Gerhard
Dirmoser – Linz 12.2004 gerhard.dirmoser@energieag.at
Dank an: Josef Nemeth (+), Boris Nieslony, Astrit
Schmidt-Burkhardt, Kristóf Nyíri, Bruno Latour,
Peter Weibel, TransPublic, Walter Pamminger, Sabine
Zimmermann, Tim Otto Roth,
Walter Ebenhofer, Franz Reitinger, Steffen Bogen,
Mathias Vogel, Alois Pichler,
Lydia Haustein, Josef Lehner,
Bernhard Cella
Wenn man sich den Kopf darüber zerbricht, wie die
Konstruktion komplexer PKW-Karosserien im Rahmen der technischen Zeichnung
möglich ist, dann stößt man an eigenartige Grenzen. Wie schon beim Photogramm
angesprochen, gehen in der Parallelprojektion bestimmte Informationen verloren.
Anders formuliert: wenn es sich um Formen handelt, die sich nicht aus einfachen
geometrischen „Grundkörpern“ zusammensetzen, dann reichen die 3
Standardansichten oder Risse nicht für eine vollständige Beschreibung
aus.
Man benötigt entweder hunderte Schnitte, oder komplexe
Zusatzlinien, die u.a. kontinuierliche Veränderungen von Radienparametern
repräsentieren.
Die fluidalen Formen dieser Designobjekte sind also
ähnlich wie Menschenkörper in der technischen Zeichnung ein Problem (Das Glatte
als Problem). Nun steht aber für Architekturentwürfe und für virtuelle
Filmszenen Software zur Verfügung, die auch komplexe Faltungen gestalten hilft.
Ist das Repräsentationsproblem bereits gelöst?
Im Zuge der Karosserie-Betrachtungen fällt auf, daß man die meisten Formen nur physiognomisch besprechen kann (man hat es eher mit einer Zoologie zu tun als mit einer technischen Formenkunde).
Wenn man dann noch bedenkt, daß G. Böhme in seinen
Atmosphären-Studien immer auch physiognomische Fragen mit abhandelt, dann kommt
man nicht umhin, die Konzepte von Deleuze und Böhme gemeinsam in eine
Betrachtung einzubeziehen.
Unterstützung in diese Richtung findet man in einem Text von Ingo Zechner (IZ), der sich bei Raumkonzepten auf die Kriterien glatt /vs/ gekerbt von Deleuze & Guattari bezieht.
http://members.chello.at/ingo.zechner/Zechner_Vortrag_Raum_2001-06-09.pdf
(IZ) Es
war ihre Unterscheidung eines glatten und eines gekerbten Raumes
und
ihre Verbindung mit den Begriffen eines haptischen und eines optischen Raumes.
Ohne bei Didi-Hubermann das Konzept glatt /vs/ gekerbt als
Grundunterscheidung finden zu können, muß man natürlich sofort an sein Buch
„Die leibhaftige Malerei“ (über die Darstellungs-probleme der menschlichen
Haut) und das Buch „Ähnlichkeit und Berührung“ denken.
(IZ)
Meine These: Die Konzeption des Raumes bei Deleuze und Guattari verdankt
sich der
Ästhetik (.... genauer gesagt: der Wahrnehmung bzw. aisthesis)
(IZ) In dem Abschnitt „Das Glatte und das
Gekerbte“ [TP 657-693] erläutern
Deleuze
und Guattari mehrere Modelle, in denen sich die Unterschiede zwischen den
beiden
Raumtypen manifestieren: unter anderem ein mathematisches, ein physikalisches,
ein
technisches und zuletzt auch ein ästhetisches. Mein Argument ist es, daß dieses
Modell
der
Ästhetik nicht ein Modell unter anderen ist, sondern daß sich die Differenz
von
glatt und gekerbt
in der ästhetischen Erfahrung konstituiert – und
daß diese Erfahrung die gesamte Raumkonzeption inspiriert.
Deleuze und Guattari berufen
sich ausdrücklich auf Riegl, wenn sie vom glatten als
einem taktilen oder haptischen
Raum und vom gekerbten als einem optischen Raum
sprechen.
Was hier in Bezug auf Raumwahrnehmung formuliert vorliegt,
würde ich auch 1:1 auf die Fragen und Konzeption der Diagrammatik übertragen
(Diagramm /vs/ mimetisch-physiognomische
Aspekte).
(IZ)
Riegel unterscheidet zwischen zweierlei Flächen:
zwischen ebenen und gekrümmten
– und er begreift diese Unterscheidung als elementar.
(IZ) „Das
Auge verrät uns nur Ebenen“, sagt Riegl. Nur die Erfahrung lässt uns krumme
Umrisse und dunkle Farbflecken als Anzeichen von Tiefe wahrnehmen.
Siehe auch B. Cache: Our brain is not the seat of a
neuronal cinema that reproduces
the world; rather our perceptions are inscribed on the
surface of things, as images
amongst images.
Genau diese Stelle findet sich auch als Zitat bei
O. Schürer: Unser Gehirn ist kein
neuronales Kino, das die Welt
reproduziert, sondern unsere Wahrnehmung ist vielmehr
in die Oberfläche der Dinge
eingeschrieben, als Bild unter anderen Bildern.
Anmerkung: Vergleiche dazu auch die Diplomarbeit von
Oliver Schürer (Wien) (als Architekturtheoretiker befragt er die
Raumkonzepte von Deleuze).
Auch im Bereich der Diagrammtypen kann man (in der
Diagrammatik) diese Grenzlinie markieren.
Der Typ 09 bezieht komplexe Faltungen und fluidale Formen
also gekrümmte Flächen auf jeden Fall mit ein, wogegen der Typ 10 (die
Architektonik) und der Typ 11 (technische Zeichnungen) noch stark in der
konventionellen Geometrie der ebenen Flächen (der Frames) verhaftet sind.
Siehe B. Cache: Rather architecture is „the art of the
frame“, and the „architectural“ in
things is how they are framed.
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E1 |
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E2 |
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E3 |
(IZ) Anders als in den
sensualistischen Spekulationen von Condillac haben wir es also immer schon mit
einer Konstellation von mindestens zwei Sinnesmodalitäten zu tun, wenn
von einem haptischen oder
optischen Raum die Rede ist: mit einer Konstellation wechselseitig
dominierenden Partnern. Wenn man will, kann man von einem haptischen oder
optischen Regime sprechen.
Wenn man diese These der zwei Sinnesmodalitäten ernst nehmen würde, dann hätte man ein Kriterium, um die meisten Diagrammtypen vom Bereich der mimetischen Bilder abzugrenzen.
Gleichzeitig wird so der Typ der Faltungen wichtig, da er
eine vermittelnde Rolle spielen kann.
(IZ) Wenn
Deleuze haptische Räume gegenüber optischen privilegiert, dann nicht weil er
zu den
reinen geschlossenen Formen tendiert – im Gegenteil. Was ihn daran fasziniert
ist das Moment des Abtastens:
einen Raum nicht überblicken, sondern sich in ihm vorantasten.
(IZ) Der
glatte Raum ist durch eine Nahsichtigkeit bis zum Sichtverlust ausgezeichnet.
Mit dieser Formulierung schafft man den Bogen zu den
Atmosphären-Konzepten von G. Böhme.
U.a. mit Plessner wird dort ja abgehandelt, wie sich der
Leib in dunklen Situationen großer
Räume zurecht findet (vorantastet), ohne dabei den Überblick
haben zu müssen.
Im nächsten Abschnitt geht Ingo Zechner auf den Diagramm-Begriff ein, womit klar wird, daß auch er die diagrammatischen Fragestellungen im Spannungsfeld der Begriffe glatt /vs/ gekerbt ansiedelt (auch wenn er primär die Raumfragen im Blick behält).
(IZ) Für
Bacon und für Deleuze ist das Diagramm für sich selbst aber noch kein
pikturales
Faktum, es ist eher ein Keim: „ Das Diagramm ist zwar ein Chaos, aber auch der
Keim von Ordnung und Rhythmus“. Ein
Keim für ein ebenso anorganisches wie organisches Leben, das in ihm noch nicht
präformiert ist.
Das
Diagramm entwirft ungeahnte Möglichkeiten – nicht beliebige hypothetische
Möglichkeiten,
sondern faktische Möglichkeiten.
Auch wenn der Kommentar von Zechner nur für die
Bacon-Analyse gilt, ist das Zitat in Bezug auf die Fragen der Ordnung und den
Rhythmus spannend. Siehe dazu die Module II und XVI.
Deleuze selbst hat natürlich einen viel weiter gesteckten
Diagramm-Begriff.
(IZ) Deleuze
und Guattari ... gehen vom flüssigen Aggregatzustand aus, statt vom festen.
(IZ) Deleuze und Guattari gehen
aus vom Metall im geschmolzenen Zustand. An ihm entwickeln sie den Begriff
einer kontinuierlichen Variation – einer permanenten Transformation im
Unterschied zur vollendeten Form.
Gerade hier muß man natürlich an Eisenman und sein 40
Transformationsansätze denken
(diagram diaries).
(IZ) „Glattes und Gekerbtes
unterscheidet sich zuerst durch die umgekehrte Beziehung von Punkt und Linie
(die Linie zwischen zwei Punkten im Falle des Gekerbten, der Punkt
zwischen
zwei Linien beim Glatten). Zum zweiten unterscheiden sie sich durch die
Art der Linie:
(gerichtet-glatt,
offene Intervalle;
dimensional-gekerbt,
geschlossene Intervalle).
Und schließlich gibt es einen
dritten Unterschied, der die Oberfläche oder den Raum
betrifft. Im gekerbten Raum wird
eine Oberfläche geschlossen, und entsprechend den
festgelegten Intervallen, nach
den festgelegten Einschnitten „teilt man sie wieder auf“;
beim Glatten wird man in einem
offenen Raum „verteilt“ [...] (Logos und Nomos).“
(IZ)
Deleuze und Guattari unterscheiden strikt zwischen „Aufteilung“ und „Verteilung“,
zwischen
Logos und Nomos – streng genommen müsste man deshalb eher von einem
Nomos des
Raumes als von einer Logik des Raumes sprechen, wenn an glatte Räume
gedacht
wird.
Anmerkung:
Siehe dazu auch Bernard Cache
Die Fragen der Aufteilung (und der Verbindung) wurde ja
bereits in mehreren Modulen der Studie diskutiert. Die Frage der Verteilung
erinnert wieder an Fragen der atmosphärischen Studien.
Die Richtungsfrage und die Orientierungsfrage wurde für
die Linien schon im Kontext der
Maschinenzeichnungen thematisiert (Steffen Bogen). Die
Kräftelinien, Feldlinien, energetischen
Wirbel oder Visualisierungen von Relativbewegungen sind
anders als die Konturenlinien orientiert.
(IZ)
Deleuze und Guattari träumen von einer delirierenden Linie, die sie
„abstrakte
Linie
nennen“: von einer Linie, „die nichts eingrenzt, die keinen Umriss mehr zieht,
die
nicht
mehr von einem Punkt zum anderen geht, sondern zwischen den Punkten
verläuft,
die unaufhörlich von der Horizontalen und von der Vertikalen abweicht und sich
ständig
von der Diagonale löst, indem sie unaufhörlich die Richtung wechselt [...] eine
kontinuierliche
Variation“.
Diese delirierende Linie beschreibt perfekt die Fragen
komplexer Faltungen. Da Deleuze sich auch in diesem (förmlich so komplexen)
Zusammenhang auf die Möglichkeiten einer Linie beruft (und nicht zB. den
Begriff des Feldes bemüht), meine ich behaupten zu können, daß er im Rahmen
einer erweiterten Diagrammatik argumentiert.
Schönen Dank an Ingo Zechner für
seine Aufarbeitung.
Im Zuge dieser Fragestellungen des Haptischen, wurde mir
im Rahmen des Medienschemas bewußt, das die Diagrammatik
so zu sagen versucht, in andere „Methodenräume“ vorzudringen.
Als unmittelbares Gegenüber kann man sich die Linguistik
vorstellen und zusätzlich werden bei diesem „Übergriff“ auch Fragen der
Materialität, Performativität und Emotionalität mit thematisiert.
Versuch einer Gegenüberstellung:
glatt |
gekerbt |
Komplexe fluidale Formen |
Zusammensetzungen aus einfachen geometrischen Formen
oder Körpern |
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Flächen bestimmen der Raum (NW) |
Gekrümmte Flächen (Riegl) |
Ebene Flächen (Riegl) |
Komplexe Faltungen |
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Physiognomische Fragestellungen |
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glatter Raum |
gekerbter Raum |
Glatter Raum (Meer)
(NW) |
Gekerbter Raum (Land/Stadt) (NW) |
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Kerbe, Riß und Bruch (Materialprüfung) |
Haptischer Raum |
Optischer Raum |
vom glatten als einem taktilen oder haptischen Raum |
vom gekerbten als einem optischen Raum |
Haptisches Regime |
Optisches Regime |
Am Material gestreutes, gebrochenes, gebeugtes und
farbverfälschtes Licht |
Optik und „idealer“ Lichtstrahl (bzw. Diagramm des Lichtes) |
taktile/haptische nahsichtige Situation |
Optisch-taktile fernsichtige Situation |
Sich in einem Raum vorantasten |
Einen Raum überblicken |
Das anexakt Runde |
Der exakte Kreis |
Flüssiger Aggregatzustand |
Fester Aggregatzustand (kristallin) |
Verteilung |
Aufteilung |
Nomos |
Logos |
Nomos des Raumes (bei glatten Räumen) |
Logik des Raumes |
Punkt zwischen zwei Linien |
Linie zwischen zwei Punkten |
gerichtet-glatt, offene Intervalle |
dimensional-gekerbt, geschlossene Intervalle |
Interesse am Faltenwurf |
|
Einige Ergänzungen waren mit einem Text von Niels Werber (NW)
möglich.
Im Zuge der Analyse der Bilder von Josef Nemeth und den
Fragestellungen, inwieweit die Diagrammatik eher etwas mit Zeichnungen als mit
Malerei zu tun haben könnte, hat sich eine ähnliche Polarisierung ergeben (die
sich jedoch in einigen Punkten von der Bacon-Analyse
unterscheidet.
glatt |
gekerbt |
Flächige Gesten |
Lineare Gestenspuren |
Malerei = Faltung |
Zeichnung = Knotung |
Malerei = physiognomisch orientiert |
Collage als diagrammtischer Umgang mit physiognomischen
Materialien |
Malerei = flächig |
Zeichnung = linear |
Malerei = das Glatte |
Zeichnung = das Gekerbte |
Malerei = Fleck |
Zeichnung = Umriß / Silhouette |
Malerei = Füllung (der Vorzeichnung) |
Zeichnung = Umrandung |
Umhüllung, Einhüllung |
Umrandung |
Malerei = materiell |
Zeichnung = (materiell) abstrakt |
Malerei = atmosphärisch |
Zeichnung = unatmosphärisch |
Schummerung als Zeichentechnik |
Konturenlinie |
Unscharfe, gleitende Übergänge |
Scharfe, klare Konturen |
Fluidales |
Kantige, geometrische Grundkörper |
Bionik-Ansätze |
|
Textile Architektur |
Klassische Architektonik |
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Umrißfragestellungen
glatt |
gekerbt |
komplexe Reflexionen glatter gekrümmter Flächen |
Ränder aufliegender Objekte beim Photogramm |
vollständiger Abdruck |
Spurenrand |
Innenzeichnung |
Schattenrand |
Innenzeichnung |
Silhouette o extremes Gegenlicht o Kontrastverstärkung o Weglassung (Abstraktion) o Scherenschnitt o Laserschnitt |
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Umriß/Aufriß als Riß (der technischen Zeichnung) |
Füllungsmoment |
Kopierbarkeit durch Weglassung |
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Laserschnitt (Lichtspur) / stark fokusiertes Licht |
Spiegelbild am/im Wasser (auf der glatten Oberfläche) |
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Weiter oben habe ich argumentiert, daß man bestimmte
Diagrammtypen als Übergangsform
von glatt zu gekerbt auffassen kann:
(...) Auch im Bereich der
Diagrammtypen kann man (in der Diagrammatik) diese Grenzlinie markieren. Der
Typ 09 bezieht komplexe Faltungen und fluidale Formen also gekrümmte Flächen
auf jeden Fall mit ein, wogegen der Typ 10 (die Architektonik) und der Typ 11
(technische Zeichnungen) noch stark in der konventionellen Geometrie der ebenen
Flächen (der Frames) verhaftet sind.
Anmerkung:
Die Diagrammatik versucht über die Faltung zaghaft Kontakt zur
physiognomischen
Sicht zu bekommen.
Deleuze:
deframing (décadrage)
B. Cache: An architectural practice
that deals with the problem of site thus brings
three basic images into play the
site plan (the orographic map), the vectorial
sketch (the folded diagram), an
finally those geometrical figures (cone, dihedron, prism,
and plane) that give a cubist
appearance to any urban composition.
Aber man sollte hier noch einige Schritte weiter gehen:
Im Zuge einer Analyse von Abbildungen sgn. „atmosphärischer“ Situation, ist es gelungen, das Grundschema der Diagrammtypen auf den Bereich des „Glatten“ zu übertragen. (Link)
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01 |
02 |
03 |
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E1 |
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04 |
05 |
06 |
07 |
08 |
E2 |
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09 |
10 |
11 |
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E3 |
Annäherung über Verben (Schema)
01 |
verschleifen, einbetten, ineinanderfließen, übergehen, überfließen |
02 |
verdichten |
03 |
umhüllen, umfassen, umfangen, auswachsen, kurven |
04 |
tropfen, pulsen, patzen,
zerfallen, auflösen, trennen |
05 |
atmen, duften, durchfließen, schlängeln, folgen |
06 |
wuchern, durchwirken |
07 |
fließen, strömen, durchfluten, zusammenfließen, einmünden |
08 |
ausdehnen, überfluten, heraustreten, überstrahlen, emittieren |
09 |
einfalten, überlagern, verdichten, verschlingen |
10 |
auftürmen, aufschütten, aufspritzen, versauen |
11 |
verlaufen, pulsieren,
schwingen |
Siehe auch B. Cache: ... to develop „a more fluid
logic of connectivity“
In dieser Zusammenstellung wird klar, daß es keinen Sinn
macht, das Glatte gegen das Gekerbte
bzw. einzelne Diagrammtypen gegeneinander auszuspielen (so
wie es auch keinen Sinn macht Formfindungen der Renaissance gegen die des
Barock auszuspielen). Die grundsätzliche Unterteilung von zwei Flächentypen
scheint sich aber auf jeden Fall zu bestätigen:
(IZ)
Riegel unterscheidet zwischen zweierlei Flächen:
zwischen ebenen und gekrümmten
– und er begreift diese Unterscheidung als elementar.
Anmerkung: Auch über die Sphärenstudien von Sloterdijk
kann eine Übertragung des diagrammatischen
Grundschemas versucht werden.
Siehe
auch B. Cache: ... What
emerges from this process is a more fluid logic of involuted
sacks rather than boxes: “A contains B, which doesn´t
prevent B from being able to
contain A.
Einen fundierten Einstieg in diese Fragestellungen bekommt
man über das Buch
„Earth Moves – The
Furnishing of Territories“ von Bernard Cache. Er war langjähriger
Schüler von G. Deleuze ! Cache hat einige Begriffe in sein Fachgebiet
übertragen und hat mit seinen Überlegungen wiederum im Bereich der
Faltungsfragestellungen Deleuze stark beeinflußt.
Die Veröffentlichung der Schriften von Cache erfolgte
aufgrund jener Zitate, die Deleuze in seinen Schriften realisierte.
Noch spannender werden die Cache-Schriften, wenn man
mitdenkt, daß der erste Satz seines Buches wie folgt lautet „This book is a
classifier of images“ (But what is an image? ... liest man in einem
der Kommentare).
What does it mean to understand image in terms of a
space that is
prior to representation?
Auch der Gegensatz der statischen und dynamischen
Strukturen kommt unmittelbar zu Sprache:
In this way we see that images belong to a dynamic
rather tan a static geography.
Was man in den Landschaftsformen (Physiognomie der
Landschaft) anspricht, kann auch auf den menschlichen Körper übertragen werden.
Auch bei Cache findet man entsprechende Textstellen, die sich wiederum auf die
diagrammatische Bacon-Analyse von Deleuze beziehen:
When Cache speaks of „frame images“ in architecture,
he is thus not referring to the
physical frame or skeleton of buildings, and, on the
contrary, is attracted to the
possibilities of Francis Bacon´s images of flesh
without bones.
Cache employs the fold as a way to rethink the
relationship between body and soul,
past and present, and between furniture, architecture,
and geography.
Mit der Topologie besteht ja die Gefahr zu stark in den
“tragenden Strukturen” verhaftet zu
bleiben, bzw. einen zu einseitigen Begriff von tragenden
Strukturen zu entwickeln (man denke
im Gegensatz zu Skelettstrukturen zB. an blasenartige
Traglufthallen und diverse Gurtenansätze).
Wenn man den menschlichen Körper und seine Einfaltungen
betrachtet, kann man sich Kräfte vorstellen, die nach außen drängen, man kann
Muskelgebilde (Stränge, Ringe, Panzer, ...) benennen, die es zu umhüllen gilt
(die auch selbst umspannen und umhüllen). Es geht um Organgruppen, die
gemeinsam umfaßt bzw. ummantelt werden. Man kann von straffen Zonen und von
Falten sprechen. Auf jeden Fall sind alle Körperformen dem sgn. „Glatten“ also
den gekrümmten (Ober)Flächen zuzuordnen.
Mehr über
die zugrundeliegenden Strukturen erfährt man im Buch „Verkörperte
Gefühle
von Stanley Keleman. Auch wenn man mit der dort vorgestellten Psychologie
nicht in
jeder Hinsicht begeistert sein wird, werden sehr aufschlußreiche Zeichnungen
angeboten:
Anatomie der Teilung, Röhrenentwicklung, Entstehung von Innenräumen,
vom
Pulsieren zur Peristaltik, Schichtung
und Pumpfunktion, ....
Glättung durch streckende/straffende Kräfte
Faltungen als das Glatte?
Umgangssprachlich würde man ja eher meinen, daß Falten glatt zu streichen (also
unglatt) sind. aber in der Opposition glatt /vs/ gekerbt wird ja klar, was von
Deleuze gemeint wird.
In der
Membranen-Architektur führen Stützungen, Spanneinrichtungen, ... zu komplexen
gekrümmten
Flächen.
Physiognomische Expressivität
Falten als Gesichtszug (Sedimente/Spuren der
Performativität)
(G. Böhme
/ Atmosphäre) Bei dieser Auffassung von Physiognomie wird ein mehr oder
minder
bestimmtes Wesen unterstellt, das im Strom seiner Äußerungen feste Spuren
hinterläßt.
Die Gesichtszüge eines Menschen zeugen so in Lachfalten von seinem
fröhlichen
Wesen, seine Handschrift hält die Spur einer schwungvollen Bewegung fest.
Faltung als Wachstumsbewegung (Faltung als Entfaltung)
(GB)
Ebenso ist die Wachstumsbewegung eines Baumes in seinen Rindenmustern, das
Aufgehen
einer Blüte im Schwung des Stengels und der Geste der Blütenblätter enthalten.
Faltungen durch verschiebende bzw. verdrehende Kräfte
Erdgeschichtliche Faltungen
Die
Faltungen der Landschaften haben einen geologische Grundlage, die durch
Erosionen
überlagert bzw. modifiziert
wurde. Dabei kommt es zu Abtragungen, Verschiebungen und Auftragungen
(Anlagerungen). Im übertragenen Sinne könnte auch hier von Wachstums-
bewegungen gesprochen werden.
Faltungen als Festigkeitsdiagramm
Materialität und widerstand
eines Materials (Siehe: Bauholz gesägt von c. Bartel)
Mit dem Material arbeiten oder
„schneidend“ bzw. „kerbend“ gegen das Material arbeiten.
Faltungen als einladende Bewegungsanmutungen
(GB) Bei
dieser Auffassung ist es nicht nötig, ein inneres Wesen anzusetzen, das sich
durch
die Züge
oder in ihnen als Resultat manifestiert. Die Züge werden selbst als die Weise
genommen,
in denen ein Ding sich präsentiert. Die Züge brauchen nicht als Spuren von
Bewegung
gelesen werden, sondern laden selbst zur Bewegung ein. Schmitz hat hier sehr
glücklich
von „Bewegungsanmutungen“ gesprochen. Die Formen eines Dinges lassen die
Möglichkeiten
spüren, dieses Ding zu umfassen und zu handhaben, die Linien eines
Gebirgszuges
laden dazu ein, ihnen mit den Augen zu folgen. Das Ding steht so mit seinen
Formen
und Zügen in einen Raum möglicher Bewegungen hinaus.
Auf meine Frage „Ist die
Diagrammatik die Antwort der Techniker & Naturwissenschaftler auf die
Bildfrage?“ schrieb Steffen Bogen:
„Ja der
technische Blick in die Welt, der mißt und Bewegungsketten erkennen und listig
beeinflussen
will – und das graphisch vorausdenkt – scheint mir sehr zentral für die
Entwicklung
von Diagrammen. Der Gegenpol scheint mir nicht der mimetische Blick im
engeren
Sinn zu sein (denn die Perspektive ist ein technisierter diagrammatischer Blick
auf die
Welt), sondern eben ein einfühlender Blick, der eine Gestalt als
Bewegungsform
wahrnimmt, die aus einem inneren Impuls mit einer eigenen
Spontaneität
ausgestattet, sich selbst bestimmt. Wenn man das Interesse am
Diagramm
mit der Liebe zum Bild verbinden könnte, hätte man ein großes Rätsel gelöst.“
Faltungen als Ausdrucksgesten
Faltenwurf als „energetische“ Geste
Linienführung als Ausdrucksgesten
Wellung von Haar als Ausdrucksgeste
Expressivität der Linie
Hier wären die Forschungen von
Aby Warburg in umfassender Weise einzubeziehen.
Im Rahmen der PKW-Studie werden ich versuchen, den Fragen
der Physiognomie etwas
näher zu kommen. Noch vor wenigen Jahren wurden die
komplexen Formen in Ton mit Hilfe
von Schablonen realisiert. (... abziehen, glätten,
spannen, pressen, gießen, ...)
Durch computergesteuerte Maschinen dringt der „Schnitt“
auch in komplexe Faltungsformen ein.
So entstehen die Preßwerkzeuge für die notwendige
Faltungen.
Die PKW-Studie (Physiognomie von
Design-Objekten) und die Atmosphärenstudie sind der Prüfstein für die Reichweite der Diagrammatik.
Im Rahmen dieser Studie stellt sich also die Frage, ob es
Sinn macht, von einer Semantik der Physiognomie zu sprechen. Von „Natur“
aus sind wir (wie andere Säuger) in der Lage gefährliche Ausdrucksformen in
Mimik und Körpergrundhaltungen wahrzunehmen; was könnte das für die Wahrnehmung
von Karosserieformen heißen?
Ein weiterer Ansatzpunkt sind komplexe Landschaftsformen: Auch dort gibt es Schriftsteller, die sich an einer Physiognomie der Landschaft versucht haben.
Was die Formfragen betrifft, kommt man mit
Deleuze/Guattari & Cache ein wichtiges Stück weiter.
Die Semantikfrage bleibt aber merkwürdig dunkel.
Wenn das Glatte (Gefaltete) und das Gekerbte (Flache)
aufeinander treffen, ist in dieser Durchdringung in nahezu allen Sichten eine
gekrümmte Linie zu sehen.
Wenn zwei glatte (gekrümmte) Flächen aufeinander treffen,
entsteht ein gekrümmte Kante, die auch sehr aggressiv ausfallen kann, also
durchaus mit der Kerbe (flacher Verschneidungen) verglichen werden kann.
Wenn in der Natur zwei Faltungen aufeinander treffen oder
eine aus der anderen herauswächst, dann kann man von Auswüchsen sprechen. Dabei
spielen Schnittstellen (Öffnungen, Spalten, Augen, Wunden, ...) eine wichtige
Rolle.
In Gestaltung virtueller 3D-Charaktere stehen zwei
Softwaretraditionen zur Verfügung. In der „gekerbten“ Tradition werden die
Gestalten/Figuren (Roboter) aus geometrischen Objekten aufgebaut, die über Gelenke
und „hydraulische“ Elemente verbunden werden.
In der „glatten“ Tradition, werden die Körper als komplexe
flexible Häute aufgefaßt. Getragen wird diese Haut durch eine (gekerbte)
Skelettstruktur, die den Bewegungsrahmen vorgibt. Das äußere Erscheinungsbild
hängt jedoch von den Dehnungen/Verschiebungen und Faltungen der „Haut“ ab.
+++
G. Deleuse & F. Guattari / Kapitalismus und
Schizophrenie – Tausend Plateaus
Kap. 14 – Das Glatte und das Gekerbte - Zitate:
Der glatte Raum und der gekerbte Raum – Der Raum des
Nomaden und der Raum des Seßhaften.
... manchmal müssen wir uns daran erinnern, daß die beiden
Räume nur wegen ihrer wechselseitigen Vermischung existieren: der glatte Raum
wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der
gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum
zurückverwandelt.
Das Modell der Technik – Ein Gewebe hat im
Prinzip eine bestimmte Anzahl von Eigenschaften, durch die es als gekerbter
Raum definiert werden kann.
Leroi-Gourhan hat diese Figur von „geschmeidigen
Festkörpern“ sowohl bei der Korbmacherei als auch beim Weben untersucht:
die Stege und die Reiser, die Kette
und der Schuß. Zum dritten ist ein solcher gekerbter Raum
zwangsläufig begrenzt, er ist zumindest an einer Seite geschlossen ...
Aber zu den geschmeidigen Festkörpern gehört auch der
Filz, der ganz anders zustande kommt und so etwas wie ein Anti-Gewebe
ist. .... Das so verwickelte Material ist keineswegs homogen; und
trotzdem ist es glatt und Punkt für Punkt dem Raum des Gewebes entgegengesetzt
...
Es gibt viele Verflechtungen, Mischformen von Filz und Gewebe.
Siehe dazu auch: Modul 21
Das Modell der Musik – Im Prinzip sagt Boulez,
daß man in einem glatten Zeit-Raum besetzt, ohne zu zählen, während man in
einem gekerbten Zeit-Raum zählt, um zu besetzen. Er macht also die Differenz
zwischen nicht-metrischen und metrischen Mannigfaltigkeiten, zwischen
gerichteten und dimensionalen Räumen spürbar oder wahrnehmbar.
Kann man sagen, daß es im glatten Raum ohne Einschnitt und modulo kein Intervall gibt?
Oder ist in ihm im Gegenteil alles zum Intervall, zum
Intermezzo geworden? Das Glatte ist ein Nomos, während das Eingekerbte,
wie zum Beispiel die Oktave, immer einen Logos hat.
Boulez interessiert sich für die Kommunikation von zwei
Arten von Räumen, für ihre Wechsel und
Überlagerungen: so wie ein „glatter, stark gerichteter
Raum die Neigung zeigt, auf einen geriffelten Raum hinaus zu laufen“, so wie
„ein geriffelter Raum, bei dem die statistische Anordnung der benützten Höhen
faktisch gleichmäßig ist, die Tendenz hat, sich einem glatten
Raum anzugleichen“; ...
Um zu dem einfachen Gegensatz zurückzukehren, das Gekerbte
oder Geriffelte ist das, was das Festgelegte und Variable miteinander
verflicht, was unterschiedliche Formen ordnet und einander folgen läßt und was
horizontale Melodielinien und vertikale Harmonieebenen organisiert.
Siehe
dazu auch: Modul 16
Das Modell des Meeres – Gewiß, sowohl im
gekerbten wie im glatten Raum gibt es Punkte, Linien und Oberflächen. ... Im
gekerbten Raum werden Linien oder Bahnen tendenziell Punkten untergeordnet: Man
geht von einem Punkt zum nächsten. Im glatten Raum ist es umgekehrt: die Punkte
sind der Bahn untergeordnet. Bereits bei den Nomaden gab es den
Außen-Vektor Kleidung-Zelt-Raum.
Im Glatten wie im Eingekerbten gibt es Punkte des
Stillstands und Bahnen; aber im glatten Raum reißt die Bahn den Stillstand
fort, ...
Im glatten Raum ist die Linie also ein Vektor, eine
Richtung und keine Dimension oder metrische Bestimmung. Er ist ein Raum, der
durch örtlich begrenzte Operationen mit Richtungsänderungen geschaffen wird.
Der glatte Raum ... Er ist eher ein Affekt-Raum als ein
Raum von Besitztümern. Er ist eher eine haptische als eine optische
Wahrnehmung. Während im gekerbten Raum die Formen eine Materie
organisieren, verweisen im glatten Raum die Materialien
auf Kräfte oder dienen ihnen als Symptome. .... Intensives Spatium statt
Extensio. Organloser Körper statt Organismus und Organisation.
Die Wahrnehmung besteht hier eher aus Symptomen und
Einschätzungen als aus Maßeinheiten und Besitztümern. Deshalb wird der glatte
Raum von Intensitäten, Winden und Geräuschen besetzt, von taktilen und
klanglichen Kräften und Qualitäten, wie in der Steppe, in der Wüste oder im
ewigen Eis.
... das Meer ist der glatte Raum par excellence, ...
Die Einkerbung der Meere geschieht ... bei der
Navigation auf hoher See. Der maritime Raum wird ausgehend von zwei
Errungenschaften, einer astronomischen und einer geographischen, eingekerbt:
durch den Punkt der Position, den man durch eine Reihe von Berechnungen auf der
Grundlage einer genauen Beobachtung der Sterne und der Sonne bekommt: und durch
die Karte, die die Meridiane und Breitenkreise, sowie die Längen- und
Breitengrade verbindet und so die bekannten oder unbekannten Regionen rastert
(wie das Periodensystem von Mendelejew).
Eben dadurch ist das Meer, der Archetyp des glatten
Raumes, auch zum Archetyp für alle Einkerbungen des glatten Raumes geworden:
Einkerbung der Wüste, Einkerbung der Luft, Einkerbung der Stratosphäre. Der
glatte Raum ist zuerst auf dem Meer gezähmt worden, auf dem Meer hat man ein
Modell für die Raumaufteilung, für das Aufzwingen der Einkerbung gefunden, das
überall zum Vorbild genommen werden konnte.
Das Glatte verfügt immer über ein
Deterritorialisierungsvermögen, das dem Gekerbten überlegen ist.
All dies soll daran erinnern, daß das Glatte selber von
teuflischen Organisations-Kräften umrissen und besetzt werden kann.
Glattes und Gekerbtes unterscheidet sich zuerst durch die
umgekehrte Beziehung von Punkt und Linie (die Linie zwischen zwei Punkten im
Falle des Gekerbten, der Punkt zwischen zwei Linien beim Glatten). Zum zweiten
unterscheiden sie sich durch die Art der Linie (gerichtet glatt, offene
Intervalle; dimensional-gekerbt, geschlossene Intervalle).
... seit den ältesten Zeiten, seit dem Neolithikum und
sogar seit dem Paläolithikum, hat die Stadt die Landwirtschaft erfunden: unter
dem Einfluß der Stadt überlagern der Ackerbauer und sein gekerbter Raum den Landwirt
im noch glatten Raum (halb-seßhafter oder bereits seßhafter, transhumierender
Landwirt).
Wir sind häufig auf alle möglichen Arten von Unterschieden
zwischen den beiden Typen von Mannigfaltigkeit gestoßen: metrische und nicht
metrische; extensive und qualitative; zentrierte und azentrierte; baumartige
und rhizomatische; zahlenförmige und flache; dimensionale und direktionale; der
Masse und der Meute; der Größe und des Abstands; des Einschnitts und der
Frequenz; eingekerbte und glatte. Nicht nur das, was einen glatten Raum
bevölkert, ist eine Mannigfaltigkeit, die ihr Wesen ändert, wenn sie sich
teilt, ... sondern auch der glatte Raum (Wüste, Steppe, Meer oder ewiges Eis)
ist eine Mannigfaltigkeit dieser Art, also nicht metrisch, azentriert, gerichtet
etc.
Als amorpher und nicht homogener Raum ist der glatte Raum
heterogen und in kontinuierlicher Variation.
Das Modell der Ästhetik – die nomadische Kunst. –
Mehrere praktische und theoretische Begriffe sind geeignet, eine nomadische
Kunst und ihre (barbarischen, gotischen und modernen) Folgen zu definieren.
Die
Bezugnahme auf Moderne und Gotik ist auch in Bezug
auf die Diagrammatik spannend.
Man
bedenke auch, daß Deleuze sich im Zusammenhang mit „glatten Faltungen“ mit der
Barock-Zeit
auseinander gesetzt hat. Nun hätte Deleuze wunderbare Formungen im Bereich
der
PKW-Karosserie-Gestaltung zur Verfügung.
Zunächst die „nahsichtige Auffassung“ im Unterschied zur
Wahrnehmung aus der Ferne; dann der „taktile“ oder vielmehr „haptische
Raum“ im Unterschied zum optischen Raum. Haptisch ist ein besseres Wort als
taktil, da es nicht zwei Sinnesorgane einander gegenüberstellt, sondern
anklingen läßt, daß das Auge selber diese nicht-optische Funktion haben kann.
Alois Riegel hat dem Begriffspaar nachsichtige Anschauung-haptischer Raum in
einem bemerkenswerten Text einen grundlegenden ästhetischen Stellenwert
verliehen.
Vergleiche
im Detail „Ähnlichkeit und Berührung“ von Didi-Huberman.
Das Glatte scheint uns Gegenstand einer nahsichtigen
Anschauung par excellence und zugleich Element eines haptischen Raumes zu sein
(der gleichermaßen visuell, auditiv und taktil sein kann).
Das Gekerbte verweist dagegen auf eine eher fernsichtige
Anschauung und auf einen eher optischen Raum – auch wenn das Auge nicht das
einzige Organ ist, das diese Fähigkeit hat.
Cézanne sprach von der Notwendigkeit, das Kornfeld nicht
mehr zu sehen, zu nah dran zu sein und sich ohne Anhaltspunkt im glatten
Raum zu verlieren. Danach kann es zur Einkerbung kommen: die Skizze, die
Strata, die Erde, die „starrsinnige Geometrie“, der „Weltmaßstab“, die
„geologischen Schichten“, „alles fällt lotrecht herab“ ... Auf die Gefahr hin,
daß das Gekerbte seinerseits in einer „Katastrophe“ endet, zugunsten eines
neuen glatten Raumes und eines neuen gekerbten Raumes...
Vergleiche
dazu B. Cache – Earth Moves
Es ist eine Tierheit, die man nicht sehen kann, ohne sie
im Geiste zu berühren, ohne daß der Geist, selbst durch das Auge, zu einem
Finger wird. ... Der gekerbte Raum wird dagegen durch die Erfordernisse einer
Fernsicht definiert: Beständigkeit der Richtung, Veränderlichkeit des Abstandes
durch den Austausch von starren Anhaltspunkten, Annäherung durch das Versinken
in der Umgebung, Schaffung der Zentralperspektive.
Die
gekerbte Sicht der Moderne kann somit auch als eine distanzierte Haltung
gelesen
werden.
Man sieht hier ... recht gut, wie der glatte Raum
weiterbesteht, aber nur deshalb, damit ein gekerbter Raum aus ihm hervorgeht.
Wenn wir von einer vorgängigen Dualität von Glattem und
Gekerbtem ausgehen, dann wollen wir damit sagen, daß die Differenzen von
„Haptischem und Optischem“, von „Nahsicht und Weitsicht“ selbst dieser
Unterscheidung untergeordnet sind. Man kann das Haptische also nicht durch den
unbeweglichen Hintergrund, die Fläche und den Umriß definieren, denn es ist
bereits ein Mischzustand, bei dem das Haptische zum Einkerben dient und sich
seiner glatten Komponenten nur noch bedient, um sie in einen anderen Raum zu
übertragen.
Die haptische Funktion und die Nahsicht setzen zunächst
das Glatte voraus, das weder Hintergrund, Fläche noch Umriß enthält, sondern
Richtungsänderungen und Annäherungen von lokalen Teilen.
Umgekehrt beschränkt sich die entfaltete optische Funktion
nicht darauf, die Einkerbung auf eine neue Stufe der Vervollkommnung zu
bringen, indem sie ihr einen imaginären universellen Wert und eine imaginäre
universelle Reichweite geben; sie ist auch dazu fähig, Glattes zurückzugeben,
indem sie das Licht befreit und die Farbe gestaltet, indem sie eine Art von
luftigem haptischen Raum wiedererschafft, der den nicht begrenzten Ort von
überlagerten Flächen bildet.
Vergleiche
dazu Arbeiten von James Turrell und Fragen der Atmosphärik als Opposition
oder
Grenzfall der Diagrammatik.
Kurz gesagt, das Glatte und das Gekerbte müssen zunächst
an sich definiert werden, bevor sich daraus die entsprechenden Unterscheidungen
von Haptischem und Optischem, von Nahem und Fernem ergeben.
Hier kommt ein drittes Begriffspaar ins Spiel: „abstrakte
Linie – konkrete Linie“ (neben den Paaren „haptisch-optisch“ und „nah-fern“).
Worringer hat dieser Idee der abstrakten Linie eine grundlegende Bedeutung
gegeben, da er in ihr sogar den Beginn der Kunst oder den ersten Ausdruck eines
künstlerischen Wollens gesehen hat.
Kunst als abstrakte Maschine. Und zweifellos sind wir auch
hier noch geneigt, die gleichen Einwände wie zuvor geltend zu machen: die
abstrakte Linie scheint Worringer zunächst in der möglichst geradlinigen
geometrischen oder kristallinen, ägyptischen imperialen Form aufzutauchen; und
erst danach macht sie eine spezielle Wandlung durch und bildet die „gotische
oder nordische Linie“ im weitesten Sinne.
Für uns ist die abstrakte Linie dagegen zuallererst
„gotisch“ oder vielmehr nomadisch und und nicht geradlinig.
.... es ist die nomadische Linie gerade deswegen abstrakt,
weil sie aus einer vielfachen Richtung besteht und zwischen den
Punkten, Figuren und Umrissen verläuft: ihre positive Motivierung liegt in
dem glatten Raum, den sie umreißt und nicht in der Einkerbung, die sie
vornähme, um die Angst zu bannen und sich das Glatte unterzuordnen.
Siehe
dazu auch „Angst und atmosphärische Begrifflichkeit“
Siehe
auch Diagrammatik als Ordnungsfrage (Ordnung als Sicherheit; Vermüllung
und
Unordnung als Gegenpol)
Die abstrakte Linie ist der Affekt von glatten Räumen und
nicht das Angstgefühl, das die Einkerbung hervorruft.
Abstrakt ist nicht das direkte Gegenteil von figurativ,
...
Siehen
dazu die fluidalen Ausformungen
Man nehme ein System, in dem die Transversalen den
Diagonalen, die Diagonalen den Horizontalen und Vertikalen und die Horizontalen
und Vertikalen sogar virtuellen Punkten untergeordnet sind: ein solches
geradliniges oder einliniges (ganz gleich, wie groß die Zahl der Linien ist)
System bringt die formalen Bedingungen zum Ausdruck, unter denen ein Raum
eingekerbt wird und die Linie einen Umriß bildet. Eine solche Linie ist formal
an sich darstellend, auch wenn sie nichts darstellt.
Eine Linie dagegen, die nichts eingrenzt, die keinen
Umriß mehr zieht, die nicht mehr von einem Punkt zum anderen geht,
sondern zwischen den Punkten verläuft, die unaufhörlich von der
Horizontalen und von der Vertikalen abweicht und sich ständig von der
Diagonalen löst, indem sie unaufhörlich die Richtung wechselt – diese
mutierende Linie ohne Außen und Innen, ohne Form und Hintergrund, ohne Anfang
und Ende, eine solche Linie, die ebenso lebendig ist wie eine kontinuierliche
Variation, ist wahrhaft eine abstrakte Linie und beschreibt einen glatten Raum.
Sie ist nicht ausdruckslos !
Diese
Stelle ist für die diagrammatischen Betrachtungen zentral und zeigt auch genau
jene
Aspekte
auf, die im fluidalen Design der springende Punkt sind.
Genau
genommen werden hier also jene Ausdrucksmöglichkeiten angesprochen, die
wir in
Gesichtern, in Physiognomien (in weitester Hinsicht) beobachten können.
Für diese
Ausdrucksmöglichkeit braucht es also keine Umrißlinien und keine Einfühlung
in
lineare Ausdruckswerte.
Es ist allerdings richtig, daß sie keine feste und symmetrische
Ausdrucksform bildet, die auf einer Resonanz von Punkten und einer
Vereinigung von Linien beruht. Aber sie hat trotzdem materielle
Ausdrucksmerkmale, die sich mit ihr verschieben und deren Wirkung sich
schrittweise vervielfacht.
In diesem Sinne sagt Worringer von der gotischen Linie
(für uns, von der nomadischen Linie, die von der Abstraktion lebt):
sie hat Ausdruckskraft und keine Form, sie hat die
Wiederholung als Kraft und nicht die Symmetrie als Form.
Die schönsten Seiten bei Worringer sind die, auf denen er
Abstraktes und Organisches gegen-überstellt. Das Organische bezeichnet keine
Darstellung, sondern in erster Linie
die Form der Darstellung und sogar auch das Gefühl, das das Dargestellte mit
einem Subjekt vereint (Einfühlung). „Es spielen sich innerhalb des Kunstwerkes
formale Vorgänge ab, die den natürlichen
organischen Tendenzen im Menschen entsprechen.“
Aber das kann nun gerade nicht das Geradlinige, das
Geometrische sein, das in diesem Sinne dem
Organischen entgegengesetzt wird. Die griechische
organische Linie, die sich dem Volumen oder der Räumlichkeit unterordnet, löst
die ägyptische geometrische Linie ab, die sie auf die Fläche reduzierte.
... Von daher das Primat des Menschen oder des Gesichts,
weil es diese Ausdrucksform selber ist,
also zugleich höchster Organismus und Verhältnis des
ganzen Organismus zum metrischen Raum im allgemeinen.
Die abstrakte Linie ist der Affekt eines glatten Raumes,
ebenso wie die organische Darstellung das Gefühl ist, das den gekerbten Raum
beherrscht.
Die
Organe sind dabei als diskrete systemische Einheiten aufgefaßt.
Daher müssen die Unterschiede von Haptischem und
Optischem, sowie von Nahem und Fernem der
Differenz von abstrakter und organischer Linie
untergeordnet werden, damit sie ihr Prinzip in einer allgemeinen Konfrontation
von Räumen finden können.
Und was und besonders interessiert, sind die Übergänge und
Kombinationen bei den Glättungs- und Einkerbungsvorgängen. Wie der Raum
unaufhörlich unter der Einwirkung von Kräften eingekerbt wird, die in ihm
wirksam sind; aber auch wie er andere Kräfte entwickelt und inmitten der
Einkerbung neue glatte Räume entstehen läßt.
Die Entsprechungen von GEsicht und Landschaft (Kap. Das
Jahr Null – Die Erschaffung des Gesichts).