Die UNO, die NATO und die Tragödie im Kosovo ? Kollektive Sicherheit am Ende?

Ein Kommentar von Univ.-Ass. Mag. Franz Leidenmühler, Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen, Johannes Kepler Universität Linz. Abgeschlossen am 6. April 1999.

Aus Cogito, Zeitschrift des VSStÖ Linz


Die Angriffe der NATO gegen Jugoslawien ...

Beginnend mit dem 24. März 1999 führt die Internationale Staatengemeinschaft eine gegen die Bundesrepublik Jugoslawien gerichtete militärische Intervention durch, mit dem Ziel, in der Region Kosovo eine "humanitäre Katastrophe" zu verhindern, so der Grundtenor westlicher PolitikerInnen und Medien.
Daß diese sogenannte humanitäre Intervention in einem ? im übrigen an der Verfolgungssituation im Kosovo auch mittelfristig nichts ändernden ? Bombardement eines souveränen Staates besteht, scheint bedenklich. Und daß die internationale Staatengemeinschaft in diesem Fall ausschließlich durch 19 Staaten, nämlich die NATO-Mitglieder , konstituiert wird, noch viel mehr. Denn eigentlich ist es ja die UNO, insbesondere deren Sicherheitsrat, die zur Wahrung des Weltfriedens zuständig ist (SIEHE KASTEN). Doch dazu nun der Reihe nach.

... Rechtfertigung als Humanitäre Intervention ?

Die humanitäre Intervention, das Eingreifen der Staatengemeinschaft im Falle menschenverachtender Praktiken eines Regimes, scheint gerade auch der politischen Linken eine durchaus erstrebenswerte Perspektive. Die aber noch nicht geltendes Völkerrecht darstellt, wie sogleich angemerkt sein sollte.
Und selbst für den Fall der Bildung entsprechenden Völkergewohnheitsrechts, ein Problem birgt das Konzept der humanitären Intervention allemal in sich: Die Frage, wer zur Feststellung eines interventionswürdigen humanitären Notstandes kompetent ist, und wer in weiterer Folge zu welchem Eingriff legitimiert ist. Diese Kompetenz in die Hand regionaler Hegemonialmächte oder -bündnisse zu legen, kommt wohl nicht in Frage. Denn dann müßte das, was der NATO recht ist, im Falle einer entsprechenden Betätigung der Russischen Föderation, Chinas oder Indiens im jeweiligen Einflußbereich nur billig sein. Bleibt also wieder nur der UN-Sicherheitsrat. Dieses Organ allein bietet die Gewähr dafür, daß Zwangsmaßnahmen vom Konsens aller bedeutenden Mächte getragen werden.
Womit sich die Frage stellt, ob das Konzept der humanitären Intervention überhaupt von-nöten ist. Denn dem Sicherheitsrat kommt auch jetzt schon die Kompetenz zur Beurteilung rein innerstaatlicher Verhältnisse als Bedrohung des Weltfriedens zu.
Bleibt der berechtigte Einwand des Falls der Blockade des Sicherheitsrates durch das Veto eines seiner ständigen Mitglieder. Ob nicht dann das Einschreiten einer regionalen Macht, gleichsam als Ersatzvornahme für den paralysierten Sicherheitsrat, zulässig sein sollte? Auch diesem Argument sei mit Skepsis begegnet. Es birgt nämlich ein solches, nicht von "universeller" Zustimmung getragenes Einschreiten außerhalb rechtlich geordneter Verfahren, aus Gründen einer vermeintlichen moralischen Verpflichtung, eine nicht zu unterschätzende Gefahr in sich: Denn wer garantiert, daß die betreffende Moral eine aufgeklärte ist?
Und gerade die NATO soll von diesen Bedenken nicht ausgenommen sein. Die seit Jahrzehnten andauernde humanitäre Katastrophe innerhalb der eigenen Allianz, der Krieg gegen das kurdi-sche Volk im Südosten der Türkei, bestätigt dies auf erschreckende Weise.

Neue Weltunordnung

Militärschläge einer Staatengruppe ohne Sicherheitsratsmandat, mögen sie auch aus humanitärer Motivation durchgeführt werden, stellen immer noch einen Bruch des Völkerrechts dar. Die seit 24. März 1999 unter Umgehung ? oder besser Mißachtung ? des ausschließlich zur Anordnung des Einsatzes von Waffengewalt gegen einen Staat kompetenten UN-Sicherheitsrates durchgeführten NATO-Aktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sind eine Hinwegsetzung über das Völkerrecht, über die globale Friedensordnung der UN-Charta und über ihr System der kollektiven Sicherheit. Diese unter Verletzung des Gewaltverbotes vorgenommenen Militärschläge sind leider nicht das einzige Anzeichen einer neuen Unordnung: Im Dezember 1998 wurden durch britische und amerikanische Luftstreitkräfte Angriffe gegen den Irak ohne UNO-Mandat geflogen. Und im August vorigen Jahres wurden als Reaktion auf gegen US-Botschaften gerichtete Terroranschläge Ziele im Sudan und in Afghanistan mit amerikanischen Tomahawk-Marschflugkörpern angegriffen. Einer völkerrechtlichen Grundlage entbehrten auch diese Durchbrechungen des zwischenstaatlichen Gewaltverbots.
Wenn diese Beispiele Schule machen, dann sind wir in den internationalen Beziehungen an einem Punkt angelangt, an dem auch die Maxime Goethes: "Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen" nicht mehr Trost zu spenden vermag. Denn das Vorgehen der USA und ihrer Verbündeten ist sowohl rechtswidrig als auch ? geht man davon aus, daß es Funktion des Völkerrechts ist, zur Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Verhaltens der Akteure auf internationaler Ebene beizutragen ? Unordnung stiftend.
Eine Rechtsordnung aber, die ihre Ordnungsfunktion nicht mehr zu erfüllen imstande ist, verliert ihren spezifischen Wertcharakter, da sie keine wirklichkeitsgestaltende Kraft mehr hat und nicht mehr zu einer Stabilisierung von Erwartungen beizutragen vermag. Die Normenord-nung des Völkerrechts wird zum Recht des (im Augenblick machtpolitisch) Stärkeren degra-diert. An Stelle der Entwicklung zu einer internationalen Rechtsgemeinschaft, deren erste An-sätze etwa in der Verabschiedung des Statuts für einen internationalen Strafgerichtshof in Rom im Juli 1998 auszumachen waren, tritt eine Tendenz zurück zu den antiquierten Vorstellungen vom "gerechten Krieg", zu zwischenstaatlicher Gewalt, Chaos und höchstens der ungezügelten Herrschaft des kurzfristig jeweils Stärkeren. Dann wird auch die zur Zeit nur zaghaft gestellte Frage beantwortet, warum die NATO das eigentlich macht: Weil sie es kann. Kein beruhigender Gedanke, daß das von den USA geführte Militärbündnis in der Zukunft überall auf dem Globus nach eigenem Belieben schaltet und waltet.
Die extensive Interpretation bzw. rechtsgrundlose Erweiterung des NATO-Gründungsvertrages aus 1949 weist in diese Richtung. Etappen auf dem Weg von einer Organisation zur regional genau definierten kollektiven Selbstverteidigung hin zu einer weltpolitischen Interessenverteidigung auch "out of area". Sich von der Satzung der Vereinten Nationen oder gar vom eigenen Gründungsvertrag abhalten zu lassen, wäre da wohl juristische Kleinkrämerei.

Alternativen zum Militärschlag

Die Oberhoheit der UNO ist wiederherzustellen. Es ist zur Zeit vielleicht die Geduld der VerhandlerInnen, keinesfalls aber das im System der kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen vorgesehene Verfahren ausgeschöpft. Immer wieder wird übersehen, daß der UN-Sicherheitsrat nicht nur militärische Sanktionen, sondern auch solche nichtmilitärischer Art (etwa Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, der Post- und Funkverbindungen, der Verkehrsmöglichkeiten) anordnen kann. Der Hinweis auf die Vetomöglichkeiten von Rußland und China auf UNO-Ebene wäre beinahe schon Zeichen bewußter Ignoranz, denn eine Unterstützung nichtmilitärischer Sanktionen durch die beiden Staaten ist im Bereich des Möglichen, wenn nicht wahrscheinlich. Jedenfalls aber einen Versuch wert, bedenkt man die Alternative: Krieg.

Dauernde Neutralität aktueller denn je ...

Aufgrund der Ereignisse seit dem 24. März 1999 erledigt sich die Diskussion, ob in einem funktionierenden System der kollektiven Sicherheit die österreichische dauernde Neutralität ihren spezifischen Wert verloren hat und dieser Status ein unsolidarisches Abseitsstehen von berechtigten "Polizeiaktionen" gegen einen Aggressor darstellt.
Beim NATO-Bombardement gegen die Bundesrepublik Jugoslawien handelt es sich näm-lich nicht um militärische Zwangsmaßnahmen der UNO, die keinen neutralitätsrechtlich relevan-ten Krieg, sondern legale Mittel des im Namen der Staatengemeinschaft handelnden Sicherheits-rates darstellen würden. Womit die Staaten, die von dessen Ermächtigung zur Gewaltanwen-dung Gebrauch machen nicht als Kriegsparteien, sondern als Organe der internationalen Rechtsdurchsetzung anzusehen wären.
Vielmehr handelt es sich beim NATO-Angriff um einen herkömmlichen Krieg im Sinne des Völkerrechts, in dem das Neutralitätsrecht aktualisiert wird.

... Ministerratsbeschluß aufrecht

Österreich als (immer noch) dauernd neutraler Staat tut jedenfalls gut daran, an der in den letzten Jahren entwickelten und zuletzt mit Ministerratsbeschluß vom 16. Februar 1999 bestätig-ten (im Zuge der NATO-Aktionen gegen Jugoslawien aber von Außenminister Schüssel in Frage gestellten) Praxis, im Falle internationaler bewaffneter Konflikte Durchmarsch- oder Überflugrechte an beteiligte Parteien nur bei Vorliegen eines Sicherheitsratsmandats zu erteilen, auch weiterhin festzuhalten. Weil ? es wurde ja schon angedeutet ? gerade für die Völker-rechtsordnung gilt, daß "alles schwankt, wenn einmal vom Recht abgegangen wird" (Hugo Grotius). In einer Ver-fassung der internationalen Beziehungen nach der Macht der militärischen Überlegenheit und der Ordnung der Intervention ist es gerade für einen Kleinstaat unserer Grö-ßenordnung ungleich schwieriger, zu bestehen, als in einer Verfassung nach der Macht des Rechts und einer Ordnung der Freiheit.

 

Das System kollektiver Sicherheit der Vereinten Nationen

Nach dem Scheitern des ersten Anlaufs einer umfassenden politischen Organisation der Staatengemeinschaft, des 1919 gegründeten Völkerbundes, wurden schon während des Zweiten Weltkrieges neue Pläne für eine wirksamere Weltorganisation gefaßt. Am 25. Juni 1945 ? der Krieg war im Pazifik noch im Gange ? nahmen 50 Staaten auf der Gründungskonferenz in San Francisco die "Charter of the United Nations" (Satzung der Vereinten Nationen, SVN) einstimmig an. Durch die SVN wurde die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) als neue Weltorganisation geschaffen.
Vornehmliche Aufgabe der Universalorganisation (inzwischen sind nahezu alle Staaten der Welt Mitglieder der UNO) ist die Erhaltung des Weltfriedens. Zu diesem Zwecke wurde durch die Verfasser der Satzung mit nahezu visionärem Mut die Ordnungsidee der kollektiven Sicherheit als Grundpfeiler entworfen.
In einem System kollektiver Sicherheit verzichten die Mitglieder der Organisation auf die individuelle Anwendung von Gewalt und übertragen diese auf eigens dafür geschaffene Organe. Im Fall der Vereinten Nationen ist es der aus 15 Mitgliedern zusammengesetzte Sicherheitsrat, der die "Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" (Art. 24 SVN) trägt. Jede der ständig im Sicherheitsrat vertre-tenen fünf Großmächte (VR China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und USA) kann durch ihre Gegenstimme (das sogenannte Vetorecht) Beschlüsse des Rates verhindern.
Die dem Sicherheitsrat zur Wahrung und Erhaltung des Weltfriedens eingeräumten Kompetenzen sind in Kapitel VII der SVN festgelegt. Danach entscheidet der Sicherheitsrat für alle Mitgliedstaaten der Weltorganisation verbindlich, ob ein Anlaßfall kollektiver Sicherheit vorliegt (Art. 39 SVN verlangt eine "Bedrohung des Friedens") und bestimmt, durch wen und gegen welche Adressaten wirtschaftliche oder militärische Sanktionen zu setzen sind (Art. 41 und 42 SVN).
Abgesichert ist die Monopolisierung und Zentralisierung der Anordnung von Zwangsgewalt beim Sicherheitsrat durch ein, vom Fall der Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff abgesehen, an die Mitgliedstaaten gerichtetes absolutes Gewaltverbot (Art. 2 Z. 4 SVN). Nicht zuletzt führte das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates zur Überwindung der (im Vergleich zum völlig freigestellten ius ad bellum schon einen Fortschritt darstellenden) Lehre vom bellum iustum, der Doktrin der Zulässigkeit des gerechten Krieges.
Zwischenstaatliche Gewaltanwendung ist damit nach geltendem Völkerrecht nur in Vollziehung einer Anordnung bzw. Ermächtigung des Sicherheitsrates (sogenanntes Sicherheitsratsmandat) oder in Ausübung des (eng begrenzten) Rechts auf Selbstverteidigung zulässig.