 2013 die fünfte Media Art Histories (MAH) Konferenz statt. Die erste Konferenz dieses Titels hatte 2005 in Banff in Kanada stattgefunden und war das Ergebnis einer Kooperation verschiedener Institutionen gewesen, darunter das Leonardo-Magazin und die Abteilung für Bildwissenschaften der Donau-Uni Krems. Wie Oliver Grau, Professor für Bildwissenschaften in Krems im Interview erzählte, hatten sich einige Expert_innen im Kontext einer anderen Konferenz in Japan zusammengefunden und den Missstand beklagt, dass es keine internationale Konferenz gab, die sich explizit mit der Geschichte der Medienkunst beschäftigte. Die erste Konferenz in Banff wurde ein voller Erfolg, wie Wendy Coones zu berichten weiß, weil das Banff Arts Centre abgelegen in den Rocky Mountains liegt, was die Konzentration förderte. Wendy Coones, die ebenfalls an der Donau-Uni arbeitet, hatte MAH 2005 mit organisiert. Im Anschluss an Banff wurde ein Reader
Eine Sonderposition innerhalb dieses Kanons - und es ist ein Kanon, der hier entwickelt wird, dazu mehr später - nimmt die sogenannte Medienarchäologie ein. Die Autoren Siegfried Zielinski und Erkki Huhtamo zählen sicher zu den bekanntesten Vertretern dieser Richtung, neben dem bereits genannten Oliver Grau und dem Medientheoretiker Lev Manovich. Bei der Medienarchäologie geht es nicht um Archäologie im eigentlichen Sinn, sondern um Archäologien des Wissens, in Anlehnung an die so benannten Forschungsstrategien von Michel Foucault. Sie nimmt Phänomene der Gegenwart zum Ausgangspunkt und zeigt, dass es ähnliche Dinge auch in der Vergangenheit bereits gegeben hat, nur mit anderen technischen Mitteln. Ein gutes Beispiel sind Zielinskis Fallstudien über den Jesuiten Anastasius Kircher, der im 17. Jahrhundert visuelle Effekte produziert hat, die jenen eines Virtual Reality Cave nicht unähnlich sind. Im günstigsten Fall kann man der Medienarchäologie also zuschreiben, dass sie bestimmte Konstanten im menschlichen Denken aufzeigt, die unabhängig von der verwendeten Technologie existieren. Damit kann aber auch eine starke Entpolitisierung stattfinden, indem der sich verändernde sozialpolitische Horizont ausgeblendet wird. Bei MAH in Riga gab Erkki Huhtamo einen Eröffnungsvortrag über das Thema "Cloud", wobei genau diese Ambivalenz zu Vorschein kam. Einerseits wurde die "Cloud" als Topos der Kulturgeschichte auf sehr witzige Art erörtert, die Probleme, die sich heute aber tatsächlich durch Cloud-Computing, Big Data und Überwachung stellen, wurden nicht einmal angerissen.
MAH ist jedenfalls eine Erfolgsgeschichte und die nächste Konferenz 2015, wieder in Kanada, ist bereits in Vorbereitung. Die MAH-Konferenzen ähneln immer mehr anderen großen Konferenzen wie der ISEA - International Symposium of Electronic Arts (seit 1988) - mit hunderten Vorträgen und immer mehreren Konferenz-Tracks gleichzeitig. Oliver Graus Buch Virtual Art (2003), das als eine Art Medienarchäologie der virtuellen Realität verstanden werden kann, ist inzwischen laut Angabe des Autors das meistzitierte Buch der modernen Kunstgeschichte. Grau gibt sich große Mühe zu zeigen, dass Virtual Reality nichts substantiell Neues ist, sondern dass es nur die Tradition verschiedener Techniken der Illusion, der Panoramamalerei und anderer immersiven Techniken weiter schreibt. Er versucht damit zugleich den Beweis zu erbringen, dass Virtual-Reality-Kunst ganz selbstverständlich Teil der Kunst ist.
Genau dasselbe aber unter umgekehrten Vorzeichen sagt Matthias Michalka, Kurator am MUMOK Stiftung Ludwig Wien. Michalka hat am MUMOK unter anderem die Ausstellung Changing Channels (2012) kuratiert, die sich mit dem Verhältnis der Kunst zum Fernsehen beschäftigte. Michalka wollte zunächst gar kein Interview geben, weil er der Ansicht ist, dass die Kategorie Medienkunst überflüssig sei. Jede Kunst sei letztlich Medienkunst, weil Kunst immer an ein Medium gebunden ist. Eine besondere Kategorie Medienkunst einzuführen sei deshalb nicht nur unnotwendig, sondern letztlich sogar schädlich für Künstler_innen, die sich mit neuen Medien beschäftigen. Damit könnten diese Praktiken in eine Nische abgeschoben werden und genau das wäre auf lange Sicht kontraproduktiv. Michalka referenzierte dabei auf einen grundlegenden Text der amerikanischen Kritikerin Rosalind Krauss
Krauss arbeitete sich an der Position des einflussreichen Kritikers Clement Greenberg ab, dem Theoretiker der großen amerikanischen abstrakten Maler der Nachkriegsperiode war. Eine zentrale Stellung nimmt bei Greenberg der Begriff der Selbstreflexivität des Mediums ein. Die Malerei habe, indem sie alles andere abgestreift und sich immer stärker mit ihrem inneren Wesen beschäftigt habe, zur Fläche als ihrem eigentlichen Material und Medium gefunden. Was Greenberg 1961 nochmal auf den Punkt zu bringen versuchte
Und insofern ist auch das Argument von Michalka ambivalent. Einerseits ist die Nischensituation der Medienkunst tatsächlich ein Problem, weil sie damit ohne Anschluss an das kritische Reflexionspotential der Kunst bleibt. Michalkas Argument wäre überzeugender, wenn Museen wie das MUMOK Stiftung Ludwig sich mehr mit aktuellen Medienkunstpositionen beschäftigen würden. Doch die meisten Museumsausstellungen, die sich mit der postmedialen Kondition beschäftigen, enden zeitlich irgendwann in den 1970er Jahren und beruhen, was die verwendeten Medien angeht, auf ratternden 16-mm-Projektoren, Kodak-Karrussel-Diaprojektoren oder heute auch schon beinahe archäologisch anmutenden Sony-Schwarzweiß-Monitoren. Michalka rechtfertigte das mit einer berühmten Idee Walter Benjamins. Dieser, wohl neben Marshall McLuhan der wichtigste Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts, meinte, Medien würden zwei Mal ihr utopisches Potenzial offenbaren, das erste Mal, wenn sie ganz neu seien, und das zweite Mal in dem Moment, in dem sie obsolet werden. So lässt sich z.B. erklären, dass die künstlerische Beschäftigung mit Film in den späten 1960er Jahren einen enormen Aufschwung nahm, genau zu dem Zeitpunkt, als Fernsehen und Video den Film als klassisches zeitbasiertes Medium zu verdrängen begannen. Wenn damit aber gerechtfertigt wird, dass im Museum immer noch Film als das neue Medium schlechthin gehandelt wird, dann klafft hier wohl offensichtlich eine Lücke.
Diese Ambivalenz betont auch die Berliner Kuratorin Inke Arns. Die Leiterin des Hartware Medienkunst Vereins (HMKV) Dortmund ist zwar gegen die Ghettoisierung der Medienkunst, meint aber zugleich, dass die Medienkunst eben nicht in der größeren Kategorie Kunst aufgeht. Bestimmte Fragestellungen zum Verhältnis zwischen Technologie und Gesellschaft werden laut Arns in der Medienkunst in einer Tiefe und mit einem speziellen Wissen behandelt, wie es in der Museumslandschaft leider nur selten vorkommt.
robert adrian & hank bull at the western front during wiencouver 4 (vancouver-vienna slowscan TV & phone music) november 1983, photo: robert adrian
Mit dieser Ambivalenz hat der in Wien lebende, kanadische Künstler Robert Adrian X über weite Strecken seines Lebens zu kämpfen gehabt. Der bildende Künstler, der Anfang der 1970er Jahre nach Wien kam, zählt zu den Pionieren einer Nische innerhalb der Nische Medienkunst.1979 begann er an Experimenten mit Telekommunikation zu arbeiten. Die Möglichkeit ergab sich über ein von der kanadischen Regierung gesponsertes Programm, Technologien zu nutzen, um selbstverwaltete Künstlergalerien wie zum Beispiel Western Front in Vancouver mit anderen Orten zu verbinden. Die technische Grundlage lieferte die Firma I.P.Sharp, die ein Timesharing-Netzwerk betrieb. Dabei werden Terminals über Telefonleitung mit einem Mainframe-Computer verbunden. Ab 1980 betrieb Adrian X ein Künstlernetzwerk namens Artex mit mehreren Dutzend Teilnehmer_innen, die über die ganze Welt verstreut waren. In einer Serie von Projekten mit dem Titel WienCouver verband er Wien und Vancouver. Die Kommunikation über die Computerterminals würde man heute als Chat bezeichnen, daneben gab es auch so etwas wie Foren mit asynchroner Kommunikation. Zusätzlich wurde sogenanntes Slowscan TV eingesetzt, ein Bildfax-Verfahren, das mehrere Sekunden brauchte, um Zeile für Zeile ein neues Bild aufzubauen. Trotzdem konnte damit so etwas wie ein dynamischer Effekt erzielt werden und im Rahmen von WienCouver wurden speziell für dieses Medium konzipierte Performances durchgeführt.
Robert Adrian X erzählt von einem Aha-Erlebnis, das er bei einer der ersten dieser Performances hatte. Er saß neben Richard Kriesche und beide chatteten miteinander über die Terminals von I.P.Sharp, als sie realisierten, dass die Daten über den Rechner der Firmenzentrale in Toronto gingen. "Da öffnete sich für mich dieser Raum," berichtete Adrian X. Die Kunst der Telekommunikation ist eigentlich eine Raumkunst, sie eröffnet den Teilnehmenden einen gemeinsamen Raum für die Dauer der Performance. Deshalb meint Adrian X, dass man, wenn man sich mit der Geschichte der Medienkunst beschäftigt, immer weiter zurückgehen müsse. Das Telefon ist für ihn das entscheidende Medium, weil es bereits die Möglichkeit eröffnete, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Und, ähnlich wie der kanadische Medienguru McLuhan, ist für ihn das eigentliche Netz der Netze nicht das Internet, sondern die Elektrizität.
Robert Adrian X betont zugleich wie randständig diese Experimente der Kunst und Telekommunikation waren. Die Geschichtsschreibung kann leicht einen falschen Eindruck erwecken. So wurde zum Beispiel in den letzten Jahren immer mehr interessantes Material über Vorformen der Medienkunst in den 1960er Jahren publiziert. Initiativen wie Experiments in Art and Technology (E.A.T.) und die Ausstellungen Cybernetic Serendipity (1968) und Software (1970) lassen die späten 1960er Jahre wie eine Blütephase der Medienkunst erscheinen (obwohl der Begriff selbst noch nicht verwendet wurde). Doch in der Erinnerung des Künstlers waren die Sixties vor allem von der Pop-Art geprägt. Und das erreichte solche Auswüchse, dass vor lauter farbenprächtigen Pop-Art-Werken kaum noch etwas anderes zu sehen war. In der Folge der Revolten von 1968, die in den USA erst 1970 ihren Höhepunkt fanden, wurde die Kunst jedoch plötzlich sehr antikommerziell. "Die meisten Galerien mussten zusperren oder sie nannten sich Informationsgalerien, boten viel Lesestoff und nahmen Eintritt an der Tür für Performances," berichtet Adrian X.
1980 war dann mit einem Schlag wieder alles anders. Die Malerei war zurück und zwar mit einem gewaltigen Boom. Und dieser dauerte fast die gesamten 1980er Jahre an. Während die Medienkunst im engeren Sinn - eine Kunst, die diesen Begriff verwendete - sich zu entwickeln begann, an Festivals wie der Ars Electronica, so war das in der öffentlichen Wahrnehmung völlig überlagert von großformatiger "wilder" Malerei, und später Neo-Geo und Neo-Konzeptkunst. Während dieser gesamten Phase produzierte Robert Adrian X als Künstler weiterhin Objekte für den Verkauf in Galerien und führte zugleich die Experimente mit Telekommunikation weiter. Eine Kluft tat sich auf zwischen einer Kunst, die sich aktiv mit den neuen Technologien beschäftigte und der Museums- und Galeriekunst, die diese Strömungen weitgehend ignorierte. Es entwickelten sich eigene Institutionen, die auf Medienkunst spezialisiert waren und sind.
In diesem "schwarzen Loch", das die 1980er Jahre hinsichtlich der Geschichtsschreibung der Medienkunst nach wie vor bilden, wurde eines der ältesten der neuen Medium, das Radio, zu einer wichtigen Institution, weil es diesen neuen Entwicklungen Raum gab. Heidi Grundmann, langjährige Ö1 Kunstjournalistin, präsentierte das Artex-Netzwerk in ihrer Sendung "Kunst heute", live im Studio im Funkhaus. Später erhielt sie mit Kunstradio-Radiokunst ihre eigene Sendung, die bis heute existiert und nun von Elisabeth Zimmermann geleitet wird. In den späten 1980er, frühen 1990er Jahren begann das Kunstradio systematisch, Telekommunikationsprojekte zu fördern. Ab 1991 gab es Kollaborationen mit der Gruppe X-Space aus Graz, gegründet von Horst Hörtner und Gerfried Stocker, heute Leiter des Ars Electronica Futurelab und Festivals. In Zusammenarbeit mit X-Space, der Initiative Transit und Künstler_innen wie Seppo Gründler und Mia Zabelka wurden Live-Schaltungen zwischen verschiedenen Studios realisiert, aber auch sogenannte Mailboxen eingesetzt.
Für Heidi Grundmann realisierte sich mit diesen Projekten wie z.B. Chipradio (1992) die älteste Radio-Utopie: die schon von Bertolt Brecht geäußerte Idee, dass das Radio ein Medium für Zweiweg-Kommunikation sein solle. Von der Politik wurde das Radio künstlich zu einem Einwegmedium gemacht. Die Verbindung von Radio, Telefon, Netzwerken, Midi und anderen Technologien schaukelte sich 1992 im Projekt Piazza Virtuale von Ponton zu einer regelrechten Orgie der Kommunikation auf. Die utopischen Ideen der russischen und italienischen Futuristen zum Radio als einem Medium der Instant-Kommunikation, befreit von den Zwängen der Sprache, der Syntax, des Sinns, schienen in diesen Experimenten Wirklichkeit zu werden. Einer der Höhepunkte dieser Entwicklung war das Projekt Horizontal Radio bei der Ars Electronica 1995, bei dem dutzende Studios, Server und Orte miteinander verbunden wurden. Das geschah praktisch zeitgleich mit der öffentlichen Verfügbarkeit des Internet.
Mit dem WWW kam eine neue Generation von Netzkünstlern in die Öffentlichkeit. Gleichzeitig entwickelte sich die Netzkritik, ein von Geert Lovink und Pit Schultz geprägter Begriff, auf der Mailingliste Nettime, - neben anderen Listen wie Rhizome, Syndicate, Empyre oder Seven Eleven. Gleichzeitig gab es eine hektische Aktivität von Meetings, manche davon beinahe verschwörerische Geheimtreffen, neben mittleren und größeren Konferenzen wie Next Five Minutes, Amsterdam. Bei einem dieser Treffen, am Rande der Biennale von Venedig, wurde die Gruppe net.art gegründet, eigentlich keine Gruppe sondern eine lose Assoziation von Künstler_innen, darunter Heath Bunting, Vuk Cosic, Olia Lialina, Alexei Shulgin und Rachel Baker. Ebenfalls zum engeren Umfeld zählten Jodi.org. Die Taktiken der net.art Künstler_innen, ihre listig-verschrobenen Postings, ihre Performance-artige Präsenz im Netz und auch eine gewisse Art von Herdeneffekt führten dazu, dass net.art schnell zu den bekanntesten Net.artists wurden. Bis heute hat sich dieser Effekt nur noch verstärkt, so dass viele jüngere Netzkunst mit der net.art Gruppe gleichsetzen.
Dieser Umstand störte die holländische Autorin Josephine Bosma. Sie war von Anfang an dabei gewesen und hatte mit ihren Artikeln und Interviews viel zum schnellen Ruhm von net.art beigetragen. Mit der einsetzenden Kanonisierung in den 2000er Jahren entwickelte sich jedoch eine verengte Sicht auf die Vergangenheit. Um dem etwas entgegenzusetzen, schrieb Bosma das Buch Nettitudes
Mitte der 1980er Jahre realisierte Adrian X auch eine Reihe von Telefonkonzerten zwischen Wien, Berlin und Budapest. Mittels der Midi-Steuersignale konnten sie sozusagen unter dem Eisernen Vorhang durchschlüpfen. Mit der beginnenden Öffnung des ehemaligen Ostblocks ab 1989 setzte auch ein intensive Reisetätigkeit ein. Video- und Medienkunstaktivistinnen wie Nina Czegledy und Kathy Rae Huffman begannen, feministische Medienkunst-Netzwerke zwischen Ost und West zu knüpfen. Auf der Mailingliste Syndicate entwickelte sich ein intensiver Austausch mit Deep Europe, wie Mittel-, Ost- und Südosteuropa damals genannt wurden.
Viele dieser Aktivitäten haben bislang bei der Konferenzserie MAH und den sie begleitenden Publikationen kaum Beachtung gefunden. Wie es der amerikanische Kunsthistoriker Edward Shanken offen ausspricht, geht es bei seinen geschichtlichen Erkundungen darum, einen Kanon der wichtigsten Werke und Künstler der Medienkunst aufzubauen. Geht man nach Shankens eigenen Publikationen Ascott, Roy, and Edward A Shanken. 2003. Telematic Embrace: Visionary Theories of Art, Technology, and Consciousness. Berkeley: University of California Press.
In den 2000er Jahren verschoben sich erneut die Parameter. Das Web 2.0 entstand und die sogenannten sozialen Medien erlebten einen rasanten Aufstieg. Die Idee der eigenen Homepage von Individuen wurde von den neuen Corporate (anti)sozialen Netzwerk-Sites in den Hintergrund gedrängt. "Ich bin von einer Generation, die sich nie gedacht hätte, dass Geocities einmal verschwinden würde," erklärte die brasilianische Netzkünstlerin Giselle Beiguelman. Geocities war ein Gratishosting-Service wo User_innen ihre Homepage in einer virtuellen Stadt platzieren konnten. Wie vieles dieser Projekte, die sich auf die Stadtmetapher stützten, ist es längst Geschichte. Nicht nur deshalb argumentiert Beiguelman, dass wir einen ganz anderen Zugang zur Geschichte brauchen, der dieser neuen Situation gerecht wird. Zugleich wendet sie sich gegen Formen der Geschichtsschreibung, die eine falsche Kontinuität suggerieren. In den letzten Jahren wurde es Mode, in die Geschichte zu gehen und Ahnen der Netzkunst zu finden. So werden in Brasilien z.B. Elio Oiticica und Lygia Clarke auf Grund ihrer partizipatorischen Arbeiten der 1960er Jahre als Vorfahren der Netzkunst gesehen. Falsch, meint Beiguelman. Das Netz sei ein einmaliges Environment mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Neben einer Ästhetik der Transmission, wie sie es nennt, besteht die Einmaligkeit des Netzes vor allem in dem Umstand, dass es mittlerweile potenziell Milliarden Menschen als aktive Mitproduzent_innen bietet.
Auch der russische, in den USA lehrende Medientheoretiker Lev Manovich versteht Social Media als einen Quantensprung. "In den 1990er Jahren, als diese Dinge neu waren, habe ich mich im Bereich der Medienarchäologie betätigt," erklärte Manovich, "um zu zeigen, dass diese Dinge eine Kontinuität in der Kulturgeschichte hatten. In den 2000er Jahren begann ich mich umzuorientieren und zu fragen, was denn wirklich neu ist." Wirklich neu ist laut Manovich, dass heute bei praktisch jeder Form von kultureller Produktion im weitesten Sinn, Software im Spiel ist. Und diese Software ist nicht einfach nur neutrales Werkzeug, sondern legt den Rahmen dessen vor, was wir tun können. Schon in den 1960er Jahren konnte McLuhan behaupten, dass das Medium die Botschaft sei, dass nicht nur der Inhalt der Medien zählt, sondern auch die Form des Mediums selbst. Der deutsche Literaturwissenschafter Friedrich Kittler hat diesen Gedanken weiter gedacht und auf die verschiedensten Aufschreibesysteme angewandt. Manovich
Ähnlich sieht das auch der kanadische Künstler Robert Adrian X. Er wendet sich gegen jene Sichtweise, die sich beschwert, dass die Medienkunst noch nicht wirklich im Kunstsystem angekommen sei. Mit dem Web, den sozialen Medien und der digitalen Kultur jedoch stelle sich diese Frage gar nicht mehr, meint Adrian X. Der Großteil der jungen Generation sei permanent mit sozialen Medien beschäftigt, mit eigenen "kulturellen Werken" im weitesten Sinn, wie auch immer amateurhaft. Genauso wie seine Generation sich nicht darum gekümmert habe, ob ihre Experimente Kunst seien, sei das auch den heutigen "digital natives" egal. Die fortgeschrittenen Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts haben den Kunstbegriff bereits bis an den Rand des Zerspringens gebracht. Mit der postmedialen Kondition im 21. Jahrhundert stellt sich die Frage, ob Kunst in der bisherigen Form überhaupt noch eine Zukunft hat. Das ist keine pathetische Ansage über das Ende der Kunst, aber es ist klar, dass neben einer neuen Geschichte der Kunst auch eine neue Definition ihrer Rolle im gesellschaftlichen Gefüge gebraucht wird.