Gerhard
Dirmoser – Linz 12.2004 gerhard.dirmoser@energieag.at
Dank an: Josef Nemeth (+), Boris Nieslony, Astrit Schmidt-Burkhardt,
Kristóf Nyíri, Bruno Latour,
Peter Weibel, TransPublic, Walter Pamminger, Sabine
Zimmermann, Tim Otto Roth,
Walter Ebenhofer, Franz Reitinger, Steffen Bogen,
Mathias Vogel, Alois Pichler,
Lydia Haustein, Josef Lehner,
Bernhard Cella
In diesem Modul soll auf Fragen der Nutzungssemantik
eingegangen werden.
Ausgangspunkt ist ein Text von Gerhard Gamm (GG) „Der
unbestimmte Mensch“, der auf Überlegungen von Bruno Latour (BL) (Wir sind
nie modern gewesen) aufbaut.
(GG)
Während wir das Reale/Rationale dadurch zu definieren trachten, daß wir strikt
das
Zeichen vom Ding, die Kultur von der Natur, den Diskurs von der Sache, die
Karte
vom
Territorium, den Geist von der Materie, das sprechende Menschenwesen von der
stummen
Dingwelt usw. abtrennen, übersehen wir, was sich alltäglich unter unseren
Augen
abspielt und durch unsere Praxis mehr und mehr Gestalt annimmt:
Die
Entstehung, Erschaffung und Vermehrung einer Welt von Hybriden, von
Cyborgs
und Mischwesen,
von Mensch/Maschine-Verbindungen, von Natur/Kultur-Gemengelagen,
von Verkoppelungen
zwischen Biogewebe und Elektronik bzw. Photonik.
(GG) Es
stellt sich als eine fast übermächtige Strategie der philosophischen und
wissenschaftlichen
Neuzeit dar, Ich und Welt von allen unscharfen, vermischten,
mehrdeutigen
und ambivalenten Prozessen und Wesen zu reinigen. Die Reinigungs-
arbeit
der Moderne macht unsichtbar und undenkbar, was sie selbst fortlaufend
an
Mischwesen produziert; .....
(cartesisch-kantische Theorie und Praxis)
Im Rahmen der Diagrammatik habe ich einige Techniken der
Separation vorgestellt. Das Schwergewicht lag aber auf den Fragen der
Relationalität und des „Zwischen“.
(GG)
Latours Überlegungen zur Wissenschaftsforschung gehören zu einem breiten Strom
der Kritik
an der cartesisch-kantisch ausdifferenzierten Moderne: Nicht die Strategien der
Reinigung
definieren das Wirkliche, sondern die unzähligen Formen ihrer Vermittlung.
Sein ist
menschliches und nichtmenschliches Verbundensein. Und dieses Verbundensein
ist
die
Bedingung für die Autonomie beider Seiten.
Die
Modernen dagegen sind Bilderstürmer, sie lieben die Abstraktion, die
trennscharfen
Unterscheidungen,
die von allen Kontingenzen gereinigten Gesetze und Argumente.
Die Nichtmodernen, zu denen Latour
sich selbst rechnet, sehen die Verbindungen, die unmerklichen Übergänge,
Vermittlungen und Transformationen; für sie besteht die Welt
aus Hybriden.
So gesehen sind alle bisher diskutierten Ansätze (meiner diagrammatischen Versuche) der „Nichtmoderne“ zuzurechnen, was auch entsprechenden methodische Hintergründe hat. Alle meine Studien haben mehr oder minder direkt mit nichtmodernen Denkrichtungen und Methoden-angeboten zu tun, die zeitlich gesehen in der sgn. philosophischen Postmoderne den deutschsprachigen Raum erreichten (Latour hat aber mit Lyotard/Baudrillard und ihrer Postmoderne wenig am Hut und ordnet seine Referenzpersonen daher der „Nichtmoderne“ zu). Natürlich gibt es weiters zu denken, wenn Hartmut Böhme die Netzsicht als die Episteme der Moderne benennt, aber Serres, Deleuze & Guattari haben, so hoffe ich, die „Netzdenke“ ausreichend von Kant & Co befreit.
(GG) ...
„Wer ist nun also der Akteur in meiner kleinen Geschichte, die Waffe oder der
Bürger?“,
fragt Latour, um sogleich zu antworten: „Jemand anders (eine
Bürger-Waffe,
ein
Waffen-Bürger). Wie Techniken hergestellt und wie sie eingesetzt werden, werden
wir
nie
verstehen“, fährt er fort, „wenn wir immer noch annehmen, das psychische
Vermögen
sei ein
für alle mal festgelegt. Mit der Waffe in der Hand bist du ein anderer Mensch.“
Latour
nimmt an, daß das menschliche Sein in seiner Existenz liegt, Existenz aber über
das
jeweilige Handeln verstanden
werden müsse, sowie über die Stärke der situativen Verbindungen,
in die sich die Menschen begäben. >Vermittlung< avanciert daher
zum
Zentralbegriff.
Dieser kontextbewußte/situative Ansatz wurde in dieser
Studie schon mehrfach angesprochen. Es ist daher sehr spannend für mich, daß in
den unmittelbar folgenden Textstellen ein erweiterter Propositionsbegriff
entwickelt wird.
(GG)
Latour glaubt, mittels des traditionellen Konzepts von Subjekt und Objekt ließe
sich
die
Situation nicht mehr richtig einschätzen, vor allem nicht die vermittelnde
Rolle von
Wissenschaft und Technik in unseren
auf unterschiedliche Reichweiten abgestellten Aktionen.
(BL) „Wenn wir die Waffe und den
Bürger dagegen als Propositionen begreifen, bemerken
wir, daß weder Subjekt noch
Objekt (noch ihre Ziele) festgelegt sind. Wenn Propositionen
artikuliert werden, verbinden
sie sich zu einer neuen Proposition. Sie werden >jemand< oder
>etwas< anderes.“
(GG) Latour nennt diese neuen
Verbindungen Hybrid-Akteure.
(GG) Latour entwickelt vier
Typen der Vermittlung von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen. Die erste
besteht, wie angedeutet, in dem, was er „Übersetzung“ nennt. Die zweite
Vermittlungsform nennt er „Artikulation“, die dritte das
„Hinaus- und
Hinunterverschieben“ und eine letzte „Delegation“.
Wie man „Verantwortung in
Netzen“ beschreiben, wie man sie verteilen könnte, welche
sozialen Kämpfe das entfachen
wird, sind vielleicht die wichtigsten und umstrittensten
Fragen, die man aus der
Diskussion mit Latour ziehen sollte.
In einem weiteren Abschnitt wird „vom latourschen
Anthropomorphismus der Dinge, seiner Semantisierung dinglicher Verhältnisse“
gesprochen. Diese Formulierung mußte mich (auf der Suche nach einer brauchbaren
Bildsemantik) natürlich elektrisieren.
(GG) Latour weigert sich aus
prinzipiellen Gründen, Unterschiede einzuführen, die, wie Intentionalität,
Wille, Script, auch nur entfernt an die traditionellen Kategorien einer
Philosophie des Bewußtseins erinnern.
(GG)
Abweichend vom heute üblichen Sprachgebrauch sind für Latour Propositionen
das,
was
ein Akteur dem anderen anbietet.
Wir selbst finden uns
eingebunden in Ketten von Propositionen, welche die Akteure – menschliche und
nichtmenschliche Wesen – füreinander darstellen.
Artikulationen wie Propositionen
sind daher keine Eigenschaften der Rede (keine des
semantischen Gehalts von
Sätzen), sondern Eigenschaften des Universums.
Mit dieses Sprachgebrauchs
sollen die tiefen Furchen, die das „Gespenst in der Maschine“
hinterlassen hat, auch
konzeptuell überwunden werden.
Latour nennt Whitehead als
Referenzautor, der vergleichbare Überlegungen geäußert habe;
näher noch scheinen Konzepte zu
liegen, wie sie Levi-Strauss entwickelt hat ...
Die Ahistorizität solcher
Begriffsbildungen ignorierend, könnte man sagen, daß diese
Semantisierung des Wirklichen dann ein
fundamentum in re habe, wenn man – im
Rückgriff auf die Natur – das
Reale/Rationale als eine durch Menschenhand und
Menschengeist assimilierte Welt
darstelle.
Ich denke, mit meinen Versuchen zu hinterfragen, was Techniker
aus technischen Zeichnungen herauslesen können, habe ich eine ähnlich Spur
verfolgt. Die Semantisierung dinglicher Verhältnisse sollte also auf
jeden Fall als Ansatz weiter verfolgt werden.
(GG) Medium
ist auch das, was dazwischen ist, dazwischen tritt, die Mitte
und das
Vermittelnde ...
Im nächsten Kapitel >Technik als Medium< wird ein
relativ konventioneller Medienbegriff vertreten, den ich gerne mit den Ansätzen
von Matthias Vogel verknüpft sehen möchte, der Medien als „unterschiedlichen
Mengen von Tätigkeitstypen“ abhandelt. Ich vermute, daß der Ansatz von
Vogel gut mit dem Propositionsbegriff von Latour vereinbar ist.
In „Wir sind nie modern gewesen“ spricht Latour u.a. von „Ensembles
von Praktiken“.
In der Abb. 1: Reinigungs- und Übersetzungsarbeit sind die
reinigenden Differenzierungen (der Moderne) als große Knotenringe
dargestellt und die Strukturen der „unmodernen“ Übersetzung sind explizit als
Netzwerke & Hybriden benannt und als Netzstruktur visualisiert. Latour
gehört also auch zu jenen DenkerInnen, die weg von der Knoten- hin zu einer
Kanten-orientierten Sicht gelangen wollen und daher auch in der Sprachlichkeit
einen entsprechenden Wechsel vollziehen müssen. Expliziter als zB. bei Foucault
zeigt sich das bei Latour auch in seinen diagrammatischen Visualisierungen.
In einem eigenen Kapitel, der „Semiotischen Wende“, geht
Latour darauf ein, wie u.a. durch die Ansätze von R. Barthes (durch die
Zeichenfixierung) die „Reinigung“ weiter fortschritt und sich das
knotenfixierte Denken zusätzlich verhärtet hat. Die
Werkzeugkiste „Semiotik“ will Latour auf ganz bestimmte Fragestellungen der
Sprache beschränkt wissen.
Nicht nur über die Literaturliste wird klar, daß das
Denken von Latour sich in vielen Punkten auf Ansätze von M. Serres bezieht.
Auch Deleuze wird mehrfach zitiert (nicht aber Foucault).
Das Konzept der Quasi-Objekte hat Latour direkt von
M. Serres übernommen. U.a. bezieht er sich auf das Parasiten-Konzept von
Serres. Grundsätzlich fällt auf, daß das zentrale graphische Schema von Latour
in den Abbildungen 4, 6, 7, 9, 11 direkt die Visualisierung des
Parasitenkonzeptes aufgreift!
(BL) Die
Reinigungspraxis – horizontale Linie – muß um die Vermittlungspraktiken –
vertikale
Linie – ergänzt werden. (Der Parasit als Vermittlungskonzept)
(BL) Quasi-Objekte
sind zwischen und unterhalb der beiden Pole, an der Stelle, um die
Dualismus
und Dialektik endlos gekreist sind, ohne etwas damit anfangen zu können.
Quasi-Objekte
sind sehr viel sozialer, sehr viel fabrizierter, sehr viel kollektiver als die
>harten<
Teile der Natur; ...
(BL)
Quasi-Objekte sind ... wie ich gesagt habe, gleichzeitig real, diskursiv und
sozial.
Sie
gehören zur Natur, zum Kollektiv und zum Diskurs.
(BL) Der
undenkbare Un-Ort wird nun zum Punkt, an dem die Vermittlungsarbeit in die
Verfassung
einbricht. Er ist nicht leer, im Gegenteil, hier vermehren sich die Quasi-
Objekte
oder Quasi-Subjekte. Er ist nicht undenkbar, sondern wird zum Terrain aller
empirischen
Untersuchungen, ( ... die inzwischen schon zu den Netzen durchgeführt
worden sind).
(BL)
Symmtrische Anthroplogie: Alle Kollektive bilden Naturen und Kulturen;
allein
die
Dimension der Mobilisierung variiert
Vergleiche dazu das Parasiten-Rad (Link) daß ich zur Analyse des Kunstsystems
verwende. Die Darstellung hat auch das Konzept von Serres aufgenommen und
einige Quasi-Objekte formuliert, die sich zwischen Rollen und Produkten
aufspannen. Die „Nutzungssemantik“ wurde bei Serres zur „Ausbeutungssemantik“.
Im Zuge der Bearbeitung der Latour-Textstellen schien es
mir mehr und mehr zwingend, daß die Grundidee des Medienschemas (Link) mit dem Grundschema der Quasi-Objekte
kompatibel sein müßte. Den Übersetzungsschlüssel liefert Latour im Kapitel „Die
Verbindung der vier modernen Repertoires“ und eine
nachvollziehbare Anwendung zur Bedeutungsverschiebung des Vakuum-Begriffs im
Laufe der Zeiten, findet man im Kapitel „Variable Ontologien“.
Auf meine Frage „Ist die Diagrammatik die Antwort der
Techniker & Naturwissenschaftler auf die Bildfrage?“ schrieb Steffen Bogen:
Ja der
technische Blick in die Welt, der mißt und Bewegungsketten erkennen und listig
beeinflussen
will – und das graphisch vorausdenkt – scheint mir sehr zentral für die
Entwicklung
von Diagrammen. Der Gegenpol scheint mir nicht der mimetische Blick im
engeren
Sinn zu sein (denn die Perspektive ist ein technisierter diagrammatischer Blick
auf die
Welt), sondern eben ein einfühlender Blick, der eine Gestalt als
Bewegungsform
wahrnimmt, die aus einem inneren Impuls mit einer eigenen
Spontaneität
ausgestattet, sich selbst bestimmt. Wenn man das Interesse am
Diagramm
mit der Liebe zum Bild verbinden könnte, hätte man ein großes Rätsel gelöst.