Atmosphären - Emotion - Vom Nutzen schematischer Zeichnungen – Teil XX    

 

            Gerhard Dirmoser – Linz  12.2004  gerhard.dirmoser@energieag.at

 

Dank an: Josef Nemeth (+), Boris Nieslony, Astrit Schmidt-Burkhardt, Kristóf Nyíri, Bruno Latour,

Peter Weibel, TransPublic, Walter Pamminger, Sabine Zimmermann, Tim Otto Roth,

Walter Ebenhofer, Franz Reitinger, Steffen Bogen, Mathias Vogel, Alois Pichler,

Lydia Haustein, Josef Lehner, Bernhard Cella

 

Im Abschnitt XIII (Erfahrung) wurde versucht die Sicht der Bildsemantik zu erweitern.

Zur Erinnerung die auf das Medienschema bezogene Aufstellung jener Ansätze, die es weiter zu verfolgen gilt:

 

G1 Semantik der vereinbarten Codes bzw. der vereinbarten Bedeutung

G2 Semantik mimetischer/physiognomischer Materialien (Semantik mimetischer Bilder)

G3 Semantik der materialen Grundlagen

G4 Semantik der diagrammatischen Grundlagen bzw. der Ordnungsgrundlagen

G5 Semantik performativer Basiselemente

G6 Semantik atmosphärischer (emotionaler) Potentiale

G7 Semantik ästhetischer Verschiebungen

 

In Diskussionen mit Andrea Pesendorfer und Christian Bartel stellte sich die Frage, ob man nicht gerade im Bereich der atmosphärischen (emotionalen) Potentiale von Ansätzen einer „objektiven“ leiblich fundierten Semantik sprechen könnte. Auf den ersten Blick scheint es ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein, da diese (emotionale) leibliche Sicht von praktisch allen Bildtheoretikern konsequent ausgespart bleibt.

 

            Auch das Attribut „objektiv“ wird in Bezug auf Fragen der Emotionalität nur von wenigen

            Bildanalytikern akzeptiert werden.

 

Im Zuge der Mapping-Analysen (zur Diagrammsammlung) war u.a. die Frage aufgetaucht, was - neben der Sicht der Unordnung - noch als extremer Gegenpol zur Diagrammatik gelten könnte. Die Vermutung, daß Gestaltungsfragen des Atmosphären-Komplexes ein wichtiger Bezugspunkt sein müßten, war intuitiv naheliegend. Siehe im Detail die Studien von G. Böhme, M. Seel, D. Mersch

 

Anmerkung: Im Zuge einer größeren Bildstudie (auf der Basis von hunderten „atmosphärischen“ Bildern) wollen wir im Laufe des Jahres klären, welche Gestaltungsmöglichkeiten jeweils genutzt wurden und welche Möglichkeiten der

Verbalisierung aussichtsreich sind.

Siehe im Detail die Studie: Die Welt der Atmosphären

 

Ein weiterer Anreiz sich auf diese Betrachtung einzulassen, bieten zwei Formulierungen von

Didi-Huberman. Textstelle 1 aus „Was wir sehen blickt uns an“:

 

            „.... dieser bedrohliche Charakter der visuellen Erfahrung findet seinen radikalen

            Ausdruck in der Verbindung des unheimlichen Objekts mit der gesamten Thematik des

            Erblindens. Freud hat nicht nur auf die Verbindung des Unheimlichen mit dem Alleinsein,

            der Stille und der Dunkelheit hingewiesen – was Benjamin alsbald der Aura tun sollte –

            sondern er zeigt uns auch, wie die Erfahrung des Unheimlichen auf die visuelle Erfahrung

            der Gefahr, nichts mehr zu sehen, hinausläuft ...“

 

Textstelle 2 aus dem Beitrag „Superstition“ (Aberglaube) :

 

            „Der Staub zeigt uns vor allem, daß es einen tieferen Zusammenhang zwischen dem

            Licht und dem Zustand des Schwebens oder In-der-Luft-Hängens gibt. Der Schwebe-

            zustand scheint gleichsam die Substanz dieses Lichts zu sein. Hängen und Schweben,

            diese beiden Wörter verweisen auf ein drittes aus demselben Bereich der subtilen Dinge,

            die in der Luft sind, ohne festen Halt, über uns oder um uns herum ...

            Was uns beunruhigt oder  bedroht, hat nicht immer die Form eines Schwerts, das über

            unseren Köpfen hängt; es kann ebensogut, ja mehr noch in dem Staub sein, der über und           um uns tanzt, der schwebende Staub, den ein Lichtstrahl plötzlich sichtbar macht, der

            Staub, den wir sogar einatmen. Doch in der Schwebe sein bedeutet auch eine Ungewißheit,

            eine Drohung.“

 

Die Fragen der Ergossenheit (im Raum), des Einsickerns, Auftauchens und Schwebens findet man in der Atmosphären-Literatur mehrfach abgehandelt.


 

Auch für die Bildfrage kann es also von Bedeutung sein, das Feld unserer Ängste daraufhin zu untersuchen, welche Aspekte der Angst visuelle Auslöser haben könnten.

Einige (katastrophischen) Naturphänomen sind ja von einer Mächtigkeit, die unsere Wahrnehmung im Zuge eines Kreislaufkollaps in sich zusammenbrechen lassen, zu unwillkürlichen Reflexen oder/und Fluchtreaktionen führen.

 

Auch gilt es jene Studien aufzugreifen, die nun in den USA und Kanada forciert zu Fragen der Rationalität & Emotionalität betrieben werden („emotional turn“).

(Ronald de Sousa, Richard Wollheim, Antonio R. Damasio)

 

Gleiches gilt natürlich für alle Fragen der Lust (u.a der sexuellen Lusterfahrungen und die damit verbundenen visuellen Aspekte).

 

Gerade im Umfeld der semiotischen Ansätze sollte folgende Überlegung von Gernot Böhme zu

denken geben:

 

„Der primäre Gegenstand der Wahrnehmung sind die Atmosphären.

Es sind weder Empfindungen noch Gestalten, noch Gegenstände oder deren Konstellationen, wie die Gestaltpsychologie meinte, was zuerst und unmittelbar wahrgenommen wird, sondern es sind die Atmosphären, auf deren Hintergrund

dann durch den analytischen Blick so etwas wie Gegenstände, Formen, Farben usw. unterschieden werden.“

 

Wichtig scheint mir auch die Überlegung von Sabine A. Döring

 

 

„Kraft ihrer evaluativen Komponente entscheiden die Gefühle darüber, wie wir die

Dinge sehen und was uns wichtig erscheint, und eben davon hängt es ab, welche Fragen

wir stellen, welche Entscheidungen wir treffen und wie wir dementsprechend handeln.

Durch reines Nachdenken allein könnte diese kognitive Leistung nicht erbracht werden:

Nicht erst unser Handeln, sondern schon unser Wahrnehmen und Denken hat eine

essentielle emotionale Basis.“

 

Oder mit Antonio R. Damasio (aus: Descartes´ Irrtum):

 

            „Unsere visuelle Wahrnehmung kann man durchaus als

>Empfindung des Körpers, während wir sehen< beschreiben ...“

 

Im Rahmen dieser Betrachtung kann es natürlich nicht darum gehen, die Fragen der Emotionalität breiter zu diskutieren. Hier soll nur angedacht werden, welche zeichnerischen, malerischen und sonstigen materialen und lichttechnischen Äußerungen als emotionale Bezugspunkte relevant sein können.

 

Im Zuge der Verben-Studie konnte ich für den Bereich der atmosphärischen Fragestellungen

über das verfügbare Bildmaterial, aber auch über die je relevanten beschreibenden Verben feststellen, daß einige Herangehensweisen aussichtsreich sein müßten. Aussichtsreich in der Hinsicht, daß man dem „Code der Emotionen“ ein Stück näher kommen könnte.

 

            Die im Rahmen der Studie entstandenen semantischen Netze tragen folgende Arbeitstitel:

            (A1) Unschärfe und atmosphärische Gestaltung (Beispiel)

            (A2) Licht- und Farbwirkung und atmosphärische Gestaltung

            (A3) Schwerkraft-Bewegungsmuster und atmosphärische Gestaltung

            (A4) Energie-Wirkung und atmosphärische Gestaltung

            (A5) Bewegungsmuster und atmosphärische Gestaltung

            (A6) Ästhetik des Erscheinens und atmosphärische Gestaltung

            (A7) Das Unheimliche und atmosphärische Gestaltung

            (A8) Traumerleben und atmosphärische Gestaltung

 

Die hier angesprochenen Verben-Netze sind für mich ein erster Beleg dafür, daß es auch eine Chance der Verbalisierung gibt. Die gewählten bildbeschreibenden Begriffe (Verben) sollen zeigen, daß wir diese zum Teil abstrakten (ästhetischen) Erscheinungen auch inhaltlich lesen. Darauf bezieht sich auch die Suche nach einer entsprechenden Semantik. 


 

Da in Bezug auf die Emotionalität der Wahrnehmung entwicklungsgeschichtlich sehr alte Gehirnteile eine wichtige Rolle spielen, habe ich die Formulierung „einer objektiven und leiblich fundierten Semantik“ vorgeschlagen.

In Bezug auf eine „Objektivität leiblicher Erfahrungen“ wird man schon eher Zustimmung finden.

Der „objektive“ leibliche Hintergrund sgn. „subjektiver“ Empfindungen ist nun seit Jahren Gegenstand von Forschungen. Vor allem mit Hilfe der Computertomographie konnten einige zentralen Gefühle als kulturübergreifend leiblich verankert bestätigt werden.

 

Als die fünf verbreitetsten Gefühle nennt Damasio: Glück, Traurigkeit, Wut, Furcht und

Ekel. Als Abwandlungen gelten: Euphorie und Ekstase als Spielarten des Glücks; Melancholie und Wehmut als Spielarten der Trauer; Panik und Schüchternheit als Spielarten der Furcht. In Verbindung mit kognitiven Inhalten sind wir in der Lage verschiedene Abstufungen von Reue, Verlegenheit, Schadenfreude, Rachsucht etc. zu empfinden.

 

 Im Detail siehe: aktuellen Fachliteratur der genannten Autoren

 

Im Rahmen dieser bildbezogenen Studie sollen primär Sichten und Aspekte thematisiert werden, die sich auch in Bildern niederschlagen können. Auch wenn es dabei in der Regel eher um mimetisch orientierte Bilder gehen wird, kann man Gestaltungserfahrungen aus Werken des „Abstrakten Expressionismus“ (sgn. reflexiven Bildern) in der Regel auch auf Fragen der Diagramm-Gestaltung übertragen.

Der emotional/expressiv orientierte Zugang bietet auch die Chance mit der Kunsthistorik ins Gespräch zu kommen. 

 

Als erster Schritt soll der oben beschriebene Analyseansatz (der zu den Atmosphäre-Bildern entwickelt wurde) in allgemeinerer Form diskutiert werden.

 

Raumerfahrungen

            gefährliche räumliche Situationen (Abgründe, Erdspalten, ....)

            Schwindelgefühl, Höhenangst, Platzangst

            (A3) Schwerkraft-Bewegungsmuster und atmosphärische Gestaltung

 

Schwerkrafterfahrungen

            fallen, stürzen, untergehen, ertrinken / Schwindelgefühl, Höhenangst

            (A3) Schwerkraft-Bewegungsmuster und atmosphärische Gestaltung

 

Bewegungserfahrungen

            gefährliche Bewegungsmuster (Aufgewirbeltes, Unberechenbares, Herabfallendes....)

            Wahrnehmungsirritationen (Den Boden unter den Füßen verlieren)

            Reflexartig ausweichen, abwehren und fangen

            (A5) Bewegungsmuster und atmosphärische Gestaltung

            (A6) Ästhetik des Erscheinens und atmosphärische Gestaltung

 

            Vergleiche dazu das bei Didi-Huberman geschilderte Schlüsselerlebnis:

            Auf der nächtlichen unmarkierten unbeleuchteten Autobahn von der

            Nacht verschlungen zu werden.

 

            Dinge die uns anblicken (als Fragen des Erscheinens)

 

Energieerfahrungen

            gefährliche energetische Erscheinungen (Feuer, Lava, Dampf, Eis, ....)

            Hitze, Kälte, Schmerz-Empfinden

            (A4) Energie-Wirkung und atmosphärische Gestaltung

 

Lichterfahrungen

            Tag/Nacht-Erfahrung, Dämmerungserfahrungen, Feuer, jahreszeitliche Stimmungen;

Lichtqualitäten, Lichtverhältnisse, Lichtstimmungen, Kontraststärke, Schatten

Angst vor Blendung; Angst vor völliger Dunkelheit

            (A2) Licht- und Farbwirkung und atmosphärische Gestaltung

 

            Siehe Arbeiten von James Turrell


 

Farberfahrungen

            Naturästhetik, Naturfarbigkeit, Naturstimmungen, jahreszeitliche Stimmungen;

grau in grau; warme/kalte Farbwerte;

            räumliche Tiefe von Farben; Energiewert von Farben; Wahrnehmbares Farbspektrum

            Genießbarkeit und Reife

            (A2) Licht- und Farbwirkung und atmosphärische Gestaltung

 

            Dinge die Auffallen

 

Erfahrungen der Unheimlichkeit & Bedrohlichkeit

            Undefinierbares, Unbestimmbares, Untiefen (dunkle Flüssigkeiten)

            (A7) Das Unheimliche und atmosphärische Gestaltung

            (A1) Unschärfe und atmosphärische Gestaltung

            (A8) Traumerleben und atmosphärische Gestaltung

 

Im Zuge der Diskussion der Gestaltwahrnehmung wurde bereits angesprochen, daß unser Organismus Verschaltungen zur Kontraststeigerung zu bieten hat, was sich u.a. auf die Gestaltinterpretation auswirkt.

 

Wettererfahrungen

            Siehe: Bewegungserfahrungen, Energieerfahrungen, Lichterfahrungen, Farberfahrungen,

            Materialerfahrungen; Erfahrungen der Unheimlichkeit & Bedrohlichkeit

 

            Warum versetzen uns bestimmte Wetterstimmungen (Fönwetterlage mit Fernsicht) in

            eine Hochstimmung?

 

Erfahrungen der Unfaßbarkeit

            Unfaßbare Größenordnungen / Ekstase der Mächtigkeit bzw. Voluminösität

            Unfaßbare Gewalt / Unfaßbare Energie (zB. bei Katastrophen)

 

Materialerfahrungen – Objekterfahrungen

            Körperfreundliches warmes Material, gefährliches Material, nützliches Material

            Schmerz-Empfinden

            Dinge die Auffallen

 

Schmerzerfahrungen – Schutzerfahrungen

            Objektivität des Schmerzes; Wunden; Blut; Erkrankung

 

Lebensmittelerfahrungen / Ekelerfahrungen

            Verdorbenes; Zersetzung / Geruchsekel

 

Physiognomische (soziale) Ausdruckswerte

            Glück, Traurigkeit, Wut, Furcht und Ekel.

            Ausdruckswerte bei Tieren

            Ausdrucksformen bei Menschen / Physiognomische Ausdrucksweise von Emotionen

 

Beunruhigende Verhaltensweisen

            Mißachtung, Angriff, Verfolgung, Mißbrauch, Tötung

 

Beunruhigende Inhalte (diverser Medien)

            Gewaltszenen, Zerstörtes, Unbegreifbares

 

Was spricht uns ganz persönlich an ?

            Die eigene Vergangenheit – Eigene Erfahrungen, durchlebte Ängste, ...

 

Zeichnerische Ausdruckswerte

            Expressivität – Ausdruckswerte in der Linienausführung – Duktus – Gestus

 

In Bezug auf die 11 Schemagrundtypen stellt sich dann die Frage, inwieweit man auch von atmosphärischen oder expressiven Diagrammen sprechen kann. Ein ersten Versuch habe ich mit dem Tableau „Malerische Grafik“ unternommen. In dieser Richtung sollten also weitere Detailanalysen vorgenommen werden.

Die „Ausdrucksarmut“ bei den Diagrammen könnte mit ein Grund für das geringe Interesse bei den Kunsthistorikern sein.