Verena Kuni
Arbeiten an der 'Schnittstelle Geschlecht' 1:
Trans/Gender-Utopien dies- und jenseits der Interfaces

"To attempt to occupy a place as speaking subject within the traditional gender frame is to become complicit in the discourse which one wishes to deconstruct." 2

Wenn "der Versuch, im Rahmen der traditionellen Geschlechtervorstellungen einen Platz als sprechendes Subjekt zu besetzen, zur Komplizenschaft in eben jenem Diskurs führt, den man dekonstruieren möchte", wie die amerikanische Medientheoretikerin und Transgender-Aktivistin Allucquère Rosanne Stone 3 schreibt - wie kann es dann gelingen, im Diskurs um Technologie und Geschlecht Stellung zu beziehen und zugleich nach Wegen Ausschau zu halten, um im "gendered frame" der elektronischen Netzwerke die Geschlechtergrenzen zu überschreiten? Die folgenden überlegungen werden sich der Frage widmen, welche Möglichkeiten sich vor dem Horizont einer feministische Medientheorie und -praxis bieten könnten, diese Herausforderung anzunehmen. In diesem Sinne verstehen sie sich weniger als resümierende Rundschau, denn als eine erste Annäherung, in deren Verlauf es zunächst einmal darum gehen wird, den Blick für das Spannungsfeld zu schärfen, das an der Schnittstelle Geschlecht aus dem Wechselspiel zwischen Mythen und Realitäten neuer Technologien entsteht - und dieses im Hinblick auf seine Tragfähigkeit für "Trans/Gender-Utopien" zu untersuchen.

Ausgehend von verschiedenen Lesarten und Definitionen von "Transgender", über die eine erste Begriffsklärung versucht werden soll, möchte ich ein erweitertes Verständnis von "Trans/Gender" vorschlagen, um am Beispiel verschiedener sozialer, kommunikativer und ästhetischer Praxen im Umfeld elektronischer Netzwerke eine Perspektive zu entwickeln, die auf dem Moment der Transgression als einer kontinuierlichen Bewegung basiert. Entscheidend für diese "Trans/Gender"-Utopien ist, dass sie sich verschiedener "technologies of gender" (Teresa de Lauretis) 4 im Sinne einer performativen Strategie bedienen und dabei eine Reihe von Parametern, die in den Diskursen der Transsexualität eine wichtige Rolle spielen, neu definieren.

Tatsächlich wird Cyberspace vielfach als ein Raum diskutiert, in dem - nicht nur parallel zu den performativen Praxen der Travestie und des Cross-Dressing, sondern auch alternativ zu den Optionen von Medizin und Biotechnologie, die von der Hormonbehandlung bis zur Geschlechtsumwandlung am realen Körper operieren - neue Möglichkeiten und Techniken zur Verfügung stehen, die Geschlechtergrenzen zu verwischen und zu überschreiten. Gleichwohl scheint eine kritische Auseinandersetzung mit der Praxis des "Gender-Bending" in MUDs und MOOs ähnlich angezeigt wie eine Skepsis gegenüber den Konstruktionen künstlicher Körper, denen - wie etwa der Cyborg - projektiv ein korrespondierendes Potential zugeschrieben wird.

Denn ebenso, wie diesseits der Interfaces nach wie vor Menschen sitzen, die nach wie vor in einer individuellen und gesellschaftlichen Realität verankert sind, werden auch "Netzidentitäten" nicht nur individuell geformt, sondern sind als "soziale" und "juridische Körper" zu begreifen.

Ein Ziel meiner Überlegungen wird es daher sein, "Trans/Gender"-Utopien dies- und jenseits der Interfaces einerseits vor dem Hintergrund jener traditionellen Wahrnehmungs-, Repräsentations- und Interaktionsmuster zu untersuchen, die sich auch in den sogenannten "neuen Medien" längst (re-)installiert haben, andererseits aber auch nach den Perspektiven und Potentialen zu fragen, die ihre "monströsen Versprechen" (D. Haraway) 5 an der Schnittstelle von Technologie und Geschlecht für quere Diskurse und Praxen bieten.

Aber was heisst das eigentlich, "Trans/Gender-Utopien dies- und jenseits der Interfaces?"

1. Von "Transgender" zu "Trans/Gender"
"Transgender is a term whose exact meaning is still in dispute, and I consider that a very healthy sign. The most widely accepted definition is that transgender includes everthing not covered by our culture's narrow terms 'man' and 'women'." 6
Dem ursprünglichen Wortsinn nach bezeichnet der Begriff "Transgender" ein überschreiten der Geschlechtergrenzen, das sich - jedenfalls insofern man der theoretischen Unterscheidung zwischen biologischem "Sex" und gesellschaftlich indiziertem "Gender" folgen möchte - sowohl über das "körperliche" als auch über das "soziale Geschlecht" definieren kann. Laut Stone lassen (sich) hierunter - je nach dem Selbstverständnis des/der Einzelnen - folgende Menschen bzw. Gruppen fassen:
1) Prä-, post- sowie nicht operierte und keine Operation anstrebende Transsexuelle (also Menschen, die ihr Körpergeschlecht als in Widerspruch zu ihrer Geschlechtsidentität stehend empfinden);
2) Transvestiten und Cross-Dresser (wenn zwischen ersteren und letzteren unterschieden wird, so meistens, um zwischen dem sexualisierten bzw. fetischisierten Gebrauch der Kleidung des 'anderen' Geschlechts zu differenzieren und dem, was in der Literatur oft vage als "dress up for fun" bezeichnet wird - gemeint ist damit jede Form von gelegentlichem "Drag" bzw. "Impersonating" auf einer Bühne, in einem Club oder einem anderen Rahmen ); 7
3) Menschen mit Genitalien, die nach den medizinischen Standards keine eindeutige Zuordnung zu dem einen oder dem anderen biologischen Geschlecht gestatten (früher als "Hermaphroditen", heute meist als "Intersex" bezeichnet ); 8
4) Menschen, die sich für eine zwischen den Geschlechtern changierende Geschlechtsidentität entschieden haben (in etwa das, was oft mit einem 'androgynen' Auftreten assoziiert wird);
5) Menschen, die sich dagegen entschieden haben, eine Geschlechtsidentität zu verkörpern ("persons who have chosen to perform no gender at all"). 9 Nun zeigt schon der Umstand, dass alle Versuche, "Transgender" zu definieren, letztlich noch immer auf die bekannten Pole eines "weiblichen" und eines "männlichen" Geschlechts referieren, wie schwer es ist, nicht nur ein Konzept zu formulieren, sondern auch Vorstellungen für dessen Verkörperung und Performanz zu entwickeln, die tatsächlich jenseits dieser Pole und damit jenseits einer binären Matrix angesiedelt sind.

Alfred Kinsey hat in seiner vielzitierten Studie über "Sexual Behavior in the Human Male" mit Blick auf das Konzept der Bisexualität vorgeschlagen, diese weniger als fixe Kategorie denn als einen Punkt auf einem Kontinuum zwischen Homo- und Heterosexuatität anzusehen. 10 Ohne diesem - seinerseits nicht voraussetzungslosen und in vielfacher Hinsicht problematischen - Modell selbst zu folgen, das Geschlechtsidentität mehr oder weniger fest mit der sexuellen Präferenz verknüpft, liesse sich vergleichbar zumindestens vorläufig feststellen, dass auch "Transgender" die Vorstellung einer binären Matrix keineswegs hinter sich lässt - diese aber so weit wie möglich als Spannungsfeld öffnet und die Punkte auf ihren Koordinaten als bewegliche begreifen lässt. In diesem Sinne möchte ich "Transgender" - ähnlich, wie es Sandy Stone für "transsexual" bzw. Transsexuelle formuliert - nicht als eine fixe Kategorie begreifen, sondern eher als ein "Genre", "a set of embodied texts whose potential for productive disruption of structured sexualities [genders] and spectra of desires has yet to be explored." 11

Das Zeichen "/", das ich daher im Folgenden zwischen "Trans" und "Gender" setzen werde, bedeutet für mich dabei ein Innehalten: das Wahrnehmen jener Grenze, die überschritten werden soll und die eben nicht nur eine biologische und technologische, sondern auf einer vorgängigen Ebene auch eine des Denkens ist. Denn nicht nur welche Geschlechter wir denken können, sondern auch welche Vorstellungen von diesen und für diese Geschlechter uns zur Verfügung stehen, sind für mich durchaus offene Fragen, die zunächst zu klären wären.

2. "Trans/Gender"-Utopien

Der Begriff der "Utopie" lässt sich wörtlich mit "Nicht-Ort" übersetzen 12. Im Zusammenhang mit "Trans/Gender" scheint er mir prädestiniert, um eben jenen "Nicht-Ort" eines Geschlechts zu bezeichnen, das sich nicht nur den Normierungen der vorherrschenden binären Geschlechterordnung verweigern, sondern auch - als ein bewegliches Kontinuum von möglichen Performanzen und Verkörperungen - einer dauerhaften Festschreibung entziehen will.

Tatsächlich bietet gerade die Realität einer Gesellschaft, die sich auf die Matrix einer binären Geschlechterordnung beruft, aus deren Dispositiven nicht nur Konzepte wie "Mann" und "Frau", "Männlichkeit" und "Weiblichkeit", "Sex" und "Gender" bzw. "biologisches Geschlecht", "Geschlechtsidentität" und "sexuelle Orientierung", "Heterosexualität", "Homosexualität" und "Bisexualität", sondern auch "Transsexualität" und "Transgender" als Effekte hervorgegangen sind, die beste Basis für eine solche Utopie - auch wenn diese gerade dort, wo sie sich selbst als realistischer Anspruch an diese Gesellschaft formuliert, mit Judith Butler gesprochen eben "jene 'Subjekte' voraussetzt, fixiert und einschränkt", die sie zu repräsentieren und zu befreien wünscht." 13

Denn, so schreibt Judith Butler: "Die stillschweigenden Zwänge, die das kulturell intelligible 'Geschlecht' produziert, müssen eher als generative politische Strukturen denn als naturalisierte Grundlage verstanden werden. Paradoxerweise eröffnet das neue Verständnis der Identität als Effekt, also als produziertes und generiertes Phänomen, Möglichkeiten der 'Handlung', die durch jene Positionen, die die Identitätskategorien als grundlegend und feststehend auffassen, insgeheim verhindert werden. Ein Effekt zu sein bedeutet für eine Identität weder, dass sie schicksalhaft determiniert ist, noch, dass sie völlig künstlich und arbiträr ist. Dass der konstituierte Status der Identität an diesen beiden sich widersprechenden Linien entlang fehlkonstruiert wird, verweist darauf, wie sehr der feministische Diskurs über die kulturelle Konstruktion in der keineswegs notwendigen Binarität von freiem Willen und Determinismus gefangen bleibt.

Die Konstruktion steht nicht im Gegensatz zur Handlungsmöglichkeit, sondern ist deren notwendige Bühne, sie bietet die Bedingungen, in denen sich Handlungmöglichkeit artikuliert und kulturell intelligibel wird. Für den Feminismus besteht die Aufgabe nicht darin, einen Standpunkt ausserhab der konstruierten Identitäten zu errichten." 14

Dementsprechend liesse sich auch für "Trans/Gender" als Utopie die bestehende Realität als eine Bühne betrachten, auf der und von der ausgehend Handlungsmöglichkeiten entworfen, artikuliert und umgesetzt werden können.

Wenn es dabei, wie Butler ebenfalls in diesem Zusammenhang betont, nämlich gerade nicht darum geht, "alle und jede Möglichkeit qua Möglichkeit zu feiern, sondern jene Möglichkeiten zu reformulieren, die bereits existieren, wenn auch in Bereichen, die als kulturell unintelligibel und unmöglich gelten" 15, scheint sich der "Nicht-Ort" von "Trans/Gender", dem in unserer Kultur traditionell das Stigma des Monströsen, Unmöglichen und Unintelligiblen anhaftet, einmal mehr als ein entsprechendes Möglichkeitsfeld anzubieten.

"Die kulturellen Konfigurationen von Geschlecht und Geschlechtsidentität könnten sich", so wiederum Butler, "vermehren, oder besser formuliert: ihre gegenwärtige Vervielfältigung könnte sich in den Diskursen, die das intelligible Kulturleben stiften, artikulieren, indem man die Geschlechter-Binarität in Verwirrung bringt und ihre grundlegende Unnatürlichkeit enthüllt." Fragen wir also mit Butler: "Welche anderen lokalen Strategien, die das 'Unnatürliche' ins Spiel bringen, könnten zur Ent-Naturalisierung der Geschlechtsidentität beitragen?"

3. An der Schnittstelle der neuen Technologien
Gegenwärtig sind es neben den an den Körpern selbst operierenden Verfahren der Medizin und der Biotechnologie vor allem die Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, die nicht nur unsere Vorstellungen von den Relationen zwischen Mensch, Technik und Natur insgesamt fundamental verändert, sondern als neue "Kulturtechniken" bereits Fakten geschaffen, Möglichkeiten eröffnet und Mythen generiert haben, die insbesondere auch für den Diskurs um das Geschlecht von Bedeutung sind. Allerdings erfolgt dabei nicht selten eine vorschnelle Gleichsetzung des "Unnatürlichen" mit diesen neuen Technologien - vor der insofern nachdrücklich zu warnen ist, als sie der Verschleierung der "Unnatürlichkeit" eben jener "Kulturtechniken" und Konzepte dient, über die seit je die Naturalisierung der Geschlechtsidentität vollzogen worden ist.

Auch von daher ist es - wie in der Vergangenheit zahlreiche WissenschaftshistorikerInnen belegen konnten - nachgerade unmöglich und letztlich auch unzulässig, die verschiedenen Diskurse der einzelnen ('alter' wie 'neuer') Technologien von einander abgelöst zu betrachten, also Fragen der medizinischen und naturwissenschaftlichen Konstruktion von Geschlecht von denen der sozialen, individuellen und gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht zu trennen. Und natürlich sind es nicht zuletzt die Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie und der Medizin, die gerade für Konzepte von "Transgender" eine wesentliche Rolle spielen - unter anderem darin, wie sie unsere Vorstellungen vom Körper und seiner technologischen Manipulierbarkeit beeinflussen.

Um den gegebenen Rahmen nicht zu sprengen, möchte ich mich meiner Fragestellung entsprechend im Folgenden dennoch weitgehend auf den bzw. einen Bereich der Kommunikations- Informationstechnologien beziehen, zunächst das Internet und dann, im Sinne einer weiteren konzeptuellen Engführung, auf dessen inzwischen populärsten Dienst, das World Wide Web 16.

Dabei sind es vor allem zwei Gründe, die diesen Bereich für die Frage nach seiner Bedeutung für den Geschlechterdiskurs bzw. die mit diesem verbundenen Performanzen von Geschlecht im Allgemeinen und ganz besonders auch für "Trans/Gender-Utopien" interessant erscheinen lassen:

1. Wenn Identitätskategorien und namentlich diejenigen, in deren Rahmen wir Geschlecht verstehen, wie Judith Butler schreibt, "Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen" sind, dann ist davon auszugehen, dass Medien ein bedeutender Anteil an der Erzeugung und Wirkmacht dieser Effekte zukommt, sie Konstanzen wie gegebenenfalls auch Brüche wesentlich mitbestimmen und beeinflussen können. So betont etwa auch Annette Runte in ihrem Buch "Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität", das nicht nur die in verschiedenen Epochen mit wechselnden Begriffen belegten, aber letztlich immer wieder auftauchenden Konstruktionen eines sogenannten "dritten Geschlechts", sondern auch die patriarchale Wertehierarchie innerhalb der Diskurse um dieses "dritte Geschlecht" keineswegs allein machttheoretisch zu erklären sind.

Vielmehr sei, so versucht Runte auf dem Wege einer vergleichenden, den jeweiligen historischen Kontext mit einbeziehenden Analyse der biographischen und autobiographischen Literatur zum Transsexualismus nachzuweisen, "die Assymetrie geschlechtlicher Positionierung, die sich in den [beiden] Richtungen des modernen Trans-Sexualismus fortschreibt [...], auf einen sehr groben und allgemeinen Nenner gebracht, Effekt einer medialen Bedingtheit von Geschlechtlichkeit." 17

Vergleichbar zeigt auch Sandy Stone in ihrem programmatischen Text "The 'Empire' Strikes Back. A Post-Transsexual Manifesto" an prominenten Beispielen von Transsexuellen-Biographien, dass die Beschreibungen der von den ProtagonistInnen geschilderten "Gender Dysphoria" ebenso wie diejenige ihres auf operativem Wege erlangten 'neuen Körpers' nicht nur den jeweils gängigen und medial verbreiteten Geschlechterstereotypen entsprachen, sondern auch ihrerseits zu auf medialem Wege verbreiteten, wirkmächtigen Stereotypen des Transsexuellen werden konnten. 18

So hatte etwa die Publikation von Harry Benjamins Standardwerk "The Transsexual Phenomenon" (1966) 19 zur Folge, dass Transsexuelle, die sich den erforderlichen psychologischen Tests für eine operative Behandlung unterwarfen, bereitwillig eben jene Selbstbeschreibungen lieferten, die sich mit den dort vermerkten (und aus wenigen Fallbeispielen konstruierten) 'pathologischen' Mustern dann "erstaunlich" deckten. 20

Zwar referieren Runte wie auch Stone mindestens in der historischen Perspektive ihrer Arbeiten vornehmlich auf die 'alten' Medien 21. Gleichwohl dürften sich ihre Thesen im Hinblick auf die Publizität bzw. Popularisierung von Bildern "des"/"der" Transsexuellen um so mehr mit Blick auf die 'neuen' Medien überprüfen lassen, zu denen in unserem Jahrhundert neben Radio, Fernsehen bzw. Video und Film nun auch das Internet und das Word Wide Web zu rechnen wären. Allerdings: Wenn das Spektrum der in unserer Gesellschaft verfügbaren Geschlechtsidentitäten ebenso wie die Bewertung derselben in unserer Gesellschaft nicht zuletzt ein Effekt des medialen Diskurses über Geschlechtsidentitäten ist, dann muss es nicht nur interessieren, welche traditionellen Geschlechterdiskurse auch über die 'neuen' Medien weiter transportiert und gefestigt werden.

Darüber hinaus wäre auch zu fragen, ob und inwieweit die 'neuen' Medien - die nachweislich nicht nur ein Spiegel bereits bestehender Diskurse und Denkweisen sind, sondern ihrerseits einen eigenen Anteil an deren Dynamik und deren Veränderungen haben - geeignet sein könnten, Brüche und Differenzen in die traditionellen Diskurse hineinzutragen und differente Geschlechterutopien zu entwerfen. Dies zumal diese Utopien dann, wenn sie ihrerseits medial freigesetzt und transportiert werden, wiederum entsprechende Effekte generieren und damit zu Realitäten werden können, die das Bedürfnis nach neuen Utopien wecken - und so fort.

Viel wesentlicher noch als die Annahme einer ökonomie des Begehrens, die diesem Prozess unterlegt werden könnte, erscheint mir dabei die Tatsache, dass mit der Zurückweisung einer vorgängigen "Essenz" bzw. einer "Natürlichkeit" von Geschlechtsidentität zugunsten eines Verständnisses von Geschlechtsidentität als (medialem) Effekt auch die in vielen Diskursen noch mühselig aufrechterhaltenen medialen Grenzen zwar nicht wegfallen, wohl aber als permeabel (durchlässig) begriffen werden müssen.

Es handelt sich also um einen dynamischen Prozess, der sich über die und damit auch an den medialen Schnittstellen vermittelt, ebenso wie er dies- wie jenseits der Interfaces Effekte und folglich auch Utopien generiert - et vice versa. Damit kommt auch den Schnittstellen eine besondere Bedeutung zu.

So ist die mediale Schnittstelle auf der einen Seite nach wie vor der Ort einer Brechung, eines Risses, einer "Suture" 22, an der die Differenz zwischen Realität und Utopie schmerzlich greifbar wird - ähnlich wie der operative Schnitt mit dem Skalpell das Zeichen des einen Geschlechtes löscht, um aus ihm das andere formen zu können. Auf der anderen Seite ist sie der Ort der Vermittlung, die Stelle, an der die medialen übersetzungen stattfinden - die allerdings ihrerseits wiederum ebenfalls niemals bruchlos zu vollziehen sind. "Dies- wie jenseits der Interfaces" meint damit: auf beiden Seiten der Schnittstellen, die in diesem Sinne also den sogenannten "Meatspace" mit dem sogenannten "Cyberspace", beide immer "Wirklichkeit" und "Möglichkeitsfeld" zugleich, einmal mehr miteinander verschränken.

Damit komme ich zu dem zweiten Grund, aus dem heraus ich die sogenannten 'neuen' Medien Internet und World Wide Web als ein lohnendes Forschungs- und Entwicklungsfeld für die Frage nach "Trans/Gender"-Utopien erachte:

2. Zu den zahlreichen Mythen, die sich um die sogenannten 'neuen' Medien ranken, gehört die vielfach kolportierte Behauptung, beim Internet handele es sich um einen Ort sozialer Kommunikation und Interaktion, in dem andernorts tradierte und sorgsam konservierte Machtgefüge keine Gültigkeit besässen, weil sie entweder noch nicht Fuss gefasst hätten oder sich sogar im Hinblick auf die spezifischen Strukturen und Funktionen dieses Mediums als inkompatibel erweisen würden.

Zwar fusst diese Behauptung nicht zuletzt auf sozialen Utopien, deren Kern aufzugeben eine Bankrotterklärung gegenüber den entsprechenden "Dispositiven der Macht" bedeuten würde - und dazu besteht nach wie vor kein Anlass. Gleichwohl lässt sie sich in dieser Formulierung angesichts der Realität des Mediums ebensowenig halten, wie sie längst schon vor allem anderen dazu dient, die Verlängerung der real existierenden ökonomischen, politischen und sozialen Machtverhältnisse ins Netz hinein zu verschleiern. ähnliches wäre auch im Hinblick auf jene Stimmen zu konstatieren, die behaupten, beim Internet habe man es mit einem Feld sozialer Interaktion zu tun, in dem das Geschlecht der Interagierenden nur noch eine untergeordnete Rolle spielt.

Begründet wird diese Annahme über den Umstand, dass wir im Netz zunächst einmal über das Medium der Sprache kommunizieren und dort, wo uns das World Wide Web die Möglichkeit bildhafter Repräsentationen eröffnet, diese selbst gestalten und beeinflussen können. Doch ebensowenig, wie sich Sprachgebrauch und Bilderpolitik aus dem gesellschaftlichen Rahmen lösen lassen, in dem wir uns jeweils bewegen, können wir im Netz von dem körperlichen und sozialen Geschlecht abstrahieren, das uns ausserhalb des Netzes bestimmt. 23

Gleichwohl hoffen nicht wenige TheoretikerInnen und AktivistInnen darauf, dass das 'neue' Medium Internet prinzipiell nicht nur zu neuen Kommunikationsformen, sondern auch zu einer Neukonzeption von Geschlechterrollen- und Repräsentationsmodellen führen könnte. Und angenommen, es trifft zu, dass Utopien dann, wenn sie ihrerseits medial freigesetzt und transportiert werden, wiederum entsprechende Effekte generieren und damit zu Realitäten werden können, die das Bedürfnis nach neuen Utopien wecken usf., besteht zu dieser Hoffnung auch einiger Anlass.

4. "Gender Swapping"? "Gender-Benders" in MUDs und MOOs
Für die Frage nach "Trans/Gender"-Utopien in dem von mir intendierten, erweiterten Sinne 24 scheint sich zunächst einmal jener Bereich des Internet anzubieten, der bislang etwa auch für die Geschlechterforschung in den Sozialwissenschaften massgeblich im Mittelpunkt des Interesses stand: MUDs und MOOs, jene ursprünglich rein textbasierten, inzwischen vielfach aber auch in graphisch unterstützten Varianten existierenden Spiel- und Kommunikationsumwelten also, deren TeilnehmerInnen mit dem Eintritt in die jeweilige Netzumgebung zunächst einmal eine Avatarfigur kreieren müssen, die dann mit den Avatarfiguren der anderen TeilnehmerInnen interagieren kann. Praktisch bedeutet dies, dass der bzw. die MUD-TeilnehmerIn seinem/ihrem MUD-Charakter einen Namen gibt, ein Geschlecht für den Charakter wählt und diesen mit einer 'sprechenden' Beschreibung seines äusseren und einiger wesentlicher "Charaktereigenschaften" ausstattet.

Welche Geschlechter zur Auswahl stehen, ist von MUD zu MOO unterschiedlich. Meistens jedoch ist die Wahl auf "Männlich", "Weiblich" oder "Neutral" beschränkt, in manchen MUDs stehen aber tatsächlich auch weitere Optionen wie "Hermaphroditisch" oder "Multipel" zur Verfügung. Indem das angenommene Geschlecht, das zudem im Rahmen eines Spielverlaufes von den TeilnehmerInnen so glaubhaft wie möglich vertreten werden soll, von vornherein als konstruiertes kenntlich ist, scheinen MUDs also nachgerade lehrbuchartig vorzuführen, was Judith Butler als "Doing Gender" im Sinne von Geschlecht als Performanz beschreibt. Zudem ermöglichen ein MUDs ein "Gender-Bending", das auf mehreren Ebenen erfahrbar wird: So können sich die MUD-TeilnehmerInnen nicht nur über ihren eigenen Charakter in eine Rolle versetzen, die gegebenenfalls weder mit ihrem biologischen Geschlecht noch ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt, sondern sie werden auch mit MitspielerInnen konfrontiert, die ihnen ebenfalls in einer entsprechenden Geschlechterrolle entgegentreten. 25 In diesem Sinne lassen sich MUDs in der Tat mit Amy Bruckmann als (Gender-)-"Identity Workshops" 26 bezeichnen, die - in einem bestimmten Rahmen jedenfalls - Auskunft nicht nur darüber geben können, wie Vorstellungen von Geschlecht menschliche Kommunikation und Interaktion strukturieren, sondern auch darüber, wie die Erfahrungen, die Menschen in MUD-Umgebungen machen, ihre Wahrnehmung von Geschlecht beeinflussen.

Allerdings scheinen die Maskeraden des Geschlechts wie auch das Spiel mit den Geschlechterrollen bei genauerem Hinsehen allzu oft allzu bekannten Regeln zu folgen. So haben viele der inzwischen recht zahlreichen wissenschaftlichen Studien über MUDs und MOOs vor allem eines gezeigt: Nämlich wie stark dieselben Geschlechterstereotypen, die auch in anderen Bereichen sozialer Interaktion dominieren, nicht nur die Konstruktion und die Performanz der von den TeilnehmerInnen angenommenen Geschlechterrollen prägen, sondern auch die Interaktionen zwischen den TeilnehmerInnen und vor allem anderen auch die Erfahrungen der TeilnehmerInnen mit und in diesen Geschlechterrollen bestimmen. 27

Dazu dürfte nicht zuletzt der Umstand beitragen, dass die meisten MUDs und MOOs in ihren Regularien einerseits eine Kontinuität der angenommenen Geschlechterrolle vorschreiben, während sie es andererseits untersagen, das Rollenspiel zu durchbrechen und reale Daten wie das eigentliche Real Life-Geschlecht "preiszugeben". 28

Vielmehr wird ein derartiges "Coming Out" häufig mit aggressiven Reaktionen der MitspielerInnen beantwortet - was letztlich eine Entsprechung der sehr realen Gewalt darstellt, mit der die Gesellschaft nicht nur auf Transsexuelle und andere Mitgliedern der "Transgender"-Community, sondern letztlich auf jede Transgression der Geschlechter-Grenzen reagiert. 29

Mögen MUDs und MOOs also in einem gewissen Rahmen dazu beitragen, die performativen Aspekte von Geschlechtsidentität wahrnehmbar und erfahrbar zu machen, so legen sie letztlich vor allem anderen Zeugnis über die Reproduktion und Verfestigung der Geschlechterkategorien als Kategorien ab, deren Infragestellung oder Permeabilität von den AkteurInnen dies- wie jenseits der Interfaces nach wie vor als eine existentielle Gefahr wahrgenommen und dementsprechend aggressiv zurückgewiesen wird.

Anders gesagt: Der Rollenwechsel allein kann kaum zu einer Auflösung der tradierten Geschlechterkategorien führen, wenn es lediglich um das "Passing" in einem Feld sozialer Interaktion geht, das letztlich dieselben Strukturen zu reproduzieren sucht, die bereits zur Verfügung stehen. Die scheinbare Transgression findet in einem innerhalb der binären Geschlechtermatrix sanktonierten Rahmen statt. Worüber die MUDs und MOOs am beredtesten Auskunft geben, ist also eine Art "Epistemology of the Closet" 30: Solange eine Transgression der Geschlechtergrenzen zwischen der Geschlechtsidentität, die innerhalb der Spielumgebung bewusst angenommen und gewählt wird und der Rolle, wir auch jenseits der Spielumgebung immer schon spielen, unterdrückt und verhindert wird, bleibt das eigentliche Potential von "Trans/Gender"-Utopien unausgeschöpft.

Insofern trifft auch auf die "(Gender-) Identity-Workshops" der MUDs und MOOs zu, was Sandy Stone als den grössten Verlust beschreibt, den das erfolgreiche "Passing" jener Transsexuellen bewirkt, die ihre "Vergangenheit im anderen Körpergeschlecht" auszulöschen trachten:

"What is lost is the ability to authentically represent the complexities and ambiguities of lived experience, and thereby is lost that aspect of 'nature' which Donna Haraway theorizes as Coyote -- the Native American spirit animal who represents the power of continual transformation which is the heart of engaged life." 31

5. Ein "Gender-Drifter" im World Wide Web: "The Brandon Project" von Shu Lea Cheang
Nun würde ich weder irgendeine 'Authentizität' von Repräsentation einfordern noch auch den Aspekt einer 'Natur' einklagen wollen, die in diesem Fall zudem in einem 'Native American spirit animal' wiederzufinden wäre, wie sie Stone hier zitiert. Worum es mir in diesem Zusammenhang vielmehr geht, sind die "complexities and ambiguities of lived experience", die Produktivität von "Komplexitäten und Uneindeutigkeiten gelebter Erfahrung" ebenso wie die Erfahrung von Brüchen, Grenzen und Differenz(en), die für das Potential von "Trans/Gender"-Utopien - wiederum dies- wie jenseits der Interfaces - ebenso entscheidend sind wie das Moment der Transgression und die hier ausdrücklich benannte Fähigkeit zur "kontinuierlichen Transformation".

Was ich mit einer solchen Vorstellung verbinde, möchte ich abschliessend am Beispiel einer künstlerischen Arbeit erläutern, die sich gezielt des Word Wide Web als medialer Schnittstelle zwischen realem und virtuellen Raum bedient, um historisch wie gegenwärtig von sozialen, medizinischen und juristischen Diskursen sanktionierte Realitäten von "Transgender" mit verschiedenen Narrationen und Fiktionen im Spannungsfeld von Technologie und Geschlecht zu verschränken und auf diese Weise neu zu verhandeln.

Mit seinem Titel knüpft Shu Lea Cheangs "The Brandon Project" (1995-1999) 32 an den Fall Teena Brandon an, einer jungen Frau aus der amerikanischen Provinz, die ihr Elternhaus verlässt, um in einem kaum vierzig Kilometer entfernten Nachbarort ein 'neues Leben' als Brandon Teena zu beginnen. Sie verwandelt sich in einen Jungen, der mit seinen neuen Kumpels herumhängt, spielt und trinkt - aufgrund seiner Zärtlichkeit und Höflichkeit jedoch weitaus erfolgreicher als diese die Mädchen verführt. Auf diese Weise gelingt es Brandon, die Fiktion (s)einer neuen Identität aufrecht zu erhalten und sich mit kleinen Betrügereien erfolgreich durchzuschlagen - bis Ende 1993 in Folge einer Verhaftung sein bzw. ihr anatomisches Körpergeschlecht aufgedeckt, und sie von zwei jungen Männern ihrer "Clique" zunächst brutal vergewaltigt, knapp eine Woche später ebenso brutal ermordet wird. In den Staaten erregten der Mordfall wie auch seine aussergewöhnlichen Hintergründe grosses Aufsehen und eine anhaltende Publizität in den Medien, und insbesondere für die amerikanische "Transgender"-Community wurde Brandon rasch zur Kultfigur. 33

Allerdings geht es in der webbasierten und mit verschiedenen Interfaces wie auch Extensionen in den realen Raum operierenden Arbeit Shu Lea Cheangs weder um eine dokumentarische Aufarbeitung des Falles noch auch um eine Heroisierung des Opfers. Vielmehr versucht das auf die Zusammenarbeit zahlreicher KünstlerInnen, AutorInnen und Institutionen angelegte Projekt, das "Brandon" als "Gendernaut" 34 in den Cyberspace entlässt, die prekären Suggestionen des scheinbar Faktischen von vornherein zu unterlaufen, indem es mit seinen multiplen Schichtungen, Verknüpfungen und Oszillationen widersprüchlicher Bilder, Erzählungen und Diskurse eine Vielfalt von Perspektiven auf und für "Transgender" eröffnet - und damit einen Raum für "Trans/Gender"-Utopien schafft.

Über eine in Endlosschleifen tanzende Titelanimation, die das im Hinblick auf das Körpergeschlecht indifferente Piktogramm eines Säuglings in die klassischen "Toiletten-Signets" von "Männlein" und "Weiblein" morpht (Yariv Alterfin), gelangt man zunächst auf das "Bigdoll Interface" (Cheang), ein mosaikartig zusammengefügtes Tableau aus rasch wechselnden Einzelbildern. Schlaglichtartig geben diese den Blick frei auf abgebundene Brüste, in Unterhosen gestopfte Socken und andere transvestische Kniffe, aber auch gepiercte Körperteile und tätowierten Hautpartien - Momentaufnahmen an der Oberfläche, an der sich ("Trans"-)"Gender" kommuniziert und die es mit der Maus zu ertasten gilt, bevor sich der Zugang zum "Roadtrip-Interface" öffnet.

Mit diesem geraten wir auf einen von Jordy Jones, Susan Stryker und Cherise Fong gestalteten "Lost Highway", zwischen dessen "Dead Ends" mit Motels, Bars und Tankstellen zahlreiche Stationen liegen, die zu teils dokumentarisch, teils fiktional angelegten Begegnungen mit "Brandon" und anderen Menschen führen, deren Transgression der Geschlechtergrenzen die Gesellschaft mit physischer wie psychischer Gewalt und medizinischen, psychiatrischen oder juristischen Ein- und übergriffen beantwortet hat. Einige dieser Stationen erweisen sich jedoch auch ihrerseits als Interfaces, die zu Dialogen einladen oder auf weitere Ebenen des Projekts führen.

So wird über das "MooPlay-Interface" ein von drei AutorInnen (Pat Cadigan, Lawrence Chua und Francesca da Rimini) parallel bzw. dialogisch entwickeltes, mehrstimmiges Spiel um wechselnde Identitäten und Geschlechter eröffnet, das sich linearen Erzählweisen absichtsvoll verweigert, um - etwa auch durch eingelassene "Chat-Fenster" - den Netzraum zu einem kombinatorischen Spielfeld fragmentarischer und stets neu zusammenzufügender Hypertext-Narrationen werden zu lassen.

Das "Panopticum Interface" (erstellt von Beth Stryker und Aurelia Harvey) wiederum beherbergt in den Zellen seines Rundbaus nicht nur verschiedene Fälle der Kriminalisierung und der medizinischen wie psychiatrischen Zurichtung unter den Vorzeichen von Rasse, Klasse und Geschlecht, wie ihnen insbesondere "Transgender"-Existenzen bis heute unterliegen, sondern auch den Zugang zu einem "Theatrum Anatomicum", das seinerseits als Interface ausgestaltet ist. Basierend auf Zeichnungen J. Zeuners (1773) rekonstruiert es das historische Theatrum Anatomicum von Amsterdam, dessen ehemalige Räumlichkeiten sich im Stadtschloss "De Waag" befinden, das heute ein Medienzentrum beherbergt. In Zusammenarbeit mit diesem sowie weiteren Institutionen 35 wurden von Cheang im Rahmen des Projektes bislang mehrere Live-Events organisiert, an denen sich ihrerseits über die Webseite auch NetzteilnehmerInnen beteiligen konnten.

1998 waren diese aufgerufen, Online an der Konferenz "DigiGender, Social Body. Under the knife, under the spell of anesthesia" teilnehmen, einer im "Theatrum Anatomicum" inszenierten "öffentlichen Sektion am sozialen Körper", die von einem Panel aus eingeladenen KulturktitikerInnen, MedizinerInnen, PsychiaterInnen, "Transgender"-AktivistInnen und im "Cyborg"-Kontext arbeitenden NetzpraktikerInnen vorgenommen wurde; 1999 lud Cheang über das von in der britischen "Transgender"-Community engagierten KünstlerInnen wie Hans Scheirl, Svar Simpson und Del LaGrace Volcano gestaltete "Body of Evidence"-Interface in einen "Virtual Court" ein, in dem ausgewählte Fälle von sexuellen übergriffen sowie Zensur und Strafverfolgung entsprechender medizinisch oder juristisch indizierter "Devianz" im Netzraum zur Verhandlung kamen. Wiederum waren nicht nur im Vorfeld ExpertInnen aus einschlägigen Arbeitszusammenhängen zur Teilnahme gebeten, sondern auch ein Fenster zur Netzöffentlichkeit aufgemacht worden - die sich diesmal über einen komplexen Fragebogen um eine Teilnahme als Geschworene bewerben konnten, der vorgeblich die Kandidatinnen auf ihre "Stressresistenz" überprüfen sollte. Tatsächlich aber versammelte er Fragen aus jenen Persönlichkeitstests, mit denen bis heute in psychiatrischen und gerichtsmedizinischen Zusammenhängen Menschen klassifiziert werden - zum Beispiel auch dann, wenn sie sich einer Hormonbehandlung oder einer operativen Geschlechtsumwandlung unterziehen wollen.

Ursprünglich für den Zeitraum 1997-1999 projektiert, hat sich Shu Lea Cheangs "Brandon" auf diese Weise über die verschiedenen Phasen seiner Realisierung wie auch der begleitenden Performance-Events und insbesondere über seine gezielte Ausrichtung auf Kollaborationen und Interaktionen On- wie Offline zu einem hochkomplexen Gebilde entwickelt, das an der Schnittstelle zwischen realem und virtuellem Raum, Dokumentation und Fiktion, wissenschaftlicher und juridischer Setzungen und künstlerischen Interventionen, individuellen Lebensentwürfen und gesellschaftlichem Kontext auch über seine eigenen "Grenzen" hinausweisend den "Nicht-Ort" von "Trans/Gender"-Utopien als "Temporäre Autonome Zone" 36 reklamiert.



1 Der folgende Text ist die um mehrere Kapitel gekürzte Version eines umfangreicheren Manuskripts, dessen erste Fassung im November 1999 auf einem Symposium im Rahmen der von Elke aus dem Moore kuratierten Ausstellung "Mondo Immaginario" in einem Vortrag mit dem Titel "Gendernauts im Netz" in der Shedhalle Zürich vorgestellt wurde. Nicht aufgenommen werden konnte in die vorliegende Fassung u.a. eine ausführlichere Diskussion der theoretischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit Figurationen des/der Cyborg im Hinblick auf deren Potentiale zur Transgression von Geschlechtergrenzen.

2 Allucquère Rosanne Stone: The Empire strikes Back. A Post Transsexual Manifesto. 1993; http://eng.hss.cmu.edu/gender/the-empire-strikes-back.txt [last access 02. 08. 1997].

3 Vgl. die "Transgender"-Homepage von S. Stone; http://www2.links2go.com/more/www.actlab.utexas.edu/~sandy [last access 10. 11. 1999], ebd. u.a. auch ein ausführliches Schriftenverzeichnis. Für den hier behandelten Zusammenhang vgl. insb. Allucquère Rosanne Stone: The War of Desire and Technology at the Close of the Mechanical Age. Cambridge/Ms. 1996.

4 Vgl. Teresa de Lauretis: Technologies of Gender. Essays on Theory , Film and Fiction. Bloomington 1987.

5 Vgl. Haraway, Donna: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. In: dies. Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Hrsg. von Carmen Hammer / Immanuel Stieß.Frankfurt/New York 1995, S. 33-72; sowie dies., Monströse Versprechen. Hrsg. Frigga Haug / Kornelia Hauser. Hamburg 1995. Auf Haraways überlegungen bezieht sich auch Stone 1993.

6 Vgl. die "Trangsgender"-Homepage von S. Stone; http:///www.actlab.utexas.edu/~sandy [last access 10. 11. 1999].

7 Vgl. u.a. Marjorie Garber: Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst. Frankfurt/M. 1993.

8 Vgl. Michel Foucault: über Hermaphroditismus. Der Fall Barbin. Frankfurt/M. 1998; sowie Alice Domurat Dreger: Hermaphrodites and the Medical Invention of Sex. Cambridge 1998; empfehlenswert zum Thema Intersex ist die Homepage von M. Boedeker, http://www.sonic.net/~/ekzu/index.htm [last access 10. 11. 1999], ebd. u.a. auch weiterführende Literatur.

9 Vgl. die ebd. von S. Stone vorgenommene Definition des Begriffs (in den Klammern von mir so weit als möglich erläutert bzw.ergänzt). Vgl. weiterführend zum Themenkomplex Transsexualität/Transgender u.a. Gesa Lindemann: Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl. Frankfurt/M. 1993; Kate Bornstein: Gender Outlaw. On Men, Women, and the Rest of Us. New York/London 1994; Current Concepts in transgender identity. Hrsg. von Dallas Denny. New York 1998.

10 Vgl. Alfred Kinsey: Sexual Behaviour in the Human Male. New York 1948. Fünf Jahre Jahrr später erschien das Komplement Sexual Behaviour in the Human Female. New York 1953.

11 Stone 1993.

12 Zusammengesetzt aus griech. "u-" = nicht und "topos" = der Ort. Gängigen Definitionen in Literaturlexika nach bezeichnet er - abgeleitet aus dem Titel von Thomas Morus' Staatsroman 'Utopia' - einen "nur in gedanklicher Konstruktion erreichbaren, praktisch nicht zu verwirklichenden Idealzustand von Staat und Gesellschaft", wohingegen die (nicht notwendigerweise einen Idealzustand entwerfenden) wissenschaftlich-techni(zisti)schen Utopien des Science-Fiction dieser enggeführten Definition nach Utopien beschreiben können, aber nicht müssen; vgl. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 1979, S. 872/873.

13 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. 1991, S. 218.

14 Ebd., S. 215/216.

15 Ebd., S. 218.

16 Von der technologischen Seite her liesse sich das World Wide Web als eine graphische Oberfläche beschreiben, die sich aus auf Servern liegenden Hypertext-Dokumenten zusammensetzt. über ein Netzwerk verknüpft sind zunächst einmal diese Server, während Verknüpfungen der Dokumente als solcher in den Dokumenten selbst angelegt sein müssen - oder eben lediglich 'virtuell' über den Prozess des Surfens 'auf dem WWW' entstehen. Mehr noch als um ein "Netzwerk" im eigentlichen Sinne würde es sich beim World Wide Web aus dieser Perspektive betrachtet mithin um die Repräsentation eines Netzwerkes handeln.

17 Vgl. Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität. München 1993, S. 727.

18 Vgl. Stone 1993.

19 Eine digitalisierte Ausgabe des Buches findet sich online unter www.symposium.com/ijt/benjamin [last access 28. 12. 1999].

20 "It was necessary to construct the category "Transsexual" along customary and traditional lines, to construct plausible criteria for acceptance into a clinic" (Stone 1993). Vor dieses Problem sahen sich vice versa auch diejenigen Forscher gestellt, die versuchten, eine Pathologie der Transsexualität zu entwerfen, um deren operative Behandlung in einem offiziellen klinischen Rahmen überhaupt erst zu ermöglichen. Für eine künstlerische Auseinandersetzung mit im medizinischen und psychiatrischen Zusammenhang verwendeten Testverfahren zur Bestimmung der Geschlechtsidentität, wie sie auch zur Generation und Perpetuierung entsprechender Mustern von Transsexualität beitragen vgl. Gregory Patrick Garvey: "Gender Bender" (1996/97), http://www.digearth.bcit.bc.ca/dedocs/ggarvey/GBframe2.html [last access 10. 11. 1999] sowie das im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes ausführlicher vorgestellte "Brandon Project" von Shu Lea Cheang.

21 Beide beziehen sich explizit auf die Printmedien, insbesondere die wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Literatur, darunter Biographien und Autobiographien, Runte zudem auf Romane und Novellen.

22 In Auseinandersetzung mit den von Kaja Silverman ihn ihrem gleichnamigen Aufsatz (1983, dtsch. in Eiblmayr 1994, S. 40-47) entwickelten Thesen haben den Begriff der "Suture" für die deutschsprachige Kunst- und Medientheorie insb. Silvia Eiblmayr fruchtbar gemacht; vgl. u. a. Suture. Phantasmen der Vollkommenheit (Ausst. Kat.), Hrsg. von Silvia Eiblmayr, Salzburger Kunstverein. Salzburg, sowie - neben älteren Publikationen - insb. Katharina Sykora: Unheimliche Paarungen. Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie. Köln 1999.

23 Alles andere als ein im Hinblick auf geschlechtliche Kodierungen neutraler Raum ist das Netz vielmehr eine "contested zone", wie es die feministische Kulturtheoretikerin Kay Schaffer formuliert, ein umkämpftes Terrain, das zunächst einmal eben nicht nur den denselben Machtinteressen, sondern auch denselben Geschlechterpolitiken unterliegt wie andere gesellschaftliche Bereiche auch. Zur Problematik der Repräsentation von Geschlecht im World Wide Web und deren (cyber)feministischer Kritik, vgl. Verena Kuni: Die Flaneurin im Datennetz. Wege und Fragen zum Cyberfeminismus. In: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. Hrsg. von Sigrid Schade / Georg Christoph Tholen. München 1999, S. 467-485; sowie weiterführend die beiden Reader zur "First Cyberfeminist International", Kassel 1997 (Hrsg. von Cornelia Sollfrank, Hamburg 1998) und zur "Next Cyberfeminist International", Rotterdam 1999 (Hrsg. von Cornelia Sollfrank, Hamburg 1999).

24 Insofern ich hier nicht weiter auf inzwischen recht breite und weitere im Wachsen begriffene Präsenz und die Aktivitäten eingehen werde, mit denen sich auch die "Transgender"-Community (oder besser: die unterschiedlichsten "Transgender"-Communities) im Internet und seinen verschiedenen Diensten, namentlich FTP-Servern, Mailinglisten, Newsgroups, IRC und vor allem anderen natürlich auf dem Word Wide Web behauptet. Das hier von zahreichen Initiativen und Einzelpersonen bereitgestellte Angebot reicht von in der Regel liebevoll gestalteten, inhaltlich wie qualitativ allerdings recht inhomogenen privaten Homepages über Fanzines, Kongress- und Festivaldokumentationen bis hin zu den Homepages von Forschungszentren und Organisationen, die Ressourcen und Informationen zu den unterschiedlichsten Fragen und Themen im Umkreis von "Transsexualität" und "Transgender" bereitstellen.

25 Die Frage kann also nicht nur lauten "Wie agiere ich als 'Neutrum'?", sondern auch "Wie interagiere ich als 'Neutrum' mit einem 'Neutrum'?", "Wie interagiere ich als 'Frau' mit einem 'Neutrum'?" oder "Wie interagiere ich als 'Neutrum' mit einem 'Mann'?" usw. usf.

26 Vgl. Amy Bruckmann: Gender Swapping on the Internet. 1993; http://www.oise.on.ca/~jnolam/muds/asb/gen [last access 08.11. 1999].

27 Vgl. neben Bruckmann 1993 u. a. Elizabeth Reid: Identity and the Cyborg Body. 1994, http://www.rochester.edu/College/FS/Publications/ReidIdentity.html [last access 07. 08. 1999] (ein Auszug aus Reids Dissertation gleichen Titels, Melbourne 1994); Shannon McRae: Flesh Made Word. Sex, Text and the Virtual Body. In: Internet Culture. Hrsg. von David Porter. London/New York 1997, S. 73-86 u. Mizuko Ito: Vitually Embodied. The Reality of Fantasy in a Multi-User Dungeon. In: Porter 1997, S. 87-110.

28 In Auseinandersetzung mit dieser Problematik versuchte die Künstlerin Evelyn Teutsch ihrem MOO-Projekt "FOOGUE" (1997/1998), mit diesen Regularien zu experimentieren und nicht nur zum Rollenspiel mit verschiedenen Geschlechtsidentitäten, sondern auch zum Input realer Daten einzuladen - was sich in der Praxis jedoch als schwierig erwies. Vgl. Evelyn Teutsch: FOOGUE. 1997/1998, http://www.foogue.unu.nu [last access 10. 11. 1999], sowie ebd. abgelegt auch das Manuskript des zus. mit Birgit Huber erarbeiteten Vortrags Die Vision vom Cyborg im Cyberspace - Welten jenseits von männlich und weiblich?, gehalten im Rahmen der Volkskunde-Tagung "Männersachen-Frauensachen", Münster, 02. - 04. 06. 1998.

29 Entsprechend häufig werden in der Literatur Fälle diskutiert, in denen Netznutzer (seltener: -Innen) über längere Zeit hinweg eine komplementäre Geschlechtsidentität simulierten, deren "Entlarvung" im Sinne einer Aufdeckung des "wahren Geschlechts" (wie es Foucault zu Recht problematisierte) zu entsprechenden Sanktionen in der jeweiligen Netzgemeinschaft führte. Explizit wird die Problematik von Gewalt als Reaktion auf Transgressionen von Geschlechtergrenzen in Shu Lea Cheangs "Brandon Projekt" thematisiert, vgl. Kap. 5 dieses Aufsatzes.

30 Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemology of the Closet. Berkeley 1990.

31 Vgl. Stone 1993.

32 Vgl. http://brandon.guggenheim.org [last accessed 28. 12. 1999]. Nachdem Cheang mit ersten Vorarbeiten bereits 1995 begonnen hatte, wurde mit dem Launch des "Brandon"-Projekts im Juni 1998 der für künstlerische Projekte reservierte Bereich auf der Homepage des Guggenheim Museums offiziell eröffnet. 1999 sollten die Arbeiten am Projekt ihren Abschluss finden.

33 Bis zum heutigen Zeitpunkt sind unzählige Artikel in den (US-amerikanischen) Printmedien sowie Online erschienen, die den Fall und den Prozessverlauf gegen die beiden Täter diskutieren, vgl. u. a. John Gregory Dunne: The Humboldt Murders. In: The New Yorker, 13. 01. 1997, S. 44-62. Darüber hinaus wurde er bislang zum Stoff eines im Stil der Sensationsreportage verfassten Buches von Aphrodite Jones: All she wanted. New York 1994; sowie zweier filmischer Bearbeitungen, der dokumentarisch angelegten Studie "The Brandon Teena Story" (USA 1998) von Susan Muska/Gréta Ólafsdottir und dem Spielfilm "Boys don't Cry" (USA 1999) der Regisseurin Kimberly Pierce, der seit Februar diesen Jahres auch in bundesdeutschen Kinos läuft.

34 In Referenz auf den Titel von Monika Treuts gleichnamigen Film "Gendernauts. A Journey through shifting Identities" (1999), der Leben und Arbeit einer Reihe von "Transgender"-AktivistInnen in der Bay Area dokumentiert und dem im ursprünglichen Manuskript ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Cheang selbst spricht von "Brandon" als einem "Drifter" (einem "Getriebenen" bzw. "Herumtreiber").

35 Neben dem Guggenheim-Museum, New York und der Society for Old und New Media, De Waag, Amsterdam waren in den verschiedenen Projektphasen unter anderem das Banff Center for the Arts, Kanada, das Institute on the Arts and Civic Dialogue der Harvard University sowie verschiedene Kunstinstitutionen, Stiftungen und Universitätsinstitute in den Niederlanden, Grossbritannien, Kanada und den Vereinigten Staaten beteiligt, an der inhaltlichen und ästhetischen Gestaltung wirkten zahlreiche von Cheang eingeladene GastkuratorInnen, KünstlerInnen, MediendesignerInnen, TheoretikerInnen aus verschiedenen Fachgebieten, die zum Teil selbst der "Transgender"-Community angehören, mit.

36 Vgl. Hakim Bey: T.A.Z. Die Temporäre Autonome Zone. Berlin/Amsterdam 1994.


[Der Text ist erschienen in: xx-xy-xxl. Alternative Körper, FrauenKunstWissenschaft, Heft 29, Juni 2000, S. 6-20]
www.frauenkunstwissenschaft.de


Kontakt zur Autorin:
Verena Kuni M.A., Frankfurt/Main
Verena Kuni www.kuni.org/v


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