Vortragstext: #AccumulatePleasureMax - Neurath im Informationszeitalter

Dieser Technopolitics Salon unter dem Titel #AccumulatePleasureMax - Neurath im Informationszeitalter geht der Frage nach, wie sich die Ideen des Philosophen und Ökonomen Otto Neurath ins Informationszeitalter übertragen lassen. Im Zentrum steht dabei die gemeinsam mit Marie Reidemeister und Gerd Arntz entwickelte Methode ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education) auch bekannt als die Wiener Methode der Bildstatistik. In diesem Artikel, der die Grundlage meines Vortrags am 04. September 2015 bildete, stelle ich einige Querverbindungen zu den anderen großen Themengebieten her, mit denen sich Neurath beschäftigte.

Neurath war Mitglied des Wiener Kreises, ein Zirkel hochkarätiger Intellektueller, die heute vor allem als Gründer einer neopositivistischen Wissenschaftsphilosophie und Erkenntnistheorie bekannt sind. Neurath war auch Ökonom und beschäftigte sich lange Zeit intensiv mit dem Problem der sozialistischen Wirtschaftsrechnung. Einige der Kreuzungspunkte dieser Linien möchte ich im Folgenden zusammenführen.

Gerin Trautenberger, Organisator von ViennaOpen, ist zu verdanken, dass er mit der Titelwahl „Pleasure Maximum“ an Neuraths Idee für ein Maximum der Lust (oder auch des Glücks oder Wohlergehens) erinnerte, und damit an eine extrem zeitgemäße Idee. Wir, d.h. Technopolitics knüpfen mit dem Hashtag #AccumulatePleasureMax daran an. Es ist eine Forderung, die wir gerade auch in neoliberalen Zeiten wie diesen aufrecht halten müssen, dass das größtmögliche Glück für Alle die Maxime sein sollte. Interessanterweise gibt es alle paar Jahre Wiederentdeckungen Neuraths, vor allem auf der Basis der bildstatistischen Methode. Dabei werden jedoch häufig die anderen Aspekte seiner Arbeit ausgeblendet. Umso wichtiger ist es, diese Zusammenhänge wieder herzustellen.

Meine erste Begegnung mit Neurath erfolgte im Philosophiestudium Anfang der 1980er Jahre in Graz, das eine starke Ausrichtung auf analytische Philosophie hatte. Der damalige Leiter des Philosophieinstituts, Rudolf Haller, war gemeinsam mit Robin Kinross Herausgeber des deutschsprachigen Standardwerks zur bildstatistischen Methode, der Band Otto Neurath: Gesammelte bildpädagogische Schriften.1

In meinen Einführungsvorlesungen in die Philosophie wurde Neurath als Mitglied des Wiener Kreises präsentiert. Hervorgehoben wurde die stark anti-metaphysische Ausrichtung dieser Denkrichtung, die auch als logischer Empirismus bezeichnet wird. Viele Fragestellungen der klassischen, d.h. vor allem deutschen idealistischen Philosophie wurden als Scheinfragen entlarvt. Dazu wurden die Mittel der Logik und der Sprachphilosophie herangezogen. Philosophische Aussagen wurden mit scheinbar simplen Fragen konfrontiert wie „was genau meinen Sie damit“ und „wie können Sie das wissen.“ Viele der vom deutschen Idealismus geerbten Probleme der Philosophie, vor allem Kants, lösten sich damit in Luft auf. Die Radikalität der anti-metaphysischen Stoßrichtung mündete zu Aussagen wie jener Ludwig Wittgensteins: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Nur Fragen, die auch eine sinnvolle Antwort zuließen, sollten gestellt werden.

Was uns im Grazer Proseminar damals nicht gesagt wurde, war, wie eng dieses Gedankengut mit einer linken, materialistischen Weltanschauung zusammenhing. Es wurde zwar erwähnt, dass Neurath Marxist war, aber so getan, als sei er das einzige offen linke Mitglied des Wiener Kreises gewesen und obendrein habe das keine Rolle für die Entwicklungslinien seines philosophischen Denkens gespielt. Der Text Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis, verfasst von Hans Hahn, Rudolf Carnap und Otto Neurath gilt allgemein als das Manifest des Wiener Kreises. Dort heißt es:

„Die Lebensintensität, die in den Bemühungen um eine rationale Umgestaltung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sichtbar ist, durchströmt auch die Bewegung der wissenschaftlichen Weltauffassung.“2

Für die Mitglieder des Wiener Kreises war der Kampf gegen den Irrationalismus in der Philosophie auch ein Kampf gegen rechte Ideologien, deren Aufstieg sie mit ansehen mussten und deren Opfer sie bald werden sollten. Neben Moritz Schlick, der ermordet wurde, sahen sich alle Mitglieder des Wiener Kreises gezwungen 1934, oder spätestens 1938 aus Österreich zu emigrieren. Es ist gerade dieser Emigrationsbewegung zu verdanken, dass der logische Positivismus und die analytische Philosophie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer international wichtigen philosophischen Strömung werden konnten. Umgekehrt betrachtet, hatten nur wenige der Mitglieder des Wiener Kreises in Wien eine Professur oder einen Lehrstuhl inne.3 Wien brüstet sich zwar heute gerne mit dem Wiener Kreis, viele dessen Mitglieder waren damals verkannt, und wären verkannt geblieben, wären Faschismus und Krieg nicht passiert. Nach dem Krieg hat das offizielle Wien nie etwas unternommen, um sie zurückzuholen – soviel zur „besten Stadt der Welt.“

Neurath und seine Ko-Autoren des Manifests waren überzeugt, dass die Anstrengung „den philosophischen Schutt der Jahrtausende“ wegzuräumen, in enger Korrespondenz damit stand, sozialistischer Gesellschaftsreform zum Durchbruch zu helfen. Für sie waren die Gegner des Programms einer wissenschaftlichen Weltauffassung auch die Gegner sozialistischer Gesellschaftsveränderung.4 Man wollte die rationalen Werkzeuge schaffen, mit denen eine neue Einheitswissenschaft geschaffen werden sollte. Diese Einheitswissenschaft, dachten die Mitglieder des Wiener Kreises, könnte zur Grundlage der Weltanschauung der Arbeiterbewegung werden. Von der dünkelhaften Halbgebildetheit des Bürgertums unverdorben, würde sich die Arbeiterbewegung einer rationalen Weltauffassung zuwenden, deren wichtigstes Ziel es war, die Zustände im Hier und Jetzt zu verbessern, und nicht über unergründliche Dinge zu räsonnieren. Diese Zielsetzung brachte dem logischen Empirismus nicht nur erwartbare Kritik von rechts ein, sondern auch von der linken Orthodoxie. Moskau verurteilte den Neopositivismus als „Waffe der modernen Bourgeoisie im Kampf gegen die Kräfte des Fortschritts, der Demokratie und des Kommunismus.“5

Wie Johann Dvorak schrieb, bestand der wahre Radikalismus der wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises nicht in der engen Anlehnung an neueste physikalische Erkenntnisse, etwa in der Quantenphysik, „sondern in der Neubestimmung der gesellschaftlichen Stellung und Aufgaben der Wissenschaft, in dem Versuch einer radikalen Demokratisierung der Wissenschaft, einer systematischen Verbindung von Wissenschaft, Bildung und Alltagsleben.“6. Diesem Programm fühlten sich alle Mitglieder verpflichtet, d.h. neben den „radikalen“ wie Neurath, Hahn, Zilsel und Carnap auch die gemäßigten wie Schlick und die apolitischen wie Popper und Wittgenstein. Sie alle waren in Projekten zur Volksbildung tätig, engagierten sich für Schulreformen, viele von ihnen hielten Vorträge an der Volkshochschule.7

Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es etwas unglücklich, wenn nicht gar verwunderlich wenn Robin Kinross in seiner Einleitung zu den bildpädagogischen Schriften schreibt:

„Wenn man Neuraths Werk als Ganzes übersieht, so verringert sich die Versuchung, irgendeine Sonderverbindung zwischen Aspekten der Philosophie des Wiener Kreises und dem Versuch, eine Bildersprache zu schaffen, vorauszusetzen. Man kann dazu vermerken, dass Neurath selbst einen solchen Zusammenhang nicht erwähnt hat und daß die übrigen Mitglieder des Wiener Kreises und später der Bewegung für Einheitswissenschaft kein besonderes Interesse für seine visuelle Arbeit gezeigt haben.“8

Diese Feststellung scheint gewagt und von den Fakten nicht gestützt. Trotzdem hat die Entkoppelung der verschiedenen Arbeitsgebiete Neuraths sich langfristig in der Rezeption durchgesetzt, ebenso wie die Entpolitisierung des demokratiepolitschen Anspruchs des logischen Empirismus. Es ist festzuhalten, dass im Roten Wien der 20er Jahre Sozialismus und wissenschaftliche Weltauffassung als eng zusammengehörig gedacht wurden. Neurath war überzeugt, dass das Proletariat Träger einer antimetaphysischen Weltauffassung werden würde. Diese Verbindung zwischen linker Politik und wissenschaftlicher Weltauffassung wurde jedoch von der Nachkriegsgeneration durchbrochen. Das Material dazu lieferte ausgerechnet die Frankfurter Schule oder kritische Theorie. Zunächst hatte die Frankfurter Schule, allen voran Max Horkheimer, noch Interesse am Wiener Kreis gezeigt. In den dreißiger Jahren jedoch verfasste Horkheimer eine vernichtende Kritik. Der logische Empirismus sei ein „Verzicht auf Vernunft.“ Indem man nur das gelten lasse, was sich über die unmittelbare Erfahrung erschließe werde die Philosophie „zur Dienstmagd für die je geltenden Zwecke der Industriegesellschaft.“9 Mit der Ablehnung großer Teile der Philosophiegeschichte, der Verneinung der Tiefe und des Grunds, sowie der Betonung der Oberfläche mache sich der logische Empirismus sogar zum Handlanger faschistischer und stalinistischer Systeme, argumentierte der spätere Ko-Autor des Buchs Dialektik der Aufklärung (1944). Diese Thesen Horkheimers – und auch der durch Faschismus und Krieg erzwungene Bruch einer Tradition, die linkes Denken und Wissenschaftlichkeit in eins setzt – wurde in den späten 1960er Jahren zum Standardrepertoire der deutschen und österreichischen Studentenschaft, und dabei blieb es lange Zeit. Linke Kritik verarmte zur eindimensionalen und undialektischen Technik-Schelte. Erst mit der Netzkultur der 1990er Jahre sollte sich das wieder ändern, mit Linux und Open Source, Freier Hardware, freien Netzen und der copyleft und Commons-Bewegung.

1925 begann Neurath mit seiner Arbeit am Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. Praktisch von Beginn an war auch Marie Reidemeister dabei, spätere Marie Neurath. Zunächst in Zusammenarbeit mit verschiedenen Grafikern wurde die bildstatistische Methode entwickelt. Neurath war überzeugt, dass unter den Bedingungen komplexer Industriegesellschaften eine neue Form von Literacy gefragt sei. Die Arbeiterschaft müsse, um in die Lage zu kommen, sich selbst zu emanzipieren, ein höheres Maß an ökonomischer „literacy“ entwickeln. Schreiben und die Grundrechenarten genügten nicht mehr. Ein Verständnis der Welt erforderte auch eine Durchdringung der herrschenden politischen Ökonomie.

Neurath argumentierte, dass der moderne Mensch nur einen Teil seiner Information durch geschriebene Worte erlange. Immer mehr wichtige Informationen würden durch eine Flut visueller Eindrücke vermittelt. Dazu kämen der Film und der Rundfunkapparat, später das Fernsehen. Neurath sprach oft von Hieroglyphen. Die von einem Team unter seiner Leitung entwickelten Piktogramme seien wie eine neue Bilderschrift. Diese reduzierten Bildsymbole sollten genau festgelegten Gesetzmäßigkeiten folgend in Anwendung gebracht werden, um statistisch ausdrückbare Verhältnisse darzustellen. 1926 lernte Neurath bei einer Ausstellung den deutschen Grafiker Gerd Arntz kennen. Andreas Siekmann, von dessen Vortrag ich hier nichts vorwegnehmen möchte, betont die Unterschiede des Ansatzes. Arntz hatte selbst eine vereinfachte grafische Sprache erarbeitet, um gesellschaftliche Konflikte darzustellen. Sein Ansatz war jedoch weniger auf Piktograme fixiert, sondern darauf, mit schattenrissartigen Hintergrund-Vorderrundkontrasten Narrative Herzustellen. Ab 1928 arbeitete Arntz mit Neurath in Wien und blieb bis 1940 bestimmend für den grafischen Stil der Isotype.

Anfang der 2000er Jahre gab es eine vom Medienphilosophen Frank Hartmann und Grafiker Erwin K. Bauer organisierte Konferenz zur Neurath/Arntz-Methode in Wien, an der ich selbst teilnahm. In dem Text und der Publikation „Bildersprache“10 kontextualisiert Hartmann die ISOTYPE – inspiriert von Marshal McLuhan und Vilem Flusser – vor allem im Kontext des Medienwandels. Die Bildersprache wird im Kontext einer Pendelbewegung gesehen: von den Hieroglyphen und der mittelalterlichen Ikonenkultur zur Gutenberggalaxis mit ihrer Linearität; und nun dank der digitalen Medien und des Internet wieder hin zu einer neuen, visuellen Kultur. Für Hartmann war das wiedererwachte Interesse an ISOTYPE Teil eines größeren Iconic Turn. Sein Text, der durchaus als Referenztext angesehen werden kann, teilt Seitenhiebe gegen die deutsche Medienarchäologie – gemeint ist damit wohl vor allem Friedrich Kittler11 – aus, ebenso wie gegen den technologischen Determinismus von Howard Rheingold. Die ökonomische Ideen Neuraths und seine gesellschaftspolitischen Motivationen werden zwar erwähnt, dennoch läuft Hartmann selbst Gefahr, zum Unterschied vom technologischen Determinismus Kittlers einem medialen Determinsmus aufzusitzen. In der McLuhan-Flusser Denkrichtung wird medialer Wandel als primäre Quelle sozialen Wandels gesehen und die politischen Spannungen und Widersprüche vernachlässigt. Die Geschichte wird zu einer einzigen Folge medialer Innovationen, von den babylonische Tontafeln zu den Hieroglyphen zum Alphabet zum Buchdruck und schließlich Radio, Fernsehen und Internet. Es ist richtig dass diese Medien einen Einfluss auf Denkweisen haben, und dieser Anstoß von McLuhan und der Torontoer Schule war zweifellos wichtig. Problematisch wird es aber, wenn alle anderen Faktoren ausgeblendet werden.

Otto Neurath war als Sozialist ein Leftwinger. 1918 bis 1919 war er in der Regierung der Bayerischen Räterepublik für Wirtschaftsfragen zuständig. Unter Berufung auf Marx und Engels wollte er das Geld abschaffen und eine zentral gesteuerte Plan- und Naturalwirtschaft einrichten. Außerdem sollte die gesamte Wirtschaft binnen 5 bis 10 Jahren vergesellschaftet werden. Dazu kam es aber nicht, die Räterepublik wurde gewaltsam niedergeschlagen, Neurath wegen Hochverrats angeklagt und entging der Haft nur durch die Intervention führender österreichischer Sozialdemokraten wie Karl Kautsky. Nach seiner Rückkehr nach Österreich beschäftigte sich Neurath eine Zeit lang weiter intensiv mit dem Problem der sozialistischen Wirtschaftsrechnung, einer Debatte, die damals in Wien intensiv geführt wurde, unter Beteiligung von Personen wie Helene Bauer und Karl Polanyi, aber auch der Gegenseite, vertreten durch Ludwig von Mises.12

Neurath war überzeugt, dass eine zentral geplante Naturalwirtschaft nicht nur möglich, sondern der Marktwirtschaft überlegen sei. Neurath argumentierte, dass die enge Fokussierung auf die Preisbildung durch Angebot und Nachfrage allzu viele Faktoren außer Acht lasse. Die Rechenmethode nach dem Geldsystem sei zwar präzise in Bezug auf den errechneten Preis, würde aber nichts über den wahren Wohlstand der Menschen aussagen, nichts über den Gebrauch der von den Rohmaterialien gemacht werde, nichts über den Anstieg und Fall der Todesraten und der Krankheiten oder darüber, ob es den Menschen besser oder schlechter gehe. Neurath erwähnte die Erschöpfung der Kohleminen, die Verkarstung der Gebirge und andere Umweltfaktoren. In einer sozialistischen Gesellschaft sollten alle Faktoren berücksichtigt werden, die für das Wohlergehen der Menschen von Bedeutung seien und durch eine Zahl repräsentiert werden. Eine Veränderung des Plans würde in einer anderen Zahl resultieren und so könne die höchste Lebensqualität erzielt werden.13

Kurzfristig trug die neoklassische Ökonomie den Sieg davon. Ludwig von Mises nutzte die Löcher in Neuraths Argumentation um zu beweisen, dass zentral gesteuerte Planwirtschaft auf der Basis von Naturalien der Marktwirtschaft unterlegen sei. Die Mängel im sowjetischen System, etwa lange Schlangen vor Milch- und Brotgeschäften in den 1970er und 1980er Jahren wurden als weiterer Beweis für die Unterlegenheit der Planwirtschaft gesehen. Viele der Ideen Neuraths aber erleben heute ein Comeback durch die Sozialökonomie. In den 1970er Jahren haben William Nordhaus und James Tobin ein Measure of Economic Welfare entwickelt. Davon abgeleitet, wurde ein Index of Sustainable Economic Welfare entwickelt. Dabei werden alle diese Dinge berücksichtigt, die von der Marktlehre als Externalitäten behandelt werden, wie die Einkommensgerechtigkeit, unbezahlte Arbeit in Erziehung, Pflege, Fürsorge, Bildung, Luftverschmutzung und andere Umweltressourcen und die Folgen für den Klimawandel.

Anders als der englische Neurath-Experte Kinross behauptet, stehen Neuraths ökonomische Konzepte, seine wissenschaftstheoretischen Überlegungen und seine Arbeit mit der bildstatistischen Methode sehr wohl in einem Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist kein logischer oder kausaler sondern existiert in Form der zugrundeliegenden gemeinsamen Intention und Motivation. Neurath und der Wiener Kreis verfolgten das Ziel einer Einheitswissenschaft auf physikalischer Grundlage. Vor allem Neurath leitete daraus die Notwendigkeit der Entwicklung einer Enzyklopädie der Einheitswissenschaft ab. Mit Hilfe der ISOTYPE wiederum sollte ein visueller Thesaurus für die Enzyklopädie geschaffen werden. Ab 1930 verstand Neurath diese Idee – die Enzyklopädie und der visuelle Thesaurus – zusehends als seine philosophische Lebensaufgabe. Das gab der Bedeutung der Philosophie als Disziplin eine neue Wendung. Ähnlich wie Carnap und Wittgenstein dachte Neurath, Aufgabe der Philosophie sei es nicht, allgemeingültige Sätze zu formulieren, sondern betrachtete diese als eine Tätigkeit: Philosophieren als organisieren, als Erledigung jener Aufgaben, die gelöst werden müssen, wenn man Wissenschafter und das Wissen verschiedener Disziplinen zusammenführen will.14 Aus den Philosophen werden „einfache Hilfsarbeiter bei der Lösung der Lebensrätsel.“15

Das Enzyklopädie-Projekt solle eine Art Portal werden, ein „institutionell-publizistischer Ort,“ an dem die Probleme interdisziplinärer Zusammenarbeit gelöst werden können. Dazu zählten u.a. auch die Bemühungen ein Basic-Scientific English zu entwickeln. Doch für Neurath war keines dieser Einzelprojekte ein Fetisch. Das Enzyklopädie-Projekt war seinem Charakter nach kollektivistisch, systematisch inter- und transdisziplinär. Die Erkenntnisse waren immer nur provisorischen Charakters, prinzipiell revidierbar, und das Projekt hatte einen volksbildnerischen Charakter. So werde man zwar nicht unbedingt die breite Masse damit erreichen, aber immerhin jene, welche die breite Masse erziehen. Bis zuletzt sah sich Neurath als „social engineer of collective happiness.“

Die Idee einer Einheitswissenschaft im Dienst des allgemeinen Glücks führte zur Idee der Museen der Zukunft und zu breit gefächerten, internationalen Kooperationen. Neurath betonte explizit den Plural in Museen der Zukunft. Diese sollten hergestellt werden wie Bücher, in Serie gefertigt. Die Museen der Zukunft sollten „von den Interessensvertretern der Museumsbesucher organisiert werden, und nicht von Spezialisten, die ausstellen, was sie für richtig halten.“16. Die Grundfrage, die Neurath bezüglich der Museen der Zukunft bewegte war, wie soziale Beziehungen gezeigt werden können. Das berührte eine Reihe von Grundfragen der bildstatistischen Methode: was ist es wert, gezeigt zu werden und wie lässt es sich zeigen? Vor allem: welche aussagekräftigen Datensätze gibt es und wie lassen sich diese in eine grafische Darstellung überführen. Dieser Arbeitsschritt wurde Transformation genannt, und hauptsächlich von Marie Neurath ausgeführt. Ich habe selbst 2003/4 einen Versuch unternommen, mit der bildstatistischen Methode zu arbeiten, und musste schnell herausfinden, wie schwierig es ist. (Siehe Beispiel mit Yippieyeah Gunnar Baur und Tina Borkowski).

Ende der 1920er Jahre begann das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum eine Kooperation mit dem 1910 gegründeten Mundaneum von Paul Otlet gemeinem mit dem Friedensnobelpreisträger Henri La Fontaine. Das Mundaneum, gegründet unter dem Namen Palais Mondial, stellte sich zur Aufgabe, das gesamte publizierte Wissen der Menschheit in einem zentralen Karteikartenregister zugänglich zu machen. Otlet und La Fontaine hatten schon Ende des 19. Jahrhunderts das Universal Decimal Classification System entwickelt, ein Zahlensystem zur Indizierung von Büchern, das in vielen Bibliotheken bis heute in Gebrauch ist. Bis Ende der 1930er Jahre htte dieser Index 12 – 15 Millionen Karteikarten.17 Otlet und Neurath verfolgten das Ziel, einen Internationalen Zivilisationsatlas – Orbis, zu entwickeln. Laut Neurath wurde ihnen dazu von der Internationalen Vereinigungen der Pädagogischen Organisationen in Genf ein Auftrag verliehen.

Otlet selbst war ein belgischer Pionier der Wissensorganisation, der in den letzten Jahren eine späte Anerkennung findet. Schon 1908 visionierte Otlet, dass Wissen über drahtlose Wellen kommuniziert werden könne. Otlet's Vorstellungen über das Mundaneum umfassten nicht nur den Karteikartenindex, sondern auch ein Weltmuseum, ein Weltarchiv, eine Weltuniversität und ein Welthauptquartier für Internationale Organisationen. Das Mundaneum war somit nicht nur ein Gebäude sondern auch eine architektonische Metapher für die Wissensarchitektur, und an dieser Stelle treffen Neuraths und Otlets Vorstellungen zusammen.18 Die Brüsseler Künstlergruppe Constant beschäftigt sich seit Jahren mit Otlet und dem Mundaneum und wir wollten eigentlich Femke Snelting oder jemand anderen von Constant einladen, aber die sind im Augenblick selbst mit einer Veranstaltung beschäftigt, in Mons, Kulturhauptstadt und auch der Ort, wo sich heute das Mundaneum befindet.

Als Genf zum Sitz der Leage of Nations (Vorläufer der UNO) wurde, wollte Otlet das Mundaneum dorthin verlagern und dafür Le Corbusier beauftragen (vgl. Van den Heuvel). Otlet beschäftgte sich intensiv mit der Frage, wie Wissen mit anderen Methoden als in Büchern gespeichert und verbreitet werden könne. Schon 1913 schuf er zusammen mit Patrick Geddes in Edinburgh eine Encyclopedia Synthetica Schematica, eine visuelle Enzyklopädie. 1934 und dann nochmal 1943 ermöglichte es der technische Fortschritt Otlet seine Ideen eines drahtlos vernetzten Mundaneums zu spezifizieren (Ibid.). Denken wir das zusammen mit der Aussage von Neurath:

„Die Museen der Zukunft sollten auf alle Fälle nicht so sein wie ich sie gerne haben möchte, sondern wie die Besucher und Benutzer sie sich wünschen würden, sofern sie wüßten, was ein Museum ausmacht.“19

Es ist unschwer zu sehen, dass die von Neurath gemeinsam mit Paul Otlet ausgearbeiteten Ideen für ein Universalmuseum, das mit einer neuen Wissensarchitektur ausgestattet sein sollte, als Vorläufer des WWW im allgemeinen und der Wikipedia im besonderen verstanden werden kann.

In diesem Sinn bietet der Abend keine Wiederaufbereitung von Neuraths Ideen, sondern nimmt Neurath als Ausgangspunkt und Orientierungshilfe für neue Projekte. Es werden drei Projekte vorgestellt und diskutiert, die bei aller Unterschiedlichkeit bestimmte Querbeziehungen aufweisen.
Eine Leitidee Neuraths wird aufgegriffen, derzufolge es nicht genügt allein darzustellen was man bereits weiß, sondern dass Methoden wie die Bildstatistik Werkzeuge des Denkens sind. Ein weiterer Leitgedanke ist jener, dass es falsch ist zu behaupten, die Zusammenhänge der politischen Ökonomie seien zu komplex um dargestellt werden zu können – und das insbesondere im Zeitalter globalisierter Finanzmärkte. Es ist sehr wohl möglich, die Machenschaften der neoliberalen Eliten darzustellen. In diesem Sinn freuen wir uns auf die Präsentation von Andreas Siekmann über seinen Politischen Konstruktivismus, die wir als nächstes hören werden. Das derzeitige vorherrschende Paradigma der neoliberalen Informationsgesellschaft ist, erstens, nicht ohne Alternativen, und bietet zweitens trotz seines permanenten, krisenhaften Charakters, nach wie vor emanzipatorische Potenziale. Für diesen Aspekt soll die Arbeit von Marcell Mars mit dem Public Library Projekt als Beispiel dienen. Nicht zuletzt werden wir, im Anschluss an dieses Panel, unser Projekt Tracing Information Society vorstellen.

  • 1. Neurath, Otto. Gesammelte bildpädagogische Schriften. Rudolf Haller und Robin Kinross, Hg. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 1993.
  • 2. Stadler, Friedrich, ed. Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis.  | Springer. Vol. 3. Veröffentlichungen Des Instituts Wiener Kreis. Wien: Springer-Verlag, 2012. http://www.springer.com/us/book/9783709111277.
  • 3. Hegselmann, Rainer. “Otto Neurath, der Wiener Kreis und das Projekt einer empiristischen Aufklärung.” In Neurath, Gramsci, Williams: Theorien der Arbeiterkultur und ihre Wirkung, Herausgegeben von Ursula Apitzsch, 13–36. Hamburg: Argument-Verlag, 1993, 32-33.
  • 4. Hegselmann 1993, 23
  • 5. Akademie der Wissenschaften der UdSSR, zitiert von Dvorak, Johann. “Wissenschaftliche Weltanschauung, Marxismus und Arbeiterbildung im Wien der zwanziger und frühen dreißiger Jahre.” In Neurath, Gramsci, Williams: Theorien der Arbeiterkultur und ihre Wirkung, Herausgegeben von Ursula Apitzsch, 37–51. Hamburg: Argument-Verlag, 1993, 39.
  • 6. Dvorak 1993, 42
  • 7. Ibid.
  • 8. Kinross, Robin. „Einleitung,“ in: Otto Neurath: Gesammelte bildpädagogische Schriften. Rudolf Haller und Robin Kinross, Hg., IX-XXIII Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 1993.XIVfn9
  • 9. Max Horkheimer 1937, zitiert in Hegselmann, 1993, 13
  • 10. Hartmann, Frank, and Erwin K. Bauer, Hg. Bildersprache: Otto Neurath Visualisierungen. Wien: WUV, 2006.
  • 11. Hartmann, Frank. “Bildersprache.” In Bildersprache: Otto Neurath Visualisierungen, Frank Hartmann und Erwin K. Bauer, Hg., 14–105. Wien: WUV, 2006. 98
  • 12. Chaloupek, Günther. “Otto Neurath’s Concepts of Socialization and Economic Calculation and His Socialist Critics.” In Otto Neurath’s Economics in Context, edited by Elisabeth Nemeth, Stefan W. Schmitz, and Thomas E. Uebel, 61–76. Vienna Circle Institute Yearbook 13. The Hague: Springer Netherlands, 2007. http://link.springer.com/chapter/10.1007/978-1-4020-6905-5_4.
  • 13. vgl. Chaloupek 2007, 71
  • 14. Hegselmann 1993, 26
  • 15. Neurath zitiert in Hegselmann 1993, 26
  • 16. Otto Neurath, „Die Museen der Zukunft (1933),“ in: Neurath 1993, 244
  • 17. Hartmann 2006, 97
  • 18. van den Heuvel, Charles. “Architectures of Global Knowledge: The Mundaneum and the World Wide Web.” Destination Library 15 (2008): 48.
  • 19. Neurath 1933/1993, 244