Restlos out of Fashion

Tanja Brandmayr über ein stilles Schuhgeschäft an der lauten Alkovener Schnellstraße und darüber, warum sie beim Festival der Regionen dann doch keine Einreichung gemacht hat.

Zufälligerweise habe ich letztes Frühjahr an der Schnellstraße durch Alkoven eine kleine Entdeckung gemacht. Dass es sich um ein Schuhgeschäft handelt, tut hier nichts weiter zur Sache, außer dass es ein persönliches Faible für modisch-absurde Extravaganzen beschreibt, die sich hin und wieder in ländlichen Geschäften finden lassen – und die aufgestöbert werden wollen. Im besonderen Fall war es so, dass ich meinem Begleiter im Auto ein belangloses »Schau, schon wieder ein Leerstand« zuraunte, als wir gerade an besagtem Geschäft an der Schnellstraße vorbeischossen. Erstaunlich, wie schnell das Auge Eindrücke zusammenzählt, die in einem Moment gar nicht bewusst zu erfassen sind und die doch nicht ganz zusammenpassen: viele Dinge in der Auslage, schlechte Lage ab vom Schuss, verwaschene Farben, hohes Tempo beim Passieren, mehrere fehlende Neon-Buchstaben im Geschäftsnamen, verblichene Auslagen, dunkle Innenräume.
In ungewöhnlicher Frühlingshitze parkten wir dann doch vor dem Geschäft ein. Als ich die Auslagen inspizierte, sah noch immer alles geschlossen aus: Ausgebleichte Lederschuhe, alte Werbungen, die Kinderschühchen ganz hell vom vielen unberührt in der Sonne stehen, kein Licht innen. Als ich auf den Eingang zusteuerte, kam von meinem Begleiter in Anbetracht der allgemeinen Undefiniertheit der Lage, in dem Moment ein aufgeschrecktes »Nicht hineingehen!«, als sich die Tür unerwartet doch öffnen ließ. Dem Signalton der Tür folgte dann aus der Tiefe des Raumes eine leises »Ich komme gleich!«, als sich die Tür wieder schloss und den Straßenlärm aussperrte. Stille, ein Raum mit wenig Licht, Teppichböden, ornamentale Mustertapeten, viele Regale mit noch mehr Schuhen aus vergangenen Jahrzehnten – Damenschuhe, Kinderschuhe, Herrenschuhe, Riemchensandalen, Omaschlapfen, Plateaus, alles wie aus den 70ern oder 80ern. Und plötzlich ein alter Herr, der, gebückt am Stock gehend, langsam in den Raum steuert. Er fragt mich freundlich, was ich brauche, ich schaue herum und ein Gespräch ergibt sich. Er führe das Geschäft noch, um die bestehende Ware zu verkaufen, habe manches Mal Studentinnen, aber auch noch ein paar ältere Damen aus der Nachbarschaft als Kundinnen. Ich erfahre, dass er 85 ist, und dass er die schönen Schuhe, die Mode aus den vergangenen Jahrzehnten eher in kleineren Größen hat: Weil »du auf dem Land keinen Abverkauf machen kannst, und das dann halt bleibt.« Denn während der letzten dreißig Jahre habe sich nicht nur das Geschäftsleben verändert, noch dazu seien auch die Frauen größer geworden.
Seit letztem Jahr war ich dann immer wieder mal im Geschäft, habe ein paar Dinge gekauft, habe verschiedene Leute mitgebracht, die ihrerseits wieder ein paar Dinge gekauft haben und so nebenbei einiges über das lokale Schuhbusiness erfahren. Der alte Herr, nun schon 86, geht mittlerweile am Rollator durchs Geschäft, ganz langsam, und hat mir den guten Rat gegeben, »nicht schwer zu heben«, denn er habe das auch immer getan, und: »mit 80, 85 wirkt sich das dann halt aus« – weswegen er nun diese Gehhilfe brauche und mir diesen Tipp gebe. Die Gebrechlichkeit scheint dann aber wieder nur oberflächlich, wobei es aber schon mal so ist, dass man die Aufforderung bekommt, nächste Woche wiederzukommen, denn »bis dahin habe ich den zweiten Schuh zum Probieren aus dem Keller geholt«; die Hinfälligkeit des Alters hindert den Herrn nicht, an sechs Tagen der Woche »von sieben bis sieben« in seinem Geschäft zu sein, in dem er, gleich wie in einer künstlerischen Installation mehr oder weniger zu leben scheint, im Raum nebenan. Seitdem bin ich fasziniert von diesem Mikrokosmos, der in seinem ritualhaften und vitalen Eigensinn gegen die restlichen Welt zu stehen scheint: Ein Sir, der einem am Rollator bedient; eine Gesprächsfreudigkeit, die, ganz die alte Schule, nicht die Verkaufsabsicht in den Vordergrund treten lässt, sondern das Parlieren pflegt; eine Vitalität, die einen in lachendes Erstaunen versetzt und wegen der man den Herren nicht einmal als »alt« bezeichnen möchte. Eindrücklich wirkt auch etwas wie Widerständigkeit, die vielleicht mit einem gewissen Ignorieren der Gegenwart zu tun hat, vielleicht mit einem Glauben an die bessere Qualität der vergangenen Tage, vielleicht sogar mit einem magischen Geheimnis an Lebenserfahrung, das hier, an der Alkovener Schnellstraße, manifest geworden ist. Jedenfalls aber mit einer offen zutage tretenden Diskrepanz mit den Tatbeständen der Flexibilisierung, der Verkaufsstrategie, der Propaganda der ewigen Jugend, des Zeitmanagements, der Burn-out-Prophylaxe, des Nomadentums oder was auch immer gerade gepredigt wird in der heutigen Welt der Verwertbarkeitsreligionen. Das ist aber alles Interpretation, denn ganz einfach scheint es auch so, dass der alte Herr eingebunden ist in das Alkovener Leben: Immer wieder kommen Leute vorbei, die etwas brauchen und für die er repariert. Er hat einmal gesagt, er mache das noch, »solange es noch geht, und wenn es nicht mehr geht, dann gibt es einen Abverkauf«. Meine Schwester (für die er besagten anderen Schuh binnen einer Woche aus dem Keller geholt hat), hat sich auf diese Bemerkung hin zu der verwunderten Frage hinreißen lassen: »Aber ab wann geht’s denn dann eigentlich nicht mehr?«. Was definitiv eine gute Frage ist, auch wenn man sich den allgemeinen Welt-Wahnsinn rundherum so ansieht, der mehr oder weniger auch nur untragbare Zustände mitschleppt, die das Werkl am Laufen halten, anstatt zu erlauben, in einer menschenwürdigen, um es so zu sagen, poeietischen Weise »ursprünglich schaffend und gestaltend« sein zu können.
Eine ganze Weile später, als mit dem Festival der Regionen der Aufruf zur Einreichung für Projekte in Eferding gekommen ist, zum Thema »Umgraben«, hatte ich dann kurz Mal die Idee, auch wegen der schönen Lage des Geschäfts auf dem Weg von Linz nach Eferding, für das Festival eine Einreichung zu fabrizieren. Die Ausrichtung des Festivals mit seinem elastischen Kunstbegriff würde dies jedenfalls erlauben. Was aber projektieren? Über eine kommunikative Konzeption das Thema Kauf und Tausch verhandeln? Aber warum? Zu viel Erklärungsbedarf auf allen Seiten. Ein Projekt, das ein ästhetisches Upcycling betreibt und dann Menschen zeigt, die im Geschäft kaufen? Möglich, aber vielleicht doch zu verspielt für den trostlosen Realismus, der fast alles eliminiert, was nicht mit der Zeit geht. Ein Zitat auf Pina Bausch, die in ihrem Film »Die Klage der Kaiserin« ein Bunnyhäschen in Stöckelschuhen über den Acker stolpern lässt und in dem in Folge immer wieder im Acker nach irgendetwas Undefinierbarem gegraben wird? Wäre zwar über ein paar Ecken eventuell zu denken, erkennt aber als Zitat kaum wer und ist vielleicht überhaupt sinnlos. Mit Genuss habe ich das dann bleiben lassen – zu sehr aus den Fingern gesaugt, zu »gemacht«, wie man am Theater gerne sagt und vielleicht sogar übergriffig: Letzten Endes würde wahrscheinlich für den alten Herrn alles, was auch immer, lediglich zu viel Trubel bedeuten, der nach dem Festival wieder verschwindet. Ganz schnell hat sich für mich dieses Schuhgeschäft-Gebilde meiner eigenen Verwertungsabsicht durch Kunst entzogen, was einerseits sicher mit einer Abneigung dagegen zusammenhängt, aus einem blödsinnigen Reflex heraus alles zu einem Projekt machen zu wollen, was einen gerade persönlich beschäftigt. Und was andererseits aber genau das ist, was mich fasziniert. Denn ganz losgelassen hat mich das Thema nicht, beziehungsweise die Frage, was denn nun diese Faszination wirklich ausmacht und warum die Idee eines Projektes nicht einmal wirklich zu denken war. Ich greife auf den methodischen Trick zurück, etwas als reale Installation zu betrachten, um mich annähern zu können und erkenne: ein Geschäft, das von außen vorgibt, mit Mode zu handeln, das jedoch für sich restlos out of time ist; ein alter Herr, der weder dem dynamischen Prinzip des Verkaufs entspricht, noch verkaufen muss – der aber dennoch eine Geschäftsidee aufrechterhält und außerdem mit seinen Dingen zu leben scheint; und letztlich ein Zeitbegriff, der sich völlig gegen die schnelle Taktung unserer Zeit stellt und der die Uhren komplett anders ticken lässt, eigenwillig beständig und in seiner nichts-wollenden Freundlichkeit irgendwie unmodern. Weil es um Mode geht, ist dieses zeitliche Querlegen immerhin interessant. Ich komme auf den Gedanken, dass sich meine reale Installation dem Zeitfaktor, durch den auch wir Kunst- und Kulturschaffenden getaktet sind, völlig entgegenstellt, und vielleicht genau dieses zeitliche Querliegen das sympathische Faszinosum darstellt: Nicht zuletzt würde es sich so gesehen als gedachte Antithese auch gegen den Zeitbegriff eines Festivals stellen, das an sich für Produktion für den zeitlich definierten Ausnahmezustand steht. Ich kann es trotzdem nicht ganz lassen, das zumindest in meinem privaten Kopf gerade deshalb als Kunstprojekt zu betrachten, weil es sich in seinem merkwürdig diskrepanten Vorhandensein in wunderschöner Selbstverständlichkeit gegen die äußere Welt abschließt – als Einsprengsel in einer Realität, die ihre grotesken Blasen der Verwertung produziert, als reale Installation, die sich der eindeutigen Definition des menschlichen Daseins entzieht.

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