Marvin Apiary

Der Todsäufer & der Engel.


Unlängst wurde mir doch alles ein wenig schwer. Das Redaktionskollektiv hat mich zur Rede gestellt, weil ich in Ausgabe 5/96 dem hillinger einen Chefredakteur verpaßt hatte, den es aber gar nicht gibt. "Ich bin doch nur ein fuzikleines Basiswuckerl und kenn mich da nur so gut wie ganz wenig aus", war meine - zugegebenermaßen etwas schwachbrüstige - Rechtfertigung. Aber nein, sühnen sollte ich die Missetat: Das Thema für diese Ausgabe wurde rigoros vorgegeben. "Du schreibst dieses Mal über "Drogen & Film", verstanden", hieß es da in einem Telegramm, das ich einen Tag nach der Sitzung bekam. Tja, und da hätte ich dann auch schon unterwürfig zu schreiben begonnen über die Slapstickisierung der Drogen in "Pulp Fiction", über visuelle Drogen in "Strange Days" (siehe dazu hillinger 3/96) und über die wieder verstärkte Präsenz der Zigarette auf der Leinwand, die sich bis zu "Smoke" ausgewachsen hat. Ich hätte, wenn da nicht auch noch folgendes Schreiben im selben Posthäufchen zum Vorschein gekommen wäre


Lieber Marvin!
Es ist jetzt wohl an der Zeit, aus dem Dunkel meiner so brutal aufgedeckten Anonymität zu treten, es passiert ja selbst mir schließlich nicht alle Tage, daß auf eine förderlich gemeinte Kritik so prompt reagiert wird. Quasi prompt, denn Du hast Dich ja für einen Monat zurückgezogen, um Deine Wunden zu lecken Ob die neue Freundin da zufällig just in diese Phase fällt, möchte ich an dieser Stelle aus purem Selbstschutz kommentarlos anmerken - so sind verliebte Filmrezensenten wohl.
Und ja, liebster Marvin, selbst einem ganz und gar nicht liebeskranken Single wie mir hat der "Chungking Express" gut gefallen, doch darauf erneut einzugehen, wäre wohl sinnlos, da die Massen der hillinger lesenden Cineasten im Laufe des Monats die lokalen Filmhäuser mit Sicherheit schon gestürmt haben, was nach jener anregenden Besprechung (siehe dazu hillinger 5/96; Anm. v. Marvin) schlicht unausweichlich war.
So liegt mir nun eher daran, einmal Dir einen interessanten Film ans verliebte Herzchen zu legen. "Leaving Las Vegas" heißt er, weder ein Film für unbeschwerte Stunden, noch für Liebhaber leichter Kinokost, er regt vielmehr zum Nachdenken an und tut dies für eine Produktion aus der Maschine Hollywood meiner Meinung nach ziemlich gut.
Falls Du also in naher Zukunft wieder einmal eine Kinokarte lösen solltest, dann tu dies doch für the bad side of "Casino" und sauf' beim Verlassen von Las Vegas anschließend nicht ab!
So long, JUTTA.

Die Briefe meiner Leserinnen sind mir selbstredend Freude & Fetisch. Auch wenn ich bitte, die Seitenhiebe auf mein Privatleben geflissentlich zu überlesen, kam mir Juttas Filmvorschlag gerade recht; lassen sich doch mit ihm wieder einmal alle Ansprüche unter einen Hut pferchen. Jutta, die Frau fürs Grobe, hat ja bereits eine Übersichtskritik geliefert, sodaß ich mich wieder einmal in Details verzetteln kann.

foto von Elisabeth Shue Der Film ist die letzte Odyssee des Drehbuchautors Ben: schwerer Alkoholiker, beschließt er, nachdem er von seinem Chef gefeuert und mit einer großzügigen Abfindung versehen wurde, nach Las Vegas zu fahren, um sich zu Tode zu trinken. Die Geradlinigkeit des Plots, die sich durch dieses Ziel ergibt, wird aufgewogen durch die rauschartigen Qualitäten des Films - Rausch auf den verschiedensten Ebenen.
Der Soundtrack zum Beispiel, der zum Großteil vom Regisseur komponiert wurde, klingt wie ein romantisch durchsoffener one night stand. Blau - blue - ist gar keine Farbe mehr, nur suggestiver Klang, schillernde Saxophonblumen, fragiles Pianogeäst und Stings Stimme mit träger Kaugummiartikulation.
Las Vegas ist natürlich selber eine Droge: Die Kamera nähert sich ihr immer wieder in sehr niedrigen, leicht schrägen Überflügen. Es ist, als würde sie es nicht schaffen, Abstand zu gewinnen. Immer wieder läßt sie sich in den Strudel dieser Stadt hinabsaugen. Und das fast immer bei Nacht, wo Myriaden von Leuchtschriften ihren Flimmertanz geigen. Wie verführerische Derwische, die die Zusehenden in Trance versetzen, ihres Willens und Bewußtseins berauben.
Und genau so staksen die meisten Figuren, die uns in diesem Film begegnen, durch die Nacht: umnachtet. Biedere Vermieter wie paranoide Zuhälter. Eifersüchtige Motorradfreaks wie vergewaltigende Sportmilchgesichte. Wir erfahren nicht, warum diese Menschen so sind. Zum Glück hält sich der Film fern von derartigen Psychologisierungen. Inmitten dieser infernalischen Monsterparade wandelt aber ein gefallener Engel, der das Brennen noch spürt an den Stellen zwischen den Schulterblättern, wo einmal die Flügel waren: Sera, eine Prostituierte, bei der die Männer für fünfhundert Dollar alles kriegen, was sie sich wünschen. Ihr Herz aber bekommt nur Ben, der Todsäufer. Den akzeptiert sie mitsamt seinem letzten Ziel; soweit, daß sie ihm ein glitzerndes Trinkfläschchen schenkt. Ihre Liebe wächst; wird so groß, daß Sera für ein paar Nächte auf ihre Einkünfte verzichtet, um mit Ben aus der Stadt zu fahren, in einen Sonnenuntergang. Bald darauf, Ben wird immer weniger von dieser Welt, bittet sie ihn doch, wenigstens einmal zu einem Arzt zu gehen. Bis dahin hat Elisabeth Shue, die Darstellerin der Sera, an der Seite von Nicholas Cage derart betörende Arbeit geleistet, daß diese Bitte verständlich geworden ist (auch wenn die Dialoge des Films so ihre Schwächen haben). Ben aber weigert sich weiterhin, vögelt in Seras Schlafzimmer eine Hure. Too much to bear for an angel: Sera schmeißt ihn raus.
foto von Cage und ShueDer Film bleibt daraufhin bei ihr, die nun eine Katastrophe nach der anderen erlebt - eine der wenigen gröberen Schwachstellen. Es ist, als müßte Sera dafür büßen, daß sie ihren Schutzbefohlenen ausgesetzt hat. Es ist, als stünden die beiden nach wie vor mental in Verbindung, weil Ben erst dann bei ihr anruft, nachdem sie scheinbar genug gelitten hat. Es ist, als könnte nur er ihr die Gnade erteilen, die Liebe zurückzuerhalten. Da hat der britische Regisseur ein wenig zu viel der amerikanischen "redemption" aufgekocht.
Zentrale Achse des Films ist Nicholas Cage. Schon in der ersten Einstellung, in der wir noch gar nicht wissen, daß er Alkoholiker ist, sehen wir einen verlorenen Kerl auf Speed. Dann sehen wir bis zum Nicht-mehr-Sehenwollen den Alkohol aus diversen Gefäßen in ihn hineinfallen. Er schüttet die Welt in sich hinein, weil seine Augen von einem unsichtbaren, undurchdringlichen Schleier bedeckt scheinen. Wie ein kleines Kind saugt er an Flaschen und immer kindlichere Gesten vollführt er mit zunehmendem Verfall. Dann wieder - in den dunkelsten Phasen des Films, durchzucken die Spasmen der Abhängigkeit seinen lebendig verwesenden Körper. Er klammert sich an Kühlschranktüren, bevor er sie aufreißt; hält sich an Würfeln fest, bevor er sie auf die Casino-Tische schleudert; stützt sich auf Sera, bevor er in Ohnmacht fällt. Cage deliriert derart durch den Film, daß sein Sailor aus "Wild at Heart" wie ein Ministrant erscheint. Und doch ist dieser Ben kein Schwein, bei dem es leicht fällt, ihn zu hassen. Mit seinen Grimassen genauso wie mit seinem unschuldigen Grinsen wird er zu einem Riesenbaby, das wir nicht (mehr) verstehen, weil es nur mehr lallt. Darüber werden wir traurig.
In der deutsch synchronisierten Fassung des Films klingt Nicholas Cage, als hätte man einem Säufer das Rülpsen genommen. Der hillinger hat deshalb dem Moviemento vorgeschlagen, demnächst auch die Originalversion (mit oder ohne Untertitel) zu zeigen. Der genaue Termin stand bei Redaktionsschluß noch nicht fest - ich denke aber, daß darauf zu warten sich lohnt.

LEAVING LAS VEGAS. USA 1995. 112 min. Drehbuch, Regie & Musik: Mike Figgis. Kamera: Declan Quinn. Schnitt: John Smith. Musikeingespielt von: Sting, u.a. Darsteller: Nicholas Cage (Ben), Elisabeth Shue (Sera), Julian Sands (Yuri), u.a.


JUNI 96

wir lesen hören schauen linz