Dieser Text ist die deutsche Übersetzung des Vortragstextes Maurizio Lazzaratos bei der Creative Cities Konferenz am 31.3.2009 in Wien. Die Übersetzung stammt von Stefan Nowotny. In diesem Text argumentiert Maurizio Lazzarato, inwiefern die derzeitige Politik Frankreichs und der EU im Bereich der Creative Industries anti-produktiv ist.
„Der unentwegte Aufruf zur Kreativität ist eine Losung, die zur Obsession wird, denn die Kreativität erlischt überall […]. Daher der verzweifelte Aufruf zur Kreativität […]. Denken Sie an die kreativen Zellen in der Industrie: Gerade weil die Zerstörung der Subjektivität solche Ausmaße annimmt – in der Forschung, unter den Führungskräften etc. –, gerade deshalb wird es für die Spitzenunternehmen sozusagen lebensnotwendig, ein Minimum an Subjektivität aufs Neue hervortreten zu lassen.“ Félix Guattari
Parallel zur ökonomischen Verarmung produziert der Liberalismus eine Verarmung der Subjektivität. Wenn sich die ökonomische Verarmung auf die Bevölkerung in Form von Unterschieden auswirkt, indem sie stark ausgeprägte Hierarchien und Polaritäten bezüglich Einkommen, Status etc. erzeugt, so funktioniert die subjektive Verarmung horizontal, sie betrifft die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit. In den Sicherheitsgesellschaften leben Reiche und Arme in „ein und derselben Welt“, in dem Sinne, dass sie denselben Semiotiken der Information, der Werbung, des Fernsehens, der Kunst und Kultur ausgesetzt sind.
Die Produktion dieser von allen geteilten semiotischen Welt bildet in unseren Gesellschaften ein spezifisches Element der Regierung, das sich am gewinnbringendsten über die Veränderungen analysieren lässt, die Kunst und KünstlerInnen bezüglich ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Stellung und Funktionen durch das 20. Jahrhundert hindurch erfahren haben.
Der von Marcel Duchamp geprägte Begriff der „anart“ – „Unkunst“ – kann uns dabei helfen, diese Veränderungen zu begreifen. Duchamp vollzieht eine doppelte Erweiterung der Begriffe von Kunst und KünstlerIn – bis er sich schließlich genötigt sieht, Neologismen zu erfinden (Unkunst und UnkünstlerInnen), um den neuen Funktionen, den neuen Positionen, den neuen Identitäten gerecht zu werden, die unter der Wirkung dieser Erweiterungen entstehen.
Auf der einen Seite erlebt die Kunst, die wie die intellektuellen und wissenschaftlichen Formen des „Wissens“ eine den wirtschaftlichen, staatlichen und kirchlichen Eliten vorbehaltene Aktivität gewesen war, während des gesamten 20. Jahrhunderts eine Ausbreitung und Diffusion in jene Klassen hinein, die sich von ihr ausgeschlossen gesehen hatten. Die Rede ist von jenen Klassen, die, wie schon Platon bemerkt hatte, „keine Zeit hatten“, beschäftigt, wie sie damit waren, die materielle Reproduktion ihrer Meister und Herren zu gewährleisten („die Arbeit wartet nicht“).
Andererseits hat diese erste Erweiterung noch eine weitere wichtige Konsequenz: Auch die „Produkte“ der Kunst (aber ebenso die Produkte der wissenschaftlichen und intellektuellen Formen des „Wissens“) bleiben nicht länger einer Elite von BetrachterInnen vorbehalten, wie dies in der aristokratischen und der bürgerlichen Gesellschaft stets der Fall gewesen war, sondern sie treffen auf eine Öffentlichkeit, deren Rolle und Macht der Koproduktion sich unaufhörlich ausweitet und vermehrt.
Diese erste, „soziologische“ Erweiterung zieht eine weitere Erweiterung, diesmal „ontologischer“ Art, nach sich, die vielleicht noch wichtiger ist. Duchamp löst die Kunst aus ihrer beschränkten Bedeutung als spezialisierte Tätigkeit, die von einer bestimmten Berufskörperschaft ausgeübt wird. Kunst ist zuallererst ein Koeffizient, der, in unterschiedlichem Ausmaß, in jeglicher menschlichen Tätigkeit gegenwärtig ist.
Duchamp, der den materiellen Bedingungen von Kunstdingen stets große Aufmerksamkeit widmete, beschreibt bereits in den 1960ern die Veränderungen, denen Kunst und KünstlerInnen seit Beginn des 20. Jahrhunderts unterliegen. Eingangs des Jahrhunderts ist Kunst noch ein Randphänomen: „Es gab einige Maler, einige Händler, einige Sammler […], die Kunst war eine Art esoterische Tätigkeit, diese Leute sprachen ihre eigene Sprache, die die große Öffentlichkeit nicht verstand […]. Seither ist alles in den öffentlichen Bereich eingedrungen […]. Die Esoterik der Kunst ist exoterisch geworden, die Öffentlichkeit hat das Ihre zu sagen, und sie sagt es. Außerdem hat sie ihr Geld mitgebracht […]. Die Öffentlichkeit hatte nicht diese Art von Interesse an Kunst, die es heute gibt – und zwar in einem Ausmaß, das schon beunruhigend wird.“
„Öffentlichkeit“ ist hier im doppelten Sinn von „BetrachterInnen“ und von öffentlicher Sphäre, öffentlichem Raum, zu verstehen, und es ist im Übrigen die Öffentlichkeit in der ersten Bedeutung, welche die Kunst in den Letzteren eintreten lässt. Kunst wird damit zu einer politischen und ökonomischen Angelegenheit, sie führt neue Subjekte (neue Öffentlichkeiten) und neue „Objekte“ (die künstlerischen Techniken und Prozeduren) in die Gesellschaft ein.
Jene erste Erweiterung lässt die Kunst nicht nur in den öffentlichen Raum Eingang finden, sondern auch und vor allem in den Markt. „Kunst ist ein Produkt wie Bohnen, man kauft Kunst, wie man Spaghetti kauft.“
Marcel Duchamp selbst kann als Indikator für die Transformationen betrachtet werden, die auf die Kunst, die KünstlerInnen sowie insbesondere auf die materiellen Reproduktionsbedingungen von Kunst und KünstlerInnen einwirken, zumal seine Lebenspanne (1887–1968) mit diesen Transformationen zusammen fällt.
Sohn eines Notars, erhielt er von seinem Vater regelmäßig eine kleine Rente (als vorweggenommenes Erbe). Er lebte lange vom „Mäzenatentum“ seiner reichen Freunde. Er führte ein „bescheidenes“ Leben („Ich lebte sehr billig“), da er sich in den Kunstmarkt, der in den 1920er Jahren in den USA gerade entstand und aufblühte, nicht eingliedern wollte.
Duchamp stirbt 1968, und damit in eben jenem Jahr, in dem die Dinge, die er vorweggenommen hatte, eine weitere, sehr bedeutsame Wendung nahmen: die Erweiterung der Kunst sollte nunmehr mehr und mehr Menschen angehen, auf Seiten der KünstlerInnen ebenso sehr wie auf Seiten der Öffentlichkeit.
Die Rente, das Mäzenatentum und selbst der Kunstmarkt sind – Letzterer ungeachtet seiner starken spekulativen Entwicklung – einer sehr kleinen Elite vorbehalten; sie reichen nicht aus, um das Leben und die Aktivitäten Tausender zu finanzieren, deren Definition als „KünstlerInnen“ immer problematischer wird und die sich, um ihr Leben zu bestreiten, der Lohnarbeit und der unabhängigen Arbeit zuwenden werden. Mit dem Jahr ’68 finden wir uns bereits in unserer Gegenwart wieder. Der eindrucksvolle Aufschwung von Kunst und Kultur hätte selbst Duchamp staunen gemacht. In einen rentablen Wirtschaftssektor verwandelt, in dem 2 % der werktätigen europäischen Bevölkerung beschäftigt sind, ist der Kunst- und Kulturbereich zu einem der Dispositive geworden, die der Regierung der Öffentlichkeiten dienen, aber auch zu einem Schauplatz von kollektiven Konflikten und Widerständen, wie die Bewegung der Intermittents du spectacle im Frankreich der Jahre 2003–2007 deutlich macht.
Duchamp liefert zwei verschiedene Versionen von der „ontologischen“ Erweiterung der kreativen Tätigkeit, die sich einmal über ein Verständnis der Kunst als Machen vollzieht, das zweite Mal über ein Verständnis der Kunst als Handeln; in beiden Fällen aber geht es darum, die Kunst oder, genauer, die künstlerischen Praxen aus ihrer „eingeschränkten“ Bedeutung herauszuführen, welche sich an die Auffassung von Kunst als „schöne Künste“ knüpft.
Die zweite Version weist eine stärkere Kohärenz mit der Tätigkeit und dem Denken Duchamps auf. Diese lösen sich radikal vom Modell des Künstlers als „homo faber“, als Erzeuger von „Objekten“; sie nähern sich einer Konzeption von Kunst als „Geistestechnik“, Subjektivierungsdispositiv, Selbsttechnik, zum Denken und Empfinden zwingendes Zeichensystem an und verstehen die Funktion der KünstlerIn als die eines „Mediums“ (oder, in der Version von Beuys, eines „Schamanen“).
„Schlussendlich bedeutet das Wort ‚Kunst‘ etymologisch ‚Handeln‘, nicht ‚Machen‘, sondern ‚Handeln‘. Im selben Augenblick, in dem man handelt, ist man Künstler. Man ist nicht wirklich einer, man verkauft kein Werk, aber man vollzieht eine Handlung. In anderen Worten, Kunst bedeutet Handeln, Tätigkeit, welcher Art auch immer. Für alle und jeden. Aber wir, in unserer Gesellschaft, wir haben uns dazu entschieden, eine Gruppe namens ‚Künstler‘, eine Gruppe namens ‚Ärzte‘ usw., all diese Gruppen voneinander zu unterscheiden – eine rein künstliche Unterscheidung […]. Die Kunst könnte – anstatt eine vereinzelte Entität zu bilden, in einer kleinen Schachtel wie dieser hier, mit so und so vielen Künstlern auf so und so vielen Quadratmetern –, sie könnte universell sein, ein menschlicher Faktor im Leben der Menschen, jeder wäre ein Künstler, und doch zugleich als Künstler verkannt. Verstehen Sie, was ich meine?“
Jede beliebige Tätigkeit ist jeder beliebigen anderen Tätigkeit gleich, jede beliebige Person ist jeder beliebigen anderen Person gleich. Von dieser Konzeption ausgehend wird Duchamp ohne Unterlass die Integration von Kunst und KünstlerInnen in die „Gesellschaftsmaschine“ kritisieren. In dieser Konzeption einer Unkunst treffen wir auf einen radikal demokratischen Standpunkt, denn das Problem besteht nicht in der Verbreitung der Kunst in der Öffentlichkeit, sondern in der Konstituierung und Bereicherung des von allen geteilten Handlungsvermögens. Der kreative Akt wird nicht als ästhetischer Akt begriffen, sondern als Produktion von Subjektivität, als Handlungsmacht.
Wenn Duchamp das Diktat, Künstler zu sein, zurückweist und sich als jemand definieren wird, der die Insignien des Künstlers abgelegt hat, so gibt er deswegen nicht die künstlerischen Praktiken, Protokolle, Prozeduren auf; doch das von ihm geäußerte Begehren, „nicht Künstler genannt zu werden“, erfordert eine Neuentfaltung der künstlerischen Funktionen und Dispositive. Es geht dabei um eine subtile Positionierung, die sich weder außerhalb noch innerhalb der Institution Kunst einrichtet, sondern am Limes, an der Grenze, und die von diesem Limes, dieser Grenze aus die dialektische Opposition von Kunst und Nicht-Kunst in die Flucht zu schlagen versucht.
Kunst und Kultur als Techniken der Regierung von Subjektivität
Kunst und Kultur sind ein gutes Beispiel dafür, wie die neoliberalen Regierungstechniken in die von Duchamp beschriebene doppelte Erweiterung eingreifen: einerseits durch ökonomische Verarmungspolitiken, die die Bedingungen der Beschäftigung, Arbeit und Arbeitslosigkeit von KünstlerInnen und TechnikerInnen betreffen; sowie andererseits durch Kulturpolitiken, die eine Verarmung der Subjektivität – der KünstlerInnen und TechnikerInnen wie auch der Öffentlichkeiten – betreiben, indem sie Professionalisierungsprogramme installieren und künstlerische Exzellenzbereiche konstruieren. Ich beziehe mich im Weiteren auf das französische Beispiel der Intermittents du spectacle
Die ökonomische Verarmung der KünstlerInnen und TechnikerInnen erfolgt durch einen Umbau ihrer Arbeitslosenversicherung, die angesichts der Unsicherheiten und Wechselfälle des kulturellen Arbeitsmarkts mit seinen denkbar ausgeprägten Ungleichheiten eine gewisse Stabilität und Sicherheit gewährleistete. Im Kunstbereich ist die Polarisierung der Einkommensungleichheiten besonders stark ausgeprägt.
Die „Reform“ der Arbeitslosenversicherung der Intermittents du spectacle (KünstlerInnen und TechnikerInnen), die wir hier als Offenlegung, Verdichtung und Beschleunigung jener Prozesse betrachten, welche auf Kultur und Kunst seit den 1980er Jahren einwirken, zielte nicht nur darauf ab, eine große Anzahl von KünstlerInnen und TechnikerInnen (30.000) von den Entschädigungsleistungen auszuschließen; sie zielte auch auf die
Erzeugung von Unsicherheit und Instabilität, um den Wettbewerb aller gegen alle zu verschärfen. Unsicherheit, Instabilität und Konkurrenz sollen die Hervorbringung einer Lohnarbeiterschaft gewährleisten, die prekarisiert ist, flexibel und der Content-Produktion der Kulturindustrie unterworfen.
Die Regeländerungen bezüglich der Entschädigungsleistungen bezweckten eine Verwandlung der KünstlerInnen und TechnikerInnen in „Humankapital“, das heißt in UnternehmerInnen ihrer selbst; Arbeitslosengeld, Ansprüche auf Krankenversicherung, Rente etc. sollten von ihnen nicht länger als soziale Rechte betrachtet werden, sondern als individuelle Investition, die es zu optimieren gilt, und zwar auf dem Markt und durch den Markt. Die neoliberale Logik besteht darin, jedes Individuum in ein kleines Unternehmen zu verwandeln, das alle ökonomischen Risiken auf sich nimmt. Das Modell, in das die KünstlerInnen und TechnikerInnen gedrängt werden sollten, ist das – außerhalb Frankreichs sehr verbreitete – Modell der Selbständigen und der Freelancer.
Hingegen vollzieht sich die subjektive Verarmung der KünstlerInnen und Öffentlichkeiten über die Politiken der Massenkulturindustrie, welche die Kritik der Trennung zwischen KünstlerInnen und Nicht-KünstlerInnen, die ihren Höhepunkt mit Duchamp erreicht, sozusagen in Richtung Markt „umleiten“, während die Kulturpolitiken des Kulturministeriums genau dieselbe Unterscheidung aufs Neue in Kraft zu setzen versuchen.
Im Zuge des Konflikts der Intermittents du spectacle wurde es klar ausgesprochen: das Modell, an das sich die kulturelle und künstlerische Produktion anzupassen habe, sei jenes der Rentabilität und Produktivität des Fernsehens. Mit dem Fernsehen, der Werbung, dem Marketing sind wir mit der vollendetsten Banalisierung und Herabwürdigung der Demokratisierung konfrontiert, umgesetzt durch die modernen und zeitgenössischen künstlerischen Techniken, welche die Subjekte, Ereignisse, Geschlechter nicht mehr nach Kriterien von „oben oder unten“, von „nichtswürdig und vornehm“ hierarchisieren, sondern die Beliebiges mit Beliebigem zusammenfügen und sich dabei an ebenso beliebige Menschen wenden. In jedem Programm, das im Fernsehen ausgestrahlt wird, finden wir Anwendungen der künstlerischen Techniken der „Demokratisierung“, aber sie sind kraftlos, weil ausschließlich auf die Produktion eines Marketingsubjekts ausgerichtet: Künstler, Sportler, Schriftsteller, Koch, Philosoph, Herr Allerwelt, Rockstar etc. – sie alle begegnen sich auf ein und derselben Ebene einer „Gleichheit“, die von Journalisten, deren Macht sich unaufhörlich ausdehnt, aufgezogen, konstruiert und gelenkt wird.
Die Gleichheit von wem auch immer mit wem auch immer, die Gleichheit von was auch immer mit was auch immer, die das subversive Programm der Gegenwartskunst bildeten – sie finden sich durch Fernsehen, Marketing und Werbung in eine Übersetzbarkeit und warenförmige Austauschbarkeit aller Differenzen, aller Semiotiken, aller Formen von Subjektivität transformiert, die dem Prinzip des „Anything goes“ folgt.
Die Kulturpolitiken hingegen zeigen die Tendenz, die Wesensdifferenzen und Disziplinengegenüberstellungen von Kunst und Nicht-Kunst, KünstlerIn und Nicht-KünstlerIn erneut aufzurichten. Sie zwecken auf die Wiederherstellung der Evaluationskriterien (wer ist KünstlerIn, was ist Kunst?) ab, die dem Staat und den Kulturinstitutionen im 20. Jahrhundert entglitten sind, sowie auf eine Professionalisierung von KünstlerInnen und TechnikerInnen, die sich durch die Einrichtung von Diplomen und Selektionen einstellen soll. Nach ’68 hatte die Zurückweisung der künstlerischen Exzellenz und ihrer Kriterien sehr viel weitere Kreise gezogen als nur jene, die auf die Gegenwartskunst beschränkt blieben. Die Intermittents du spectacle und ihre Praxen sind eine der Manifestationen dieser Entwicklung. Dieser Prozess der Delegitimierung einer Bewertung seitens der Institution und des Staates bildet einen Widerhall des von Duchamp formulierten Standpunkts. „Wer ist Künstler? Jede Person, die behauptet, es zu sein?“, wird er in einem 1966 publizierten Interview gefragt. „Natürlich bricht Duchamp in Lachen aus“, vermerkt sein Interviewer, und, gepaart mit Duchamps gewohnheitsmäßigem Humor, erklingt die Antwort: „Heute, denke ich, sollte die Antwort lauten: Ja!“
Nicolas Sarkozy arbeitet daran, erneut in den Griff zu bekommen, was dem Staat und den Kulturinstitutionen entglitten war; soeben (im Januar 2009, bei Gelegenheit der Glückwünsche, die der Präsident der Republik der Kulturwelt zukommen ließ) hat er die Schaffung eines „Rates für künstlerisches Schaffen“ angekündigt, dem er selbst gemeinsam mit der Kulturministerin, Christine Albanel, vorsitzen wird und dessen Leitung dem Kinoproduzenten Marin Karmitz anvertraut werden soll. Der Aufgabenkatalog dieses Rates für künstlerisches Schaffen sieht insbesondere vor, dass „die Unterstützungsleistungen wieder auf die künstlerische Exzellenz ausgerichtet werden“ und dass davon ausgehend Ordnung in die „ Anhäufung von Subventionen“ gebracht wird,. Einen Tag nach der Ankündigung Sarkozys bekannte sich Marin Karmitz in einem Interview zur Notwendigkeit, wieder eine Staatskultur aufzubauen. Der Staat solle die Evaluationskriterien wiederherstellen, die den guten Künstler vom schlechten Künstler trennen. Eben darin hatte bereits das Programm von Aillagon
Die „ästhetischen“ Politiken der Exzellenz gehen mit einer Wirtschaftspolitik einher, die die wachsende Zahl von in den Arbeitsmarkt eintretenden KünstlerInnen aufteilt in eine gute bezahlte „Elite“, welche über gute Beschäftigungsbedingungen und eine gute Arbeitslosenabsicherung verfügt, sowie eine Masse von hochgradig prekarisierten KünstlerInnen. Ästhetische und ökonomische Exzellenz wirken zusammen, insbesondere wenn es um die Zerschlagung jener Form einer Erweiterung künstlerischer Praxen geht, die von der Intermittence-Regelung auf ihre Weise repräsentiert wurde.
Diese Logiken werden bei weitem nicht nur im Kunst- und Kultursektor zur Anwendung gebracht. Die gleiche Art von Restrukturierungsprozessen, wie wir sie im Kulturbereich beobachten können, entwickelt sich in Frankreich auch in der Forschung und an den Universitäten, und zwar mit den gleichen Zielen: Reduzierung der Posten für Lehrende und ForscherInnen, Einführung des Wettbewerbs zwischen ForscherInnen wie auch zwischen Universitäten sowie die erneute Übernahme der institutionellen Kontrolle über die Evaluation und Bemessung der Leistung der ForscherInnen, mit Blick auf den Aufbau von wissenschaftlichen Exzellenzbereichen. Seit Monaten stemmt sich, unter großer Beteiligung, ein Streik der Lehrenden und ForscherInnen gegen den politischen Willen der Regierung, die Forschung nach Art eines Motors der Ökonomie zu lenken, unter Einsatz von Managementtechniken und Leistungsindikatoren, die von der Unternehmenswelt auf jene der Labore und Universitäten übertragen werden. Die französische Regierung tut dabei nichts anderes, als die Lissabon-Strategie auf den Buchstaben genau umzusetzen.
Die Europäische Kommission betrachtet die Forschung als einen Ort der Produktion von patentierbaren Innovationen und geistigem Eigentum. Die Zeiten, in denen das im akademisch-wissenschaftlichen Bereich erworbene Wissen traditionell ein offenes, allen zur Verfügung gestelltes Erbe darstellte, gehören der Vergangenheit an …
Das „eigentliche Ziel der öffentlichen Forschung beschränkt sich nicht mehr auf die Produktion wissenschaftlicher Kenntnisse, sondern umfasst heute auch die Förderung der konkreten Verwertung der Forschungsergebnisse. Aber diese Verwertung hat in einer Marktwirtschaft zwangsläufig eine wirtschaftliche Dimension“
So wie im Kulturbereich die Anpassung an die ökonomische Logik der Kulturindustrien danach verlangt, dass KünstlerInnen und TechnikerInnen in UnternehmerInnen ihrer selbst verwandelt werden, so begegnen wir auch in der Forschung einer neuen Figur, nämlich jener der „Forscher-Unternehmer“
Die Zerstörung der Zeit
Die ökonomischen und kulturellen Strategien, die die Welt von Kultur und Kunst durchdringen, laufen in ein und derselben Zielsetzung zusammen, die in allen anderen Wirtschaftsbereichen wiederzufinden ist: der Kontrolle der Zeit. Die Zeit vereinheitlichen und homogenisieren, um die Subjektivität zu vereinheitlichen und zu homogenisieren. Die Verarmung der Subjektivität ist zuallererst eine Verarmung der Zeit, eine Neutralisierung der Zeit als Quelle der
Veränderung, der Metamorphose, der Erschaffung von Möglichkeiten. Der Konflikt der Intermittents ist in dieser Hinsicht beispielhaft.
Im Zuge der Forschungsarbeit, die wir in den Jahren 2004/2005 über die Arbeits-, Beschäftigungs- und Arbeitslosigkeitsverhältnisse der Intermittents durchgeführt haben, sagte uns ein Musiker, dass sich der Konflikt um die Arbeitslosenversicherung der Intermittents seiner Ansicht nach um die Zeit drehe. Seine Ausführungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: „Die Arbeitslosenversicherung gibt uns keine Ausgleichszahlungen, sie gibt uns Zeit.“
Was dieser Intermittent zum Ausdruck bringt, ist die Umkehrung der kapitalistischen Formel „Zeit ist Geld“ in die Formel „Geld ist Zeit“; ganz im Sinne von Duchamps Aussage: „Mein Kapital, das ist die Zeit, nicht das Geld.“
Um etwas herzustellen, sei es ein Theaterstück, ein Film, eine Lebensform oder eine politische Handlung, brauchen wir „Zeit“ als grundlegenden Rohstoff. Die unausgefüllten Zeiten, die Zeiten der Unterbrechung und des Bruchs, die unverzweckten Zeiten und die Zeiten des Zögerns, die jeglicher Art von künstlerischer, sozialer oder politischer Produktion zugrunde liegen, sind genau die Zeiten, die durch die neoliberalen Politiken neutralisiert werden. Die einzige Zeitlichkeit, die diese Politiken kennen und anerkennen, ist jene der Beschäftigung und der Suche nach Beschäftigung.
Die Frage der Zeit stellt einen wichtigen Teil der Beunruhigung der Intermittents dar. Denn die Regeländerung bezüglich der Entschädigungsleistungen, die sie dazu drängt, „die ganze Zeit zu arbeiten“, im Übrigen ohne dass Stellen verfügbar wären (so wenig wie im Rest des Wirtschaftslebens), bringt als erste Konsequenz den Umstand mit sich, dass man „keine Zeit mehr hat“. Dieser Mangel an Zeit, der durch die Notwendigkeit erzeugt wird, sie in die Beschäftigung zu investieren, bedeutet – ganz im Gegensatz zur berühmten Devise des Präsidenten der französischen Republik: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“ – zugleich eine ökonomische und eine subjektive Verarmung, die der künstlerische Praxis ihre Bedingungen auferlegt und sich in ihrer Vereinheitlichung und Homogenisierung ausdrückt.
Die Kulturpolitiken zielen auf eine Normalisierung der Zeit der künstlerischen Produktion ab (Professionalisierung der Sparten und der Produktion), während die Sozialpolitiken eine Normalisierung der Zeit der „Arbeitslosigkeit“ bezwecken, indem sie diese ausschließlich auf die Arbeitssuche oder die Weiterbildung im Hinblick auf eine eventuelle Beschäftigung reduzieren. Was die Logik des neoliberalen Kapitalismus „tote Zeiten“ nennt, sind in Wirklichkeit „lebendige Zeiten“, Zeiten der Kreation von etwas Neuem. Diese Zeitkonzeption bildet einen Hauptwiderspruch des sogenannten kognitiven Kapitalismus, des kulturellen Kapitalismus, der Kreativindustrien bzw. der sogenannten Wissensgesellschaft, zumal deren Betrachtung der „unverzweckten Zeiten“ als „tote Zeiten“ eben das eliminiert, was doch die Quelle ihres Werts sein sollte: die Kreation. Die Jagd auf all diese „toten Zeiten“, Zeiten der Unterbrechung, unausgefüllten Zeiten und Zeiten des Zögerns, bringt es mit sich, dass „man niemals in der Gegenwart ist“, nämlich in der Gegenwart der Kreation, dass man also niemals in der Zeit ist, in der etwas entstehen könnte und in der sich etwas tun ließe, sondern in einer leeren Gegenwart, die bis ins Unendliche das Gleiche wiederholt.
Der kognitive Kapitalismus und die Kreativindustrien sind im buchstäblichen Sinne Systeme einer „Antiproduktion“, und die gegenwärtige Krise ist die eklatanteste Demonstration ihrer destruktiven Macht.