Liebe Jutta!


Hast Du den letzten hillinger gelesen? Ist Dir aufgefallen, daß es darin keine Filmbesprechung gab? Nachdem Du Dich im März bei der Redaktion beschwert hast, daß der Artikel zu "Strange Days" zu lang war und zuviel "Inhalt" hatte (Was immer das auch heißen mag, was mir da die Kollegen weitergeleitet haben.), zog ich mich leise winselnd in mein noch winterlich graues Kämmerchen zurück, um mich der Harschheit Deiner Kritik an meiner Kritik voll und ganz hinzugeben. Inzwischen ist es Frühling geworden, und der Chefredakteur hat sowohl meinen Anrufbeantworter als auch meinen Briefkasten mit Anfragen bezüglich der Filmseite bombardiert. Die angekündigte Gründung eines Spendenfonds "Laßt die Filmseite nicht sterben!" hat mich dann zutiefst gerührt und mich dazu bewogen, dem durch einen neuerlichen Griff in die Tastatur meiner alten Schreibmaschine entgegenzuwirken.
Um neuerlichen Vorwürfen Deinerseits bezüglich der Länge meiner Ergüsse auszuweichen, hier für Dich das Wichtigste in Kürze: Der Film ist "Chungking Express". Hingehen & Anschauen. Einer der spektakulärsten Filme des Jahres. Versäumen ist nicht erlaubt!

Falls Du jetzt aber doch neugierig geworden bist, kannst Du ja - wie vielleicht ein paar andere Menschen da draußen auch - einige disparate Gedanken zum Film von mir noch vertragen.
Kürzlich habe ich mich - wie es sich für einen richtigen Frühlingsanfang gehört - ziemlich ordentlich verliebt. Das hat natürlich vorderhand nichts mit einer Filmbesprechung zu tun. Es erklärt aber ganz gut, warum ich über die beiden liebeskranken Polizisten, die die Hauptfiguren der zwei Episoden des Films sind, herzlich lachen kann. Es sind zwei richtige Verlierer, die sich im Von-den-Frauen-Verlassensein melancholisch suhlen. Nun könnte das in peinliche Weltschmerzlichkeit ausarten: über die Liebe zu sprechen, gerade wenn es die verlorene ist, ist immer ein labyrinthisches Unterfangen. Sind deshalb die Liebesfilme oder die "romantischen Komödien" neueren Datums immer so mit Klischees und Pathos vollgepfropft?
"Chungking Express" finde ich erfrischend poetisch. Und hinter der Komik dieser Poesie steckt die unermeßliche Trauer der Einsamkeit in einer Großstadt. Das gibt den Helden etwas sehr Altmodisches: Wie nicht erhörte Minnesänger vagabundieren sie durch Hong-Kong und schmettern ihre Oden in leere Telefone, Plüschtiere, Flugzeugmodelle, Fernseher und Fast Food. 30 Dosen Ananasscheiben in der Nacht der Gewißheit des Verlassenseins zu essen - zeugt das nicht von wahrer Liebe?
Aber keine Angst, "Chungking Express" ist trotzdem kein altmodischer Film. Weit entfernt von platter psychologischer Rollengestaltung zeichnet Regisseur Wong Kar-Wai seine Figuren durch eine bis zum Verwischen der Bilder mobile Handkamera, die gerade jene Momente einfängt, in denen die Personen aus dem Bild, aus dem Leben kippen; durch den Charakteren leitmotivisch zugeordnete Musik und durch eine Montage, die mehr Löcher aufreißt, als sie logisch kohärente Erklärungen liefert. Der Film ist immer mit den Männern und Frauen, die er zeigt, in Bewegung.
Ein paar Einstellungen sind mit einem verblüffenden Trick veredelt. Während die Hauptfigur sich in Zeitlupe bewegt, um zum Beispiel einen Trinkbecher an den Mund zu führen, sind die Menschen um sie herum aufgrund ihres Tempos nur mehr als bunte, vorbeifliehende Flecken, jeglicher Individualität beraubt, erkennbar. Außerhalb der Liebe gibt es keine (Fort-)Bewegung. Die verblassende Liebe, die zerbrochene Liebe, die unerhörte Liebe sind grausame Momente des Stillstehens in einer brutal rasenden Zeit. Und doch kann nur die Liebe das ruhende Zentrum sein, um das sich alle Bewegung ereignet. Von diesem Paradox erzählt mir dieser Film. Er ist also, unter anderem, ein Film über die Liebe - einer der schönsten der letzten Zeit. So wie er ein Polizistenfilm, ein Thriller, ein Großstadtfilm und ein Clownsstück ist. Und mehr. Aber das wirst du merken, wenn du ihn siehst.


Ja, ja. Ich höre schon wieder Deine Vorwürfe, Jutta, vonwegen sentimentalem Gefasel und pubertär-fleckigen Phrasen. Ich weiß, ich weiß. Verliebte Filmrezensenten sind schwer zu ertragen. Nächstes Mal gibt's wieder ganz etwas anderes. Versprochen. Bis dann.
Dein Marvin.

P.S.: "Chungking Express" läuft ab 24. Mai im Moviemento. Polyfilmseidank in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln.


MAI 96

wir lesen hören schauen linz