Glatte Physiognomie - Vom Nutzen schematischer Zeichnungen – Teil XXVIII

 

            Gerhard Dirmoser – Linz  12.2004  gerhard.dirmoser@energieag.at

 

Dank an: Josef Nemeth (+), Boris Nieslony, Astrit Schmidt-Burkhardt, Kristóf Nyíri, Bruno Latour,

Peter Weibel, TransPublic, Walter Pamminger, Sabine Zimmermann, Tim Otto Roth,

Walter Ebenhofer, Franz Reitinger, Steffen Bogen, Mathias Vogel, Alois Pichler,

Lydia Haustein, Josef Lehner, Bernhard Cella

 

Wenn man sich den Kopf darüber zerbricht, wie die Konstruktion komplexer PKW-Karosserien im Rahmen der technischen Zeichnung möglich ist, dann stößt man an eigenartige Grenzen. Wie schon beim Photogramm angesprochen, gehen in der Parallelprojektion bestimmte Informationen verloren. Anders formuliert: wenn es sich um Formen handelt, die sich nicht aus einfachen geometrischen „Grundkörpern“ zusammensetzen, dann reichen die 3 Standardansichten oder Risse nicht für eine vollständige Beschreibung aus.

Man benötigt entweder hunderte Schnitte, oder komplexe Zusatzlinien, die u.a. kontinuierliche Veränderungen von Radienparametern repräsentieren.

 

Die fluidalen Formen dieser Designobjekte sind also ähnlich wie Menschenkörper in der technischen Zeichnung ein Problem (Das Glatte als Problem). Nun steht aber für Architekturentwürfe und für virtuelle Filmszenen Software zur Verfügung, die auch komplexe Faltungen gestalten hilft.

Ist das Repräsentationsproblem bereits gelöst?

 

Im Zuge der Karosserie-Betrachtungen fällt auf, daß man die meisten Formen nur physiognomisch besprechen kann (man hat es eher mit einer Zoologie zu tun als mit einer technischen Formenkunde).

Wenn man dann noch bedenkt, daß G. Böhme in seinen Atmosphären-Studien immer auch physiognomische Fragen mit abhandelt, dann kommt man nicht umhin, die Konzepte von Deleuze und Böhme gemeinsam in eine Betrachtung einzubeziehen.

 

Unterstützung in diese Richtung findet man in einem Text von Ingo Zechner (IZ), der sich bei  Raumkonzepten auf die Kriterien glatt /vs/ gekerbt von Deleuze & Guattari bezieht.

http://members.chello.at/ingo.zechner/Zechner_Vortrag_Raum_2001-06-09.pdf

 

            (IZ) Es war ihre Unterscheidung eines glatten und eines gekerbten Raumes und

            ihre Verbindung mit den Begriffen eines haptischen und eines optischen Raumes.  

 

Ohne bei Didi-Hubermann das Konzept glatt /vs/ gekerbt als Grundunterscheidung finden zu können, muß man natürlich sofort an sein Buch „Die leibhaftige Malerei“ (über die Darstellungs-probleme der menschlichen Haut) und das Buch „Ähnlichkeit und Berührung“ denken.

 

            (IZ) Meine These: Die Konzeption des Raumes bei Deleuze und Guattari verdankt

            sich der Ästhetik (.... genauer gesagt: der Wahrnehmung bzw. aisthesis)

 

            (IZ)  In dem Abschnitt „Das Glatte und das Gekerbte“ [TP 657-693] erläutern

            Deleuze und Guattari mehrere Modelle, in denen sich die Unterschiede zwischen den

            beiden Raumtypen manifestieren: unter anderem ein mathematisches, ein physikalisches,

            ein technisches und zuletzt auch ein ästhetisches. Mein Argument ist es, daß dieses Modell

            der Ästhetik nicht ein Modell unter anderen ist, sondern daß sich die Differenz von

glatt und gekerbt in der ästhetischen Erfahrung konstituiert – und daß diese Erfahrung die gesamte Raumkonzeption inspiriert.

Deleuze und Guattari berufen sich ausdrücklich auf Riegl, wenn sie vom glatten als

einem taktilen oder haptischen Raum und vom gekerbten als einem optischen Raum

sprechen.

 

Was hier in Bezug auf Raumwahrnehmung formuliert vorliegt, würde ich auch 1:1 auf die Fragen und Konzeption der Diagrammatik übertragen (Diagramm /vs/ mimetisch-physiognomische

Aspekte).

 

            (IZ) Riegel unterscheidet zwischen zweierlei Flächen:

zwischen ebenen und gekrümmten – und er begreift diese Unterscheidung als elementar.

            (IZ) „Das Auge verrät uns nur Ebenen“, sagt Riegl. Nur die Erfahrung lässt uns krumme

            Umrisse und dunkle Farbflecken als Anzeichen von Tiefe wahrnehmen.


Siehe auch B. Cache: Our brain is not the seat of a neuronal cinema that reproduces

            the world; rather our perceptions are inscribed on the surface of things, as images

            amongst images.

            Genau diese Stelle findet sich auch als Zitat bei O. Schürer: Unser Gehirn ist kein

neuronales Kino, das die Welt reproduziert, sondern unsere Wahrnehmung ist vielmehr

in die Oberfläche der Dinge eingeschrieben, als Bild unter anderen Bildern.

 

Anmerkung: Vergleiche dazu auch die Diplomarbeit von Oliver Schürer (Wien) (als Architekturtheoretiker befragt er die Raumkonzepte von Deleuze).

 

Auch im Bereich der Diagrammtypen kann man (in der Diagrammatik) diese Grenzlinie markieren.

Der Typ 09 bezieht komplexe Faltungen und fluidale Formen also gekrümmte Flächen auf jeden Fall mit ein, wogegen der Typ 10 (die Architektonik) und der Typ 11 (technische Zeichnungen) noch stark in der konventionellen Geometrie der ebenen Flächen (der Frames) verhaftet sind.

 

            Siehe B. Cache: Rather architecture is „the art of the frame“, and the „architectural“ in

            things is how they are framed.

 

 

 

01

02

03

 

E1

 

04

05 

06 

07

08

E2

 

 

09 

10 

11

 

E3

 

(IZ) Anders als in den sensualistischen Spekulationen von Condillac haben wir es also immer schon mit einer Konstellation von mindestens zwei Sinnesmodalitäten zu tun, wenn

von einem haptischen oder optischen Raum die Rede ist: mit einer Konstellation wechselseitig dominierenden Partnern. Wenn man will, kann man von einem haptischen oder optischen Regime sprechen.

 

Wenn man diese These der zwei Sinnesmodalitäten ernst nehmen würde, dann hätte man ein Kriterium, um die meisten Diagrammtypen vom Bereich der mimetischen Bilder abzugrenzen.

Gleichzeitig wird so der Typ der Faltungen wichtig, da er eine vermittelnde Rolle spielen kann.

 

            (IZ) Wenn Deleuze haptische Räume gegenüber optischen privilegiert, dann nicht weil er

            zu den reinen geschlossenen Formen tendiert – im Gegenteil. Was ihn daran fasziniert

ist das Moment des Abtastens: einen Raum nicht überblicken, sondern sich in ihm vorantasten.

 

            (IZ) Der glatte Raum ist durch eine Nahsichtigkeit bis zum Sichtverlust ausgezeichnet.

 

Mit dieser Formulierung schafft man den Bogen zu den Atmosphären-Konzepten von G. Böhme.

U.a. mit Plessner wird dort ja abgehandelt, wie sich der Leib in dunklen Situationen großer

Räume zurecht findet (vorantastet), ohne dabei den Überblick haben zu müssen.

 

Im nächsten Abschnitt geht Ingo Zechner auf den Diagramm-Begriff ein, womit klar wird, daß auch er die diagrammatischen Fragestellungen im Spannungsfeld der Begriffe glatt /vs/ gekerbt ansiedelt (auch wenn er primär die Raumfragen im Blick behält).

 

            (IZ) Für Bacon und für Deleuze ist das Diagramm für sich selbst aber noch kein

            pikturales Faktum, es ist eher ein Keim: „ Das Diagramm ist zwar ein Chaos, aber auch der

Keim von Ordnung und Rhythmus“. Ein Keim für ein ebenso anorganisches wie organisches Leben, das in ihm noch nicht präformiert ist.

            Das Diagramm entwirft ungeahnte Möglichkeiten – nicht beliebige hypothetische

            Möglichkeiten, sondern faktische Möglichkeiten.

 

Auch wenn der Kommentar von Zechner nur für die Bacon-Analyse gilt, ist das Zitat in Bezug auf die Fragen der Ordnung und den Rhythmus spannend. Siehe dazu die Module II und XVI.

Deleuze selbst hat natürlich einen viel weiter gesteckten Diagramm-Begriff.

 

            (IZ) Deleuze und Guattari ... gehen vom flüssigen Aggregatzustand aus, statt vom festen.

(IZ) Deleuze und Guattari gehen aus vom Metall im geschmolzenen Zustand. An ihm entwickeln sie den Begriff einer kontinuierlichen Variation – einer permanenten Transformation im Unterschied zur vollendeten Form.

 

Gerade hier muß man natürlich an Eisenman und sein 40 Transformationsansätze denken

(diagram diaries).


 

(IZ) „Glattes und Gekerbtes unterscheidet sich zuerst durch die umgekehrte Beziehung von Punkt und Linie (die Linie zwischen zwei Punkten im Falle des Gekerbten, der Punkt

            zwischen zwei Linien beim Glatten). Zum zweiten unterscheiden sie sich durch die

Art der Linie:

(gerichtet-glatt, offene Intervalle;

dimensional-gekerbt, geschlossene Intervalle).

Und schließlich gibt es einen dritten Unterschied, der die Oberfläche oder den Raum

betrifft. Im gekerbten Raum wird eine Oberfläche geschlossen, und entsprechend den

festgelegten Intervallen, nach den festgelegten Einschnitten „teilt man sie wieder auf“;

beim Glatten wird man in einem offenen Raum „verteilt“ [...] (Logos und Nomos).“

 

            (IZ) Deleuze und Guattari unterscheiden strikt zwischen „Aufteilung“ und „Verteilung“,

            zwischen Logos und Nomos – streng genommen müsste man deshalb eher von einem

            Nomos des Raumes als von einer Logik des Raumes sprechen, wenn an glatte Räume

            gedacht wird.

 

            Anmerkung: Siehe dazu auch Bernard Cache

 

Die Fragen der Aufteilung (und der Verbindung) wurde ja bereits in mehreren Modulen der Studie diskutiert. Die Frage der Verteilung erinnert wieder an Fragen der atmosphärischen Studien.

 

Die Richtungsfrage und die Orientierungsfrage wurde für die Linien schon im Kontext der

Maschinenzeichnungen thematisiert (Steffen Bogen). Die Kräftelinien, Feldlinien, energetischen

Wirbel oder Visualisierungen von Relativbewegungen sind anders als die Konturenlinien orientiert.

 

            (IZ) Deleuze und Guattari träumen von einer delirierenden Linie, die sie „abstrakte

            Linie nennen“: von einer Linie, „die nichts eingrenzt, die keinen Umriss mehr zieht, die

            nicht mehr von einem Punkt zum anderen geht, sondern zwischen den Punkten

            verläuft, die unaufhörlich von der Horizontalen und von der Vertikalen abweicht und sich

            ständig von der Diagonale löst, indem sie unaufhörlich die Richtung wechselt [...] eine

            kontinuierliche Variation“.

 

Diese delirierende Linie beschreibt perfekt die Fragen komplexer Faltungen. Da Deleuze sich auch in diesem (förmlich so komplexen) Zusammenhang auf die Möglichkeiten einer Linie beruft (und nicht zB. den Begriff des Feldes bemüht), meine ich behaupten zu können, daß er im Rahmen einer erweiterten Diagrammatik argumentiert.

 

Schönen Dank an Ingo Zechner für seine Aufarbeitung.

 

Im Zuge dieser Fragestellungen des Haptischen, wurde mir im Rahmen des Medienschemas bewußt, das die Diagrammatik so zu sagen versucht, in andere „Methodenräume“ vorzudringen.

Als unmittelbares Gegenüber kann man sich die Linguistik vorstellen und zusätzlich werden bei diesem „Übergriff“ auch Fragen der Materialität, Performativität und Emotionalität mit thematisiert.

 


 

Versuch einer Gegenüberstellung:

glatt

gekerbt

Komplexe fluidale Formen

Zusammensetzungen aus einfachen geometrischen Formen oder Körpern

 

Flächen bestimmen der Raum    (NW)

Gekrümmte Flächen (Riegl)

Ebene Flächen (Riegl)

Komplexe Faltungen

 

Physiognomische Fragestellungen

 

glatter Raum

gekerbter Raum

Glatter Raum (Meer)      (NW)

Gekerbter Raum (Land/Stadt)       (NW)

 

Kerbe, Riß und Bruch (Materialprüfung)

Haptischer Raum

Optischer Raum

vom glatten als einem taktilen oder haptischen Raum

vom gekerbten als einem optischen Raum

 

Haptisches Regime

Optisches Regime

Am Material gestreutes, gebrochenes, gebeugtes und farbverfälschtes Licht

Optik und „idealer“ Lichtstrahl (bzw. Diagramm

des Lichtes)

taktile/haptische nahsichtige Situation

Optisch-taktile fernsichtige Situation

Sich in einem Raum vorantasten

Einen Raum überblicken

Das anexakt Runde

Der exakte Kreis

Flüssiger Aggregatzustand

Fester Aggregatzustand (kristallin)

Verteilung

Aufteilung

Nomos

Logos

Nomos des Raumes (bei glatten Räumen)

Logik des Raumes

Punkt zwischen zwei Linien

Linie zwischen zwei Punkten

gerichtet-glatt, offene Intervalle

dimensional-gekerbt, geschlossene Intervalle

Interesse am Faltenwurf

 

 

Einige Ergänzungen waren mit einem Text von Niels Werber (NW) möglich.

 


 

Im Zuge der Analyse der Bilder von Josef Nemeth und den Fragestellungen, inwieweit die Diagrammatik eher etwas mit Zeichnungen als mit Malerei zu tun haben könnte, hat sich eine ähnliche Polarisierung ergeben (die sich jedoch in einigen Punkten von der Bacon-Analyse

unterscheidet.

 

glatt

gekerbt

Flächige Gesten

Lineare Gestenspuren

Malerei = Faltung

Zeichnung = Knotung

Malerei = physiognomisch orientiert

Collage als diagrammtischer Umgang mit physiognomischen Materialien

Malerei = flächig

Zeichnung = linear

Malerei = das Glatte

Zeichnung = das Gekerbte

Malerei = Fleck

Zeichnung = Umriß / Silhouette

Malerei = Füllung (der Vorzeichnung)

Zeichnung = Umrandung

Umhüllung, Einhüllung

Umrandung

Malerei = materiell

Zeichnung = (materiell) abstrakt

Malerei = atmosphärisch

Zeichnung = unatmosphärisch

Schummerung als Zeichentechnik

Konturenlinie

Unscharfe, gleitende Übergänge

Scharfe, klare Konturen

Fluidales

Kantige, geometrische Grundkörper

Bionik-Ansätze

 

Textile Architektur

Klassische Architektonik

 

 

 

Umrißfragestellungen

glatt

gekerbt

komplexe Reflexionen glatter gekrümmter Flächen

Ränder aufliegender Objekte beim Photogramm

vollständiger Abdruck

Spurenrand

Innenzeichnung

Schattenrand

Innenzeichnung

Silhouette

o extremes Gegenlicht

o Kontrastverstärkung

o Weglassung (Abstraktion)

o Scherenschnitt

o Laserschnitt

 

Umriß/Aufriß als Riß (der technischen Zeichnung)

Füllungsmoment

Kopierbarkeit durch Weglassung

 

Laserschnitt (Lichtspur) / stark fokusiertes Licht

Spiegelbild am/im Wasser (auf der glatten Oberfläche)

 

 

 

 


 

Weiter oben habe ich argumentiert, daß man bestimmte Diagrammtypen als Übergangsform

von glatt zu gekerbt auffassen kann:

 

(...) Auch im Bereich der Diagrammtypen kann man (in der Diagrammatik) diese Grenzlinie markieren. Der Typ 09 bezieht komplexe Faltungen und fluidale Formen also gekrümmte Flächen auf jeden Fall mit ein, wogegen der Typ 10 (die Architektonik) und der Typ 11 (technische Zeichnungen) noch stark in der konventionellen Geometrie der ebenen Flächen (der Frames) verhaftet sind.

 

            Anmerkung: Die Diagrammatik versucht über die Faltung zaghaft Kontakt zur

            physiognomischen Sicht zu bekommen.

            Deleuze: deframing (décadrage)

 

            B. Cache: An architectural practice that deals with the problem of site thus brings

            three basic images into play the site plan (the orographic map), the vectorial

            sketch (the folded diagram), an finally those geometrical figures (cone, dihedron, prism,

            and plane) that give a cubist appearance to any urban composition.

 

Aber man sollte hier noch einige Schritte weiter gehen:

Im Zuge einer Analyse von Abbildungen sgn. „atmosphärischer“ Situation, ist es gelungen, das Grundschema der Diagrammtypen auf den Bereich des „Glatten“ zu übertragen. (Link)

 

 

 

01

02

03

 

E1

 

04

05 

06 

07

08

E2

 

 

09 

10 

11

 

E3

 

Annäherung über Verben (Schema)

01

verschleifen, einbetten, ineinanderfließen, übergehen, überfließen

02

verdichten

03

umhüllen, umfassen, umfangen, auswachsen, kurven

04

tropfen, pulsen, patzen, zerfallen, auflösen, trennen

05

atmen, duften, durchfließen, schlängeln, folgen

06

wuchern, durchwirken

07

fließen, strömen, durchfluten, zusammenfließen, einmünden

08

ausdehnen, überfluten, heraustreten, überstrahlen, emittieren

09

einfalten, überlagern, verdichten, verschlingen

10

auftürmen, aufschütten, aufspritzen, versauen

11

verlaufen, pulsieren, schwingen

 

            Siehe auch B. Cache: ... to develop „a more fluid logic of connectivity“

 

In dieser Zusammenstellung wird klar, daß es keinen Sinn macht, das Glatte gegen das Gekerbte

bzw. einzelne Diagrammtypen gegeneinander auszuspielen (so wie es auch keinen Sinn macht Formfindungen der Renaissance gegen die des Barock auszuspielen). Die grundsätzliche Unterteilung von zwei Flächentypen scheint sich aber auf jeden Fall zu bestätigen:

 

            (IZ) Riegel unterscheidet zwischen zweierlei Flächen:

zwischen ebenen und gekrümmten – und er begreift diese Unterscheidung als elementar.

 

Anmerkung: Auch über die Sphärenstudien von Sloterdijk kann eine Übertragung des diagrammatischen Grundschemas versucht werden.

 

            Siehe auch B. Cache: ... What emerges from this process is a more fluid logic of involuted

            sacks rather than boxes: “A contains B, which doesn´t prevent B from being able to

            contain A.


 

Einen fundierten Einstieg in diese Fragestellungen bekommt man über das Buch

„Earth Moves – The Furnishing of Territories“ von Bernard Cache. Er war langjähriger Schüler von G. Deleuze ! Cache hat einige Begriffe in sein Fachgebiet übertragen und hat mit seinen Überlegungen wiederum im Bereich der Faltungsfragestellungen Deleuze stark beeinflußt.

Die Veröffentlichung der Schriften von Cache erfolgte aufgrund jener Zitate, die Deleuze in seinen Schriften realisierte.

Noch spannender werden die Cache-Schriften, wenn man mitdenkt, daß der erste Satz seines Buches wie folgt lautet „This book is a classifier of images(But what is an image? ... liest man in einem der Kommentare).

 

            What does it mean to understand image in terms of a space that is

            prior to representation?

 

Auch der Gegensatz der statischen und dynamischen Strukturen kommt unmittelbar zu Sprache:

 

            In this way we see that images belong to a dynamic rather tan a static geography.

 

Was man in den Landschaftsformen (Physiognomie der Landschaft) anspricht, kann auch auf den menschlichen Körper übertragen werden. Auch bei Cache findet man entsprechende Textstellen, die sich wiederum auf die diagrammatische Bacon-Analyse von Deleuze beziehen:

 

            When Cache speaks of „frame images“ in architecture, he is thus not referring to the

            physical frame or skeleton of buildings, and, on the contrary, is attracted to the

            possibilities of Francis Bacon´s images of flesh without bones.

 

            Cache employs the fold as a way to rethink the relationship between body and soul,

            past and present, and between furniture, architecture, and geography.

 

Mit der Topologie besteht ja die Gefahr zu stark in den “tragenden Strukturen” verhaftet zu

bleiben, bzw. einen zu einseitigen Begriff von tragenden Strukturen zu entwickeln (man denke

im Gegensatz zu Skelettstrukturen zB. an blasenartige Traglufthallen und diverse Gurtenansätze).

 

Wenn man den menschlichen Körper und seine Einfaltungen betrachtet, kann man sich Kräfte vorstellen, die nach außen drängen, man kann Muskelgebilde (Stränge, Ringe, Panzer, ...) benennen, die es zu umhüllen gilt (die auch selbst umspannen und umhüllen). Es geht um Organgruppen, die gemeinsam umfaßt bzw. ummantelt werden. Man kann von straffen Zonen und von Falten sprechen. Auf jeden Fall sind alle Körperformen dem sgn. „Glatten“ also den gekrümmten (Ober)Flächen zuzuordnen.

 

            Mehr über die zugrundeliegenden Strukturen erfährt man im Buch „Verkörperte

            Gefühle von Stanley Keleman. Auch wenn man mit der dort vorgestellten Psychologie

            nicht in jeder Hinsicht begeistert sein wird, werden sehr aufschlußreiche Zeichnungen

            angeboten: Anatomie der Teilung, Röhrenentwicklung, Entstehung von Innenräumen,

            vom Pulsieren zur Peristaltik,  Schichtung und Pumpfunktion, ....

 

Glättung durch streckende/straffende Kräfte

Faltungen als das Glatte? Umgangssprachlich würde man ja eher meinen, daß Falten glatt zu streichen (also unglatt) sind. aber in der Opposition glatt /vs/ gekerbt wird ja klar, was von Deleuze gemeint wird.

            In der Membranen-Architektur führen Stützungen, Spanneinrichtungen, ... zu komplexen

            gekrümmten Flächen.

 

Physiognomische Expressivität

Falten als Gesichtszug (Sedimente/Spuren der Performativität)

            (G. Böhme / Atmosphäre) Bei dieser Auffassung von Physiognomie wird ein mehr oder

            minder bestimmtes Wesen unterstellt, das im Strom seiner Äußerungen feste Spuren

            hinterläßt. Die Gesichtszüge eines Menschen zeugen so in Lachfalten von seinem

            fröhlichen Wesen, seine Handschrift hält die Spur einer schwungvollen Bewegung fest.

 

Faltung als Wachstumsbewegung (Faltung als Entfaltung)

            (GB) Ebenso ist die Wachstumsbewegung eines Baumes in seinen Rindenmustern, das

            Aufgehen einer Blüte im Schwung des Stengels und der Geste der Blütenblätter enthalten.


 

Faltungen durch verschiebende bzw. verdrehende Kräfte

Erdgeschichtliche Faltungen

            Die Faltungen der Landschaften haben einen geologische Grundlage, die durch Erosionen

überlagert bzw. modifiziert wurde. Dabei kommt es zu Abtragungen, Verschiebungen und Auftragungen (Anlagerungen). Im übertragenen Sinne könnte auch hier von Wachstums-

bewegungen gesprochen werden.

 

Faltungen als Festigkeitsdiagramm

Materialität und widerstand eines Materials (Siehe: Bauholz gesägt von c. Bartel)

 

Mit dem Material arbeiten oder „schneidend“ bzw. „kerbend“ gegen das Material arbeiten.

 

Faltungen als einladende Bewegungsanmutungen

            (GB) Bei dieser Auffassung ist es nicht nötig, ein inneres Wesen anzusetzen, das sich durch

            die Züge oder in ihnen als Resultat manifestiert. Die Züge werden selbst als die Weise

            genommen, in denen ein Ding sich präsentiert. Die Züge brauchen nicht als Spuren von

            Bewegung gelesen werden, sondern laden selbst zur Bewegung ein. Schmitz hat hier sehr

            glücklich von „Bewegungsanmutungen“ gesprochen. Die Formen eines Dinges lassen die

            Möglichkeiten spüren, dieses Ding zu umfassen und zu handhaben, die Linien eines

            Gebirgszuges laden dazu ein, ihnen mit den Augen zu folgen. Das Ding steht so mit seinen

            Formen und Zügen in einen Raum möglicher Bewegungen hinaus.

 

Auf meine Frage „Ist die Diagrammatik die Antwort der Techniker & Naturwissenschaftler auf die Bildfrage?“ schrieb Steffen Bogen:

 

            „Ja der technische Blick in die Welt, der mißt und Bewegungsketten erkennen und listig

            beeinflussen will – und das graphisch vorausdenkt – scheint mir sehr zentral für die

            Entwicklung von Diagrammen. Der Gegenpol scheint mir nicht der mimetische Blick im

            engeren Sinn zu sein (denn die Perspektive ist ein technisierter diagrammatischer Blick

            auf die Welt), sondern eben ein einfühlender Blick, der eine Gestalt als

            Bewegungsform wahrnimmt, die aus einem inneren Impuls mit einer eigenen

            Spontaneität ausgestattet, sich selbst bestimmt. Wenn man das Interesse am

            Diagramm mit der Liebe zum Bild verbinden könnte, hätte man ein großes Rätsel gelöst.“

 

Faltungen als Ausdrucksgesten

Faltenwurf als „energetische“ Geste

Linienführung als Ausdrucksgesten

Wellung von Haar als Ausdrucksgeste

Expressivität der Linie

 

Hier wären die Forschungen von Aby Warburg in umfassender Weise einzubeziehen.

 

Im Rahmen der PKW-Studie werden ich versuchen, den Fragen der Physiognomie etwas

näher zu kommen. Noch vor wenigen Jahren wurden die komplexen Formen in Ton mit Hilfe

von Schablonen realisiert. (... abziehen, glätten, spannen, pressen, gießen, ...)

Durch computergesteuerte Maschinen dringt der „Schnitt“ auch in komplexe Faltungsformen ein.

So entstehen die Preßwerkzeuge für die notwendige Faltungen.

 

Die PKW-Studie (Physiognomie von Design-Objekten) und die Atmosphärenstudie sind der Prüfstein für die Reichweite der Diagrammatik.

 

Im Rahmen dieser Studie stellt sich also die Frage, ob es Sinn macht, von einer Semantik der Physiognomie zu sprechen. Von „Natur“ aus sind wir (wie andere Säuger) in der Lage gefährliche Ausdrucksformen in Mimik und Körpergrundhaltungen wahrzunehmen; was könnte das für die Wahrnehmung von Karosserieformen heißen?

 

Ein weiterer Ansatzpunkt sind komplexe Landschaftsformen: Auch dort gibt es Schriftsteller, die sich an einer Physiognomie der Landschaft versucht haben.

 

Was die Formfragen betrifft, kommt man mit Deleuze/Guattari & Cache ein wichtiges Stück weiter.

Die Semantikfrage bleibt aber merkwürdig dunkel.


 

Wenn das Glatte (Gefaltete) und das Gekerbte (Flache) aufeinander treffen, ist in dieser Durchdringung in nahezu allen Sichten eine gekrümmte Linie zu sehen.

Wenn zwei glatte (gekrümmte) Flächen aufeinander treffen, entsteht ein gekrümmte Kante, die auch sehr aggressiv ausfallen kann, also durchaus mit der Kerbe (flacher Verschneidungen) verglichen werden kann.

Wenn in der Natur zwei Faltungen aufeinander treffen oder eine aus der anderen herauswächst, dann kann man von Auswüchsen sprechen. Dabei spielen Schnittstellen (Öffnungen, Spalten, Augen, Wunden, ...) eine wichtige Rolle.

 

Charakter-Animierung

In Gestaltung virtueller 3D-Charaktere stehen zwei Softwaretraditionen zur Verfügung. In der „gekerbten“ Tradition werden die Gestalten/Figuren (Roboter) aus geometrischen Objekten aufgebaut, die über Gelenke und „hydraulische“ Elemente verbunden werden.

In der „glatten“ Tradition, werden die Körper als komplexe flexible Häute aufgefaßt. Getragen wird diese Haut durch eine (gekerbte) Skelettstruktur, die den Bewegungsrahmen vorgibt. Das äußere Erscheinungsbild hängt jedoch von den Dehnungen/Verschiebungen und Faltungen der „Haut“ ab.

 

+++

 

G. Deleuse & F. Guattari / Kapitalismus und Schizophrenie – Tausend Plateaus

Kap. 14 – Das Glatte und das Gekerbte - Zitate:

 

Der glatte Raum und der gekerbte Raum – Der Raum des Nomaden und der Raum des Seßhaften.

 

... manchmal müssen wir uns daran erinnern, daß die beiden Räume nur wegen ihrer wechselseitigen Vermischung existieren: der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt.

 

Das Modell der Technik – Ein Gewebe hat im Prinzip eine bestimmte Anzahl von Eigenschaften, durch die es als gekerbter Raum definiert werden kann.

 

Leroi-Gourhan hat diese Figur von „geschmeidigen Festkörpern“ sowohl bei der Korbmacherei als auch beim Weben untersucht: die Stege  und die Reiser, die Kette und der Schuß. Zum dritten ist ein solcher gekerbter Raum zwangsläufig begrenzt, er ist zumindest an einer Seite geschlossen ...

 

Aber zu den geschmeidigen Festkörpern gehört auch der Filz, der ganz anders zustande kommt und so etwas wie ein Anti-Gewebe ist. .... Das so verwickelte Material ist keineswegs homogen; und trotzdem ist es glatt und Punkt für Punkt dem Raum des Gewebes entgegengesetzt ...

 

Es gibt viele Verflechtungen, Mischformen von Filz und Gewebe.

 

Siehe dazu auch: Modul 21

 

Das Modell der Musik – Im Prinzip sagt Boulez, daß man in einem glatten Zeit-Raum besetzt, ohne zu zählen, während man in einem gekerbten Zeit-Raum zählt, um zu besetzen. Er macht also die Differenz zwischen nicht-metrischen und metrischen Mannigfaltigkeiten, zwischen gerichteten und dimensionalen Räumen spürbar oder wahrnehmbar.

 

Kann man sagen, daß es im glatten Raum ohne Einschnitt und modulo kein Intervall gibt?

Oder ist in ihm im Gegenteil alles zum Intervall, zum Intermezzo geworden? Das Glatte ist ein Nomos, während das Eingekerbte, wie zum Beispiel die Oktave, immer einen Logos hat.

Boulez interessiert sich für die Kommunikation von zwei Arten von Räumen, für ihre Wechsel und

Überlagerungen: so wie ein „glatter, stark gerichteter Raum die Neigung zeigt, auf einen geriffelten Raum hinaus zu laufen“, so wie „ein geriffelter Raum, bei dem die statistische Anordnung der benützten Höhen faktisch gleichmäßig ist, die Tendenz hat, sich einem glatten

Raum anzugleichen“; ...

 

Um zu dem einfachen Gegensatz zurückzukehren, das Gekerbte oder Geriffelte ist das, was das Festgelegte und Variable miteinander verflicht, was unterschiedliche Formen ordnet und einander folgen läßt und was horizontale Melodielinien und vertikale Harmonieebenen organisiert.

 

            Siehe dazu auch: Modul 16


 

Das Modell des Meeres – Gewiß, sowohl im gekerbten wie im glatten Raum gibt es Punkte, Linien und Oberflächen. ... Im gekerbten Raum werden Linien oder Bahnen tendenziell Punkten untergeordnet: Man geht von einem Punkt zum nächsten. Im glatten Raum ist es umgekehrt: die Punkte sind der Bahn untergeordnet. Bereits bei den Nomaden gab es den Außen-Vektor Kleidung-Zelt-Raum.

 

Im Glatten wie im Eingekerbten gibt es Punkte des Stillstands und Bahnen; aber im glatten Raum reißt die Bahn den Stillstand fort, ...

 

Im glatten Raum ist die Linie also ein Vektor, eine Richtung und keine Dimension oder metrische Bestimmung. Er ist ein Raum, der durch örtlich begrenzte Operationen mit Richtungsänderungen geschaffen wird.

 

Der glatte Raum ... Er ist eher ein Affekt-Raum als ein Raum von Besitztümern. Er ist eher eine haptische als eine optische Wahrnehmung. Während im gekerbten Raum die Formen eine Materie

organisieren, verweisen im glatten Raum die Materialien auf Kräfte oder dienen ihnen als Symptome. .... Intensives Spatium statt Extensio. Organloser Körper statt Organismus und Organisation.

Die Wahrnehmung besteht hier eher aus Symptomen und Einschätzungen als aus Maßeinheiten und Besitztümern. Deshalb wird der glatte Raum von Intensitäten, Winden und Geräuschen besetzt, von taktilen und klanglichen Kräften und Qualitäten, wie in der Steppe, in der Wüste oder im ewigen Eis.

 

... das Meer ist der glatte Raum par excellence, ...

 

Die Einkerbung der Meere geschieht ... bei der Navigation auf hoher See. Der maritime Raum wird ausgehend von zwei Errungenschaften, einer astronomischen und einer geographischen, eingekerbt: durch den Punkt der Position, den man durch eine Reihe von Berechnungen auf der Grundlage einer genauen Beobachtung der Sterne und der Sonne bekommt: und durch die Karte, die die Meridiane und Breitenkreise, sowie die Längen- und Breitengrade verbindet und so die bekannten oder unbekannten Regionen rastert (wie das Periodensystem von Mendelejew).

 

Eben dadurch ist das Meer, der Archetyp des glatten Raumes, auch zum Archetyp für alle Einkerbungen des glatten Raumes geworden: Einkerbung der Wüste, Einkerbung der Luft, Einkerbung der Stratosphäre. Der glatte Raum ist zuerst auf dem Meer gezähmt worden, auf dem Meer hat man ein Modell für die Raumaufteilung, für das Aufzwingen der Einkerbung gefunden, das überall zum Vorbild genommen werden konnte.

 

Das Glatte verfügt immer über ein Deterritorialisierungsvermögen, das dem Gekerbten überlegen ist.

 

All dies soll daran erinnern, daß das Glatte selber von teuflischen Organisations-Kräften umrissen und besetzt werden kann.

 

Glattes und Gekerbtes unterscheidet sich zuerst durch die umgekehrte Beziehung von Punkt und Linie (die Linie zwischen zwei Punkten im Falle des Gekerbten, der Punkt zwischen zwei Linien beim Glatten). Zum zweiten unterscheiden sie sich durch die Art der Linie (gerichtet glatt, offene Intervalle; dimensional-gekerbt, geschlossene Intervalle).

 

... seit den ältesten Zeiten, seit dem Neolithikum und sogar seit dem Paläolithikum, hat die Stadt die Landwirtschaft erfunden: unter dem Einfluß der Stadt überlagern der Ackerbauer und sein gekerbter Raum den Landwirt im noch glatten Raum (halb-seßhafter oder bereits seßhafter, transhumierender Landwirt).

 

Wir sind häufig auf alle möglichen Arten von Unterschieden zwischen den beiden Typen von Mannigfaltigkeit gestoßen: metrische und nicht metrische; extensive und qualitative; zentrierte und azentrierte; baumartige und rhizomatische; zahlenförmige und flache; dimensionale und direktionale; der Masse und der Meute; der Größe und des Abstands; des Einschnitts und der Frequenz; eingekerbte und glatte. Nicht nur das, was einen glatten Raum bevölkert, ist eine Mannigfaltigkeit, die ihr Wesen ändert, wenn sie sich teilt, ... sondern auch der glatte Raum (Wüste, Steppe, Meer oder ewiges Eis) ist eine Mannigfaltigkeit dieser Art, also nicht metrisch, azentriert, gerichtet etc.

 

Als amorpher und nicht homogener Raum ist der glatte Raum heterogen und in kontinuierlicher Variation.

 

Das Modell der Ästhetik – die nomadische Kunst. – Mehrere praktische und theoretische Begriffe sind geeignet, eine nomadische Kunst und ihre (barbarischen, gotischen und modernen) Folgen zu definieren.

 

            Die Bezugnahme auf Moderne und Gotik ist auch in Bezug auf die Diagrammatik spannend.

            Man bedenke auch, daß Deleuze sich im Zusammenhang mit „glatten Faltungen“ mit der

            Barock-Zeit auseinander gesetzt hat. Nun hätte Deleuze wunderbare Formungen im Bereich

            der PKW-Karosserie-Gestaltung zur Verfügung.

 

Zunächst die „nahsichtige Auffassung“ im Unterschied zur Wahrnehmung aus der Ferne; dann der „taktile“ oder vielmehr „haptische Raum“ im Unterschied zum optischen Raum. Haptisch ist ein besseres Wort als taktil, da es nicht zwei Sinnesorgane einander gegenüberstellt, sondern anklingen läßt, daß das Auge selber diese nicht-optische Funktion haben kann. Alois Riegel hat dem Begriffspaar nachsichtige Anschauung-haptischer Raum in einem bemerkenswerten Text einen grundlegenden ästhetischen Stellenwert verliehen.

 

            Vergleiche im Detail „Ähnlichkeit und Berührung“ von Didi-Huberman.

 

Das Glatte scheint uns Gegenstand einer nahsichtigen Anschauung par excellence und zugleich Element eines haptischen Raumes zu sein (der gleichermaßen visuell, auditiv und taktil sein kann).

Das Gekerbte verweist dagegen auf eine eher fernsichtige Anschauung und auf einen eher optischen Raum – auch wenn das Auge nicht das einzige Organ ist, das diese Fähigkeit hat.

 

Cézanne sprach von der Notwendigkeit, das Kornfeld nicht mehr zu sehen, zu nah dran zu sein und sich ohne Anhaltspunkt im glatten Raum zu verlieren. Danach kann es zur Einkerbung kommen: die Skizze, die Strata, die Erde, die „starrsinnige Geometrie“, der „Weltmaßstab“, die „geologischen Schichten“, „alles fällt lotrecht herab“ ... Auf die Gefahr hin, daß das Gekerbte seinerseits in einer „Katastrophe“ endet, zugunsten eines neuen glatten Raumes und eines neuen gekerbten Raumes...

 

            Vergleiche dazu B. Cache – Earth Moves

 

Es ist eine Tierheit, die man nicht sehen kann, ohne sie im Geiste zu berühren, ohne daß der Geist, selbst durch das Auge, zu einem Finger wird. ... Der gekerbte Raum wird dagegen durch die Erfordernisse einer Fernsicht definiert: Beständigkeit der Richtung, Veränderlichkeit des Abstandes durch den Austausch von starren Anhaltspunkten, Annäherung durch das Versinken in der Umgebung, Schaffung der Zentralperspektive.

 

            Die gekerbte Sicht der Moderne kann somit auch als eine distanzierte Haltung gelesen

            werden.

 

Man sieht hier ... recht gut, wie der glatte Raum weiterbesteht, aber nur deshalb, damit ein gekerbter Raum aus ihm hervorgeht.

 

Wenn wir von einer vorgängigen Dualität von Glattem und Gekerbtem ausgehen, dann wollen wir damit sagen, daß die Differenzen von „Haptischem und Optischem“, von „Nahsicht und Weitsicht“ selbst dieser Unterscheidung untergeordnet sind. Man kann das Haptische also nicht durch den unbeweglichen Hintergrund, die Fläche und den Umriß definieren, denn es ist bereits ein Mischzustand, bei dem das Haptische zum Einkerben dient und sich seiner glatten Komponenten nur noch bedient, um sie in einen anderen Raum zu übertragen.

Die haptische Funktion und die Nahsicht setzen zunächst das Glatte voraus, das weder Hintergrund, Fläche noch Umriß enthält, sondern Richtungsänderungen und Annäherungen von lokalen Teilen.

Umgekehrt beschränkt sich die entfaltete optische Funktion nicht darauf, die Einkerbung auf eine neue Stufe der Vervollkommnung zu bringen, indem sie ihr einen imaginären universellen Wert und eine imaginäre universelle Reichweite geben; sie ist auch dazu fähig, Glattes zurückzugeben, indem sie das Licht befreit und die Farbe gestaltet, indem sie eine Art von luftigem haptischen Raum wiedererschafft, der den nicht begrenzten Ort von überlagerten Flächen bildet.

 

            Vergleiche dazu Arbeiten von James Turrell und Fragen der Atmosphärik als Opposition

            oder Grenzfall der Diagrammatik.


 

Kurz gesagt, das Glatte und das Gekerbte müssen zunächst an sich definiert werden, bevor sich daraus die entsprechenden Unterscheidungen von Haptischem und Optischem, von Nahem und Fernem ergeben.

Hier kommt ein drittes Begriffspaar ins Spiel: „abstrakte Linie – konkrete Linie“ (neben den Paaren „haptisch-optisch“ und „nah-fern“). Worringer hat dieser Idee der abstrakten Linie eine grundlegende Bedeutung gegeben, da er in ihr sogar den Beginn der Kunst oder den ersten Ausdruck eines künstlerischen Wollens gesehen hat.

Kunst als abstrakte Maschine. Und zweifellos sind wir auch hier noch geneigt, die gleichen Einwände wie zuvor geltend zu machen: die abstrakte Linie scheint Worringer zunächst in der möglichst geradlinigen geometrischen oder kristallinen, ägyptischen imperialen Form aufzutauchen; und erst danach macht sie eine spezielle Wandlung durch und bildet die „gotische oder nordische Linie“ im weitesten Sinne.

Für uns ist die abstrakte Linie dagegen zuallererst „gotisch“ oder vielmehr nomadisch und und nicht geradlinig.

.... es ist die nomadische Linie gerade deswegen abstrakt, weil sie aus einer vielfachen Richtung besteht und zwischen den Punkten, Figuren und Umrissen verläuft: ihre positive Motivierung liegt in dem glatten Raum, den sie umreißt und nicht in der Einkerbung, die sie vornähme, um die Angst zu bannen und sich das Glatte unterzuordnen.

 

            Siehe dazu auch „Angst und atmosphärische Begrifflichkeit“

            Siehe auch Diagrammatik als Ordnungsfrage (Ordnung als Sicherheit; Vermüllung

            und Unordnung als Gegenpol)

 

Die abstrakte Linie ist der Affekt von glatten Räumen und nicht das Angstgefühl, das die Einkerbung hervorruft.

 

Abstrakt ist nicht das direkte Gegenteil von figurativ, ...

 

            Siehen dazu die fluidalen Ausformungen

 

Man nehme ein System, in dem die Transversalen den Diagonalen, die Diagonalen den Horizontalen und Vertikalen und die Horizontalen und Vertikalen sogar virtuellen Punkten untergeordnet sind: ein solches geradliniges oder einliniges (ganz gleich, wie groß die Zahl der Linien ist) System bringt die formalen Bedingungen zum Ausdruck, unter denen ein Raum eingekerbt wird und die Linie einen Umriß bildet. Eine solche Linie ist formal an sich darstellend, auch wenn sie nichts darstellt.

Eine Linie dagegen, die nichts eingrenzt, die keinen Umriß mehr zieht, die nicht mehr von einem Punkt zum anderen geht, sondern zwischen den Punkten verläuft, die unaufhörlich von der Horizontalen und von der Vertikalen abweicht und sich ständig von der Diagonalen löst, indem sie unaufhörlich die Richtung wechselt – diese mutierende Linie ohne Außen und Innen, ohne Form und Hintergrund, ohne Anfang und Ende, eine solche Linie, die ebenso lebendig ist wie eine kontinuierliche Variation, ist wahrhaft eine abstrakte Linie und beschreibt einen glatten Raum.

Sie ist nicht ausdruckslos !

 

            Diese Stelle ist für die diagrammatischen Betrachtungen zentral und zeigt auch genau jene

            Aspekte auf, die im fluidalen Design der springende Punkt sind.

 

            Genau genommen werden hier also jene Ausdrucksmöglichkeiten angesprochen, die

            wir in Gesichtern, in Physiognomien (in weitester Hinsicht) beobachten können.

            Für diese Ausdrucksmöglichkeit braucht es also keine Umrißlinien und keine Einfühlung

            in lineare Ausdruckswerte.

 

Es ist allerdings richtig, daß sie keine feste und symmetrische Ausdrucksform bildet, die auf einer Resonanz von Punkten und einer Vereinigung von Linien beruht. Aber sie hat trotzdem materielle Ausdrucksmerkmale, die sich mit ihr verschieben und deren Wirkung sich schrittweise vervielfacht.

In diesem Sinne sagt Worringer von der gotischen Linie (für uns, von der nomadischen Linie, die von der Abstraktion lebt):

sie hat Ausdruckskraft und keine Form, sie hat die Wiederholung als Kraft und nicht die Symmetrie als Form.


 

Die schönsten Seiten bei Worringer sind die, auf denen er Abstraktes und Organisches gegen-überstellt. Das Organische bezeichnet keine Darstellung, sondern in  erster Linie die Form der Darstellung und sogar auch das Gefühl, das das Dargestellte mit einem Subjekt vereint (Einfühlung). „Es spielen sich innerhalb des Kunstwerkes formale Vorgänge ab, die den natürlichen

organischen Tendenzen im Menschen entsprechen.“

Aber das kann nun gerade nicht das Geradlinige, das Geometrische sein, das in diesem Sinne dem

Organischen entgegengesetzt wird. Die griechische organische Linie, die sich dem Volumen oder der Räumlichkeit unterordnet, löst die ägyptische geometrische Linie ab, die sie auf die Fläche reduzierte.

 

... Von daher das Primat des Menschen oder des Gesichts, weil es diese Ausdrucksform selber ist,

also zugleich höchster Organismus und Verhältnis des ganzen Organismus zum metrischen Raum im allgemeinen.

 

Die abstrakte Linie ist der Affekt eines glatten Raumes, ebenso wie die organische Darstellung das Gefühl ist, das den gekerbten Raum beherrscht.

 

            Die Organe sind dabei als diskrete systemische Einheiten aufgefaßt.

 

Daher müssen die Unterschiede von Haptischem und Optischem, sowie von Nahem und Fernem der

Differenz von abstrakter und organischer Linie untergeordnet werden, damit sie ihr Prinzip in einer allgemeinen Konfrontation von Räumen finden können.

 

Und was und besonders interessiert, sind die Übergänge und Kombinationen bei den Glättungs- und Einkerbungsvorgängen. Wie der Raum unaufhörlich unter der Einwirkung von Kräften eingekerbt wird, die in ihm wirksam sind; aber auch wie er andere Kräfte entwickelt und inmitten der Einkerbung neue glatte Räume entstehen läßt.

 

Die Entsprechungen von GEsicht und Landschaft (Kap. Das Jahr Null – Die Erschaffung des Gesichts).