Gerhard
Dirmoser – Linz 12.2004 gerhard.dirmoser@energieag.at
Dank an: Josef Nemeth (+), Boris Nieslony, Astrit
Schmidt-Burkhardt, Kristóf Nyíri, Bruno Latour,
Peter Weibel, TransPublic, Walter Pamminger, Sabine
Zimmermann, Tim Otto Roth,
Walter Ebenhofer, Franz Reitinger, Steffen Bogen,
Mathias Vogel, Alois Pichler,
Lydia Haustein, Josef Lehner,
Bernhard Cella
In diesem Modul möchte ich auf die Abschlußarbeit von Tim
Otto Roth „Urbild & Imachination – eine Theorie zum Photogramm als Archetyp
von Technobildern“ Bezug nehmen.
Einstiegsfrage: Das Photogramm als Diagramm der
bildgebenden Wirkung des Lichtes ?
photo (gr.) Licht
gramm (gr.) Schrift, Darstellung
dia (gr.) durch, hindurch,
zwischen, auseinander
graph (gr.) Schrift,
Geschriebenes
graphein (gr.) aufzeichnen
In der Fotografie und den dafür entwickelten
Gerätschaften, wurde das Licht (der „Strahl“) in der Weise gebändigt, daß die
lichtempfindlichen Materialien oder Meßeinrichtungen mehr oder minder geregelt
über Linsen und Blendenöffnungen (möglichst) senkrecht beaufschlagt werden.
Im Idealfall könnten in einer
Parallelprojektion (wie in der technischen Zeichnung) quasi unverzerrte
Projektionen entstehen, wenn eine „ideale“ Lichtquelle unendlich weit entfernt
wäre und der Apparat mit einer „idealen“ Teleoptik ebenso in sehr großer
Entfernung plaziert wäre. Um nicht den Schatten des Apparates (am abzubildenden
Objekt) vorzufinden, müßte der Apparat im Verhältnis zur Lichtwille sehr klein
sein, oder die Lichtquelle etwas aus der Idealachse genommen werden.
In dieser Idealsituation tritt das Energiediagramm des
Lichtes am Bild praktisch nicht in Erscheinung. Am Bild ist auch kein
Schattenwurf zu sehen, da das komplex ausgeformte Objekt in jedem Bereich den
eigenen Schatten verdeckt. Nur wenn das Material des Objektes durchscheinend
ist, oder das Licht objektdurchdringende Eigenschaften aufweist, dann könnten
Schatteneffekte am Bildmaterial zu sehen sein (vergl. dazu die
Röntgen-Apparatur).
Monochrome Objekte würden nur als Silhouette also als
Farbfleck im Bild zu sehen sein.
In Bezug auf diagrammatische Fragestellungen ist dabei von
Interesse, daß die Objekt-Silhouette einen Grenzfall zwischen Bild und Diagramm
darstellt.
In einer zweiten Idealsituation
wäre die Lichtquelle unendlich ausgedehnt. Sie würde das abzubildende Objekt in
nahezu unendlicher Entfernung (=R) umfangen. Genau in diesem
Abstand (=R) wäre auch die
Kamera plaziert – quasi als kleiner lichtfreier „unblinder“ Sehfleck. Diese
gleichmäßigste Form der Ausleuchtung würde wahrscheinlich jeden Schatten
ausbügeln. Auch diese Konstellation hätte bei einem monochromen Objekt den
Effekt, daß eigentlich nur eine Silhouette also ein Farbfleck am Bild zu sehen
wäre.
Auch in dieser Idealsituation tritt das Energiediagramm
des Lichtes am Bild praktisch nicht in Erscheinung.
In einer
dritten Idealsituation würde Licht und Objekt in eins zusammen fallen.
Dadurch
kann die Kamera mit Sicherheit keinen Schatten beisteuern. An die Stelle der
reflektierten
Strahlen erreichen nun die „Objektstrahlen“ ganz unmittelbar die Kamera.
Man fotografiert also die
Lichtquelle, was (durch die Energieregel des Entfernungs-quadrates) auf jeden
Fall ein anderes Lichtverhältnis ergibt. Da es sich um keine Reflexion am
Objekt handelt, stellt sich zusätzlich die Frage, wie nun die Farbinformation
codiert sein könnte. Bei weißem Licht hätten wir nun wieder eine
Lichtfleck-Silhouette am Bildträger.
In dieser Konstellation ist das Licht das Objekt. Somit
fallen im Bild die Abbildung (in der Form der Silhouette) und das Lichtdiagramm
als Bild nahezu zusammen. Oder sollte man besser sagen, daß das Lichtdiagramm
also das Diagramm total an die Stelle des Bildes (der Abbildung) getreten ist?
Oder
anders formuliert: wäre nun das Photo(dia)gramm an die Stelle des Bildes
getreten
und somit
das Bild ein Photogramm der zweiten Art? (Apparate- und Nähe-Kriterium
sind ja
auch erfüllbar)
Jetzt ist dann noch zu klären, was das Photogramm der
ersten Art
(nach Tim Otto Roth, Moholy-Nagy, u.a.) sein könnte:
Bei den realen Photogrammen sollte man zumindest 2 Fälle
diskutieren. Im ersten Fall (F1) wäre die Sonne die Lichtquelle (als sehr weit
entfernte, also nahezu punktartige Idealbeleuchtung).
Das komplex geformte Objekt
liegt auf dem Photomaterial und deckt aufsitzend einige Stellen lichtdicht ab.
Einige Stellen sind abgeschattet, wobei es aber von der Form des Objektes und
auch der Gegenständen im nächsten Umfeld abhängt, ob der Schatten mehr oder
minder zusätzlich durchlichtet wird (Unterstrahlung).
Liegt das Photomaterial im
rechten Winkel zur Photoachse (oder besser Lichtquellenachse) und befinden sich
weit und breit keine anderen Objekte, dann treten die Reflexions-erscheinungen
des Fotomaterials und die Beugungseigenschaften des Lichtes unverfälscht in
Erscheinung. (Fall 1.1)
Wäre das
Photomaterial absolut „stumpf“ (würde also das Material das auftreffende
Licht
sofort zu 100% absorbieren), dann würde Kernschatten und Halbschatten bei
kleinen
Objekten
nahezu zusammen fallen. Bei sehr großen Objekten wäre ein Halbschatten quasi
als
Andeutung einer Aura zu sehen. (Fall 1.2)
Das heißt, daß im Fall 1.1 die Reflexion des Bildmaterials
selbst und damit die Reflexionseigenschaften der sonnenabgewandten Seite des
Objektes sich auf das Bild auswirken würden. (OR): Besonders deutlich wird das
bei Metallgegenständen.
Das
Photogramm trägt also die komplexen Einwirkungen der indirekten Reflexionen
des Photomaterials und des
Objektes. So gesehen könnte das Photogramm als Diagramm der
Spiegelungseigenschaften bezeichnet werden.
Wenn im Fall 1.2 keine umgebenden Kontextobjekte zugegen
wären, würden alle Lichtstrahlen sofort vom Bildmaterial absorbiert, was zu
keiner indirekten Beleuchtung der sonnenabgewandten Seite des Objektes führen
würde.
Die Bildzeichnung würde primär aus der Kernzone der Totalabdeckung und der Kernabschattungszone „wiederspiegeln“. Zusätzlich würden sich bei komplexen Objekten zB. bei Schlitzen Phänomene der Lichtbrechung und –Beugung bemerkbar machen.
Wenn man also von der Silhouette
des Objektes in der Abbildung absieht, dann hätte
man das Diagramm der
Lichtbrechung bzw. Beugung am Bild repräsentiert.
Das Photogramm wäre in dieser Konstellation
das Lichtbrechungsdiagramm bzw.
Lichtbeugungsdiagramm.
Im zweiten Fall (F2) handelt es sich um ein Photogramm,
daß in einem lichtdichten Raum (zB. einer Höhle) mit nur einer „künstlichen“
Lichtquelle realisiert wird.
Auch hier
kann man wieder Fall 2.1 und 2.2 unterscheiden. Im Prinzip ändert sich aber
nur das
Verhältnis von Kernschatten zu Halbschatten.
Kann nun das Photogramm doch auch (im Sinne der „drawing
systems“ von Willats) als Projektion
gesehen werden? Ja - im Prinzip handelt es sich um eine
Frage der Projektion, wobei es durch die komplexen Brechungs- und
Reflexionsverhältnisse zu unerwarteten, aber durchaus berechenbaren
Erscheinungen kommt.
Wenn also in einer VR-Umgebung jene (u.a. von Kittler
beschriebenen) Beleuchtungsalgorithmen eingesetzt werden, die auch jede Art von
komplexer Mehrfachreflexion und Brechung berücksichtigen, dann läßt sich ein
Photogramm rechnerisch ermitteln.
Anmerkung: Siehe weiters unter Radiosity / Difusion des Lichtes nach
der Model
der Ausbreitung von Wärmeausbreitung.
Anmerkung: Laut Kittler wurden
einige Algorithmen aus der Quantenphysik (elektroquantendynamische Optik)
übernommen. Auch dort galt es komplexe Wechselwirkungen berechenbar und
darstellbar zu machen.
Das Diagramm des Lichtes läßt sich also berechnen
(wenn auch mit extremen Aufwand).
Das läßt sich aber einfacher und quasi „analog“ dadurch
bewerkstelligen, indem sich das Licht selbst als Photogramm am Bildmaterial
„abzeichnet“ oder „einschreibt“. Im wahrsten Sinn des
Wortes zeichnet/schreibt sich das Licht ins Material ein.
PhotoGramm ist also ein gut gewählter Begriff, der aber im Prinzip auch
allgemein für apparategestützen Verfahren gelten könnte.
Im Grunde
schützt der Bildapparat das Bildmaterial vor diversen unerwünschten
Reflexionen.
Durch Distanz gewinnt man Kontrolle über einige Seiteneffekte.
Aus dieser Sicht könnten also Photographie und Photogramm
wieder gleich gesetzt werden
(vergleiche die Ursprungsbedeutung von „gramm“ und
„grah“).
Aber im Sinne der unterschiedlichen Abbildungsergebnisse,
ist es vernünftiger, die zwei Begriffe beizubehalten, wobei die primäre
Differenz darin liegt, daß beim Photogramm das Objekt an einigen Stellen
unvermittelt (apparatelos) das Bildmaterial berührt.
Wenn man das Bildmaterial als das zentrale und verbindende
Element auffaßt, dann ist das
Photogramm näher beim zentralen Konzept und damit auch der
allgemeinere Ansatz.
Da sich die Belichtungszeit in der Kamera einfacher
steuern läßt, als in der kamerafreien Abbildungsverfahren, wird sich die
lichtempfindliche Schicht in der Qualität etwas unterscheiden (trägeres
Material). Der zentrale Unterschied liegt aber in der kamerabedingt
kontrollierten Lichtzeichnung. Die Lichtführung wurde ja bis jetzt nicht als
kontrollierbar diskutiert; aber auch da sind ja Techniken der Ausrichtung
bekannt.
Beim Photogramm handelt es sich also um eine „wilde“
ungebändigte „Graphie“. Paradoxerweise
treten dabei die (berechenbaren) diagrammatischen
Eigenschaften quasi ungezügelt zu Tage.
So formuliert handelt es sich beim Photogramm nicht um den
Archetyp der Technobilder; sondern um einen Archetyp der (analogischen) Bilder
– aber eben der „Techno/Apparate-freien“ Bilder, soferne man die Bildchemie
hier als Konstante aus dem Spiel läßt.
Wenn man nun auch noch das Bildmaterial entfernt und die
Reflexionseigenschaften diverser
Materialien einbedenkt, dann müßten im Halbschattenbereich
der Objekte photogrammatische Phänomene zu beobachten sein.
Wenn man dann noch stark gefärbte Kontextobjekte mit ins
Spiel bringt, dann sind diese Phänomene auch mit dem freien Augen beobachtbar,
zB. wenn sich „Nachbarfarben“ in Schattenzonen wiederfinden.
So gesehen wäre also in Bezug
auf das Photogramm eine erweiterte Schattenkunde anstatt der
Apparatekunde zu entwickeln.
Die sonderbaren (mimetisch
ungewohnten) Erscheinungen am Photogramm sind also das Diagramm der material-
und formbedingten Lichtwirkungen.
Das Ziel der
Apparatephotographie ist es also, das Diagramm des Lichtes auf die
abbildungstechnisch erwünschten
Eigenschaften zu beschränken.
Die ursprüngliche Formulierung „Das Photogramm als
Diagramm der bildgebenden Wirkung des Lichtes“ scheint also einerseits ganz
brauchbar zu sein, anderseits kommt man aber doch auf falsche – zu
lichtfixierte – Gedanken (man muß die Lichtwirkung im Relation zum Objekt und
zum Bildmaterial sehen).
Also sagen wir besser: Der Diagrammbegriff hilft zu
klären, was der Unterschied zwischen einer Photographie und einem Photogramm
ist.
(OR)
Photographie würde ich nicht als beschränktes Photogramm sehen, sondern als
eine
Umprogrammierung.
Für andere Autoren war es der Begriff der Spur, mit
dem man zu einer ähnlichen Auffassung kam.
Nachtrag 1: Was könnte das nun für die digitale Fotografie
heißen? Was wäre, wenn quadratmeter-große Meßflächen(CCD chips) verfügbar
wären? Wäre damit der erhoffte Sprung vom Archetyp zum Technobild vollzogen?
Ich denke nicht, da auch die verfügbaren Meßsysteme reflektierende
Eigenschaften haben und außerdem material- und formbedingte Lichtwirkungen der
abzubildenden Objekte immer weiter bestehen werden.
Die nachträgliche softwaregestützte Entfernung
unerwünschter Abbildungseffekte ist wahrscheinlich um vieles aufwendiger, da
man aus der Sicht der Kamera das Umfeld (wie in einem Geländemodell zB. lasertechnisch)
umfassend vermessen müßte, um die unerwünschten Effekte überhaupt erst
entdecken und interpretieren zu können.
Das wäre aber wieder ein ziemlich eigenartiger Vorgang,
wenn die Kamera mit ihrem „Eigenlicht“
(per Laser) eine Totalvermessung und damit
modellhafte/bildhafte Repräsentation realisieren würde, um in der Folge mit den
Effekten anderer Lichtquellen umgehen zu können.
Roth:
Wenn ein dreidimensionaler Gegenstand einen Abdruck auf einer zweidimensionalen
Fläche
abdrückt, so kann dieser flächige Abdruck gemeinhin eben nicht mehr in ein
dreidimensionales
Objekt zurückübersetzt werden.
(Vergl.
dazu die Repräsentationstechniken der techn. Zeichnung)
Also - wie Flusser in „Vampyroteuthis Infernalis“ bereits
gezeigt hat: Die wahrnehmungstechnisch optimale Lösung liegt darin, wenn Auge
und Lichtquelle zusammenfallen. So hat man die perfekte Höllenmaschine.
Vergleiche dazu auch die Textstellen zu „Neuf portes de ton corps“: Die Öffnungen werden von Innen heraus illuminiert .... Der Körper wird zum Leuchtkörper.
Nachtrag 2: Die Kernphysik ist im eigentlichen Sinne dem Energiediagramm
elementartster Einheiten (feldhafter Erscheinungen) auf der Spur. Die Kamera
oder das Meßsystem umhüllt den Ort des Energieereignisses, ist also Teil der
umfassenden Versuchsanordnung. Einige der Vorrichtungen sind plattenförmig
konstruiert, was wiederum die fotografischen Vergleiche nahelegt.
Es geht aber in der Physik nicht um die material- und
formbedingten Lichtwirkungen sondern um die Energiediagramme elementartster Erscheinungen selbst.
So gesehen kann man hier im wahrsten Sinne vom Diagramm
sprechen und auch der Begriff der Spur kann uneingeschränkt zur Anwendung
kommen.
Herzlichen Dank an Tim Otto Roth für seine wunderbare
Aufarbeitung der Photogramm-Thematik.
Zitate:
(OR) Der wesentliche Unterschied des Photogramms zu den
meisten anderen Bildmedien liegt darin, daß diese immer aus einem gewissen
Abstand heraus agieren.
(OR) Agiert Fotografie so immer aus der Ferne, so ist das
Photogramm ein Medium der taktilen Nähe.
(OR) Photogramme sind somit Phänomene, die unterschwellig
überall dort auftauchen, wo Dinge, Oberflächen und Licht aufeinandertreffen. (Anmerkung:
Gilt auch das Photogramm der zweiten Art)
(OR) Die Welt ist voll von photogrammatischen Bildern.
Keiner wird jedoch ihrer gewahr. Es ist das Urbild, das schon immer da war und
erst mittels technischer Verfahren in seiner Differenz und Divergenz entdeckt
wird.
(OR) Das Photogramm zeigt ferner, daß die Komplexität
räumlicher Repräsentation nicht unbedingt in einer Vervielfachung von
Dimensionen liegen muß, sondern auch in einer Reduktion (liegen kann).