Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Erscheinungsdatum 21.04.1999
Vom unaufhaltsamen Aufstieg der Nato
Die Transformation eines Sicherheitsbündnisses, die zur Deformation
der UN und zur Selbstblockierung Europas führte
Von Hermann Scheer
Es ist Krieg auf dem Balkan, und die Nato feiert ihr 50jähriges
Jubiläum. Anlaß für den SPD-Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer,
das Verhältnis zwischen Nato und UN zu beleuchten und auf die
einschneidenden Veränderungen nach dem Fall der Mauer einzugehen.
Scheer, langjähriger Abrüstungsexperte seiner Fraktion, gehört
in der SPD zu den wenigen, die den gegenwärtigen Kurs der Nato
offen kritisieren. Seinen Beitrag auf dem SPD-Parteitag in Bonn
erweiterte er zu dem folgenden Text, den wir gekürzt dokumentieren.
Die Nato hat für ihren bevorstehenden
50. Geburtstag ihre neue Doktrin angekündigt. Wie
auch immer der Text formuliert sein wird:
er wird - scheinbar selbstredend im Zeitalter der
Globalisierung - die Nato global und
universal definieren. Die klassische statutengemäße
Aufgabe als Verteidigungsbündnis wird
bekräftigt werden - aber eher als Pflichtübung, der die
Kür zu einem weit darüber hinausgehenden
neuen Selbstverständnis folgt, das sich jetzt schon
als höchst fragwürdig herausgestellt
hat. Die gesamteuropäische Sicherheitsverantwortung
wird hervorgehoben werden, begründet
mit wachsenden Weltunruhen, verletzten
Menschenrechten und der einzigartigen
Funktionstüchtigkeit des Bündnisses. Vor dem
aktuellen Hintergrund des Kosovo- bzw.
Jugoslawien-Krieges wird sich die Nato als
unverzichtbar für Frieden und Demokratie
feiern - als Projekt mit großer Zukunft. Kein
Bündnis auf Zeit, sondern integraler
Bestandteil der "Staatsräson" ihrer Mitglieder. Eine
Institution auf Ewigkeit.
Die Nato ist heute so unumstritten wie
nie. Eine Aufnahme als neues Mitglied in ihr ist begehrt.
Einzig der Nato wird zugetraut, daß sie
Vertreibung und Gemetzel in Kosovo beenden könnte.
Schon gilt sie als sakrosankt: Kritiker
laufen Gefahr, als abseitig zu erscheinen, als Ignoranten
gegenüber einer grandios scheinenden
Erfolgsgeschichte des Bündnisses. Dieses wird
mittlerweile sogar von solchen Parteien
und Individuen anerkannt, die einst entschiedene
Kritiker der Nato und an Kampagnen für
den Austritt beteiligt waren - und nunmehr dafür ihre
Canossa-Gänge machen. Die Nato im Konsens
aller Parteien im Spektrum von Konservativen,
Sozialdemokraten, Liberalen, europäischen
Ex-Kommunisten und Grünen, von Militärs bis zu
Sprechern und Anhängern der früheren
Friedensbewegung: das war nicht immer so.
Sicher hat die Nato unbestreitbare Erfolge.
Sie hat innerhalb Europas integrationsfördernd
gewirkt und Konflikte unter Nato-Mitgliedern
gedämpft, am deutlichsten wohl im Verhältnis
zwischen Griechenland und der Türkei.
Sie hat dazu beigetragen, daß aus dem
jahrzehntelangen Kalten Krieg kein heißer
wurde. Die Eingliederung und Einbindung der
Bundesrepublik Deutschland in die westlichen
Demokratien wurde von ihr frühzeitig gefördert.
Sie hat auch Rücksichtnahmen der amerikanischen
Weltmacht auf europäische Interessen
ermöglicht, etwa mit der 1968 durch den
Harmel-Report eingeleiteten europäischen
Entspannungspolitik. Als der amerikanische
Präsident Reagan nach seinem Amtsantritt 1981
einen neuen ideologischen Feldzug gegen
das "Reich des Bösen" eröffnete und die
Rüstungskontrollpolitik aufkündigte,
haben ihn die europäischen Nato-Partner erfolgreich auf
das Rüstungskontrollfeld zurückgeholt.
Allerdings haben dies nicht nur die Regierungen,
sondern vielleicht sogar in größeren
Maße die Friedensbewegungen in Westeuropa bewirken
helfen.
Aber die Nato war auch stets das Medium
politischer Kontrolle der USA über West- und
Südeuropa und der Mitwirkung der europäischen
Nato-Mitglieder am unseligen
Rüstungswettlauf der Nachkriegsjahrzehnte,
in dem keineswegs die Sowjetunion immer
Auslöser der nächsten Aufrüstungsspirale
waren. Die Diktatur im Nato-Mitgliedsland Portugal
wurde bis zu deren Ende ebenso wie die
Militärregimes in der Türkei gestützt, Obristenputsch
und -diktatur in Griechenland wurden
diskret unterstützt. Deshalb war die Nato insgesamt oder
einzelne Nato-Initiativen in der Öffentlichkeit
und auch in den tragenden demokratischen
Parteien Europas stets umstritten, und
zwar nicht nur unter Aktivisten der Anti-Atomwaffen-
und Friedensbewegung. Immer wieder wurde
die Nato-Atomstrategie infragegestellt,
insbesondere die darin eingebaute Funktionalisierung
des mitteleuropäischen Territoriums als
potentielles atomares Schlachtfeld. Selbst
in den Hochphasen des Kalten Krieges wurde bis tief
in das etablierte westeuropäische Regierungs-
und Parteienspektrum hinein kontrovers über
den jeweiligen Nato-Kurs gestritten,
und Abrüstungsinitiativen und mehr sicherheitspolitische
Selbständigkeit in und gegenüber den
USA gefordert.
Frankreich verwahrte sich, von de Gaulle
bis Mitterand, gegen die Instrumentalisierung der
Nato zur politischen Kontrolle Europas
durch die USA. Helmut Schmidt stellte noch in seiner
Amtszeit als Bundeskanzler den amerikanischen
Nato-Oberbefehl in Frage und mahnte offen
für die Zukunft an, daß die integrierten
europäischen Staaten - mit ihrer größeren
Wirtschaftskraft und Einwohnerzahl als
die USA - eine eigenständige Sicherheitspolitik
entwickeln müßten. "Atlantiker" und "Europäer"
stritten um Nato-Reformen, über weitere
US-Dominanz in Europa versus sicherheitspolitische
Autonomie.
Doch solche Debatten scheinen heute einer
fernen Vergangenheit anzugehören. Sie brachen
schlagartig ausgerechnet zum Zeitpunkt
des Verfalls von Warschauer Pakt und Sowjetuniuon
ab, an dem erstmals über die Nato hinausgehende
sicherheitspolitische Entwürfe realisierbar
wurden. Kostspielige und zweifelhafte
Rüstungsprojekte gibt es noch immer; aber sie sind
kaum ein Thema, das die Gemüter noch
erregt. Der Einfluß der Nato und damit der Leitmacht
USA auf die sicherheitspolitische Entwicklung
Europas ist größer denn je; aber eine Suche
nach Alternativen findet kaum noch statt.
Die Europäische Union ist größer denn
je, demnächst nochmals erweitert, und sie ist im
globalen Wettbewerb der Hauptkonkurrent
der USA. Der Euro wurde eingeführt, um
wirtschaftspolitisch ein Gegengewicht
zu den USA sein zu können. Aber sicherheitspolitisch
steht sie de facto unter der Kontrolle
der USA, instrumentiert durch die Nato; mit einem
faktischen Oberbefehlsstrang des amerikanischen
Präsidenten zum Nato-Oberbefehlshaber, der
in Personalunion Chef der amerikanischen
Streitkräfte in Europa ist. Mehr denn je ist die
Europäische Union wirtschaftspolitisch
ein Riese, aber damit zugleich offenkundiger denn je
sicherheitspolitisch ein Zwerg. Dieser
muß sich entweder einbilden, seine
sicherheitspolitischen Interessen seien
identisch mit den USA, oder er muß sich fügen - selbst
wenn dies zu Lasten auch der wirtschaftspolitischen
Interessen Europas geht.
Der Jugoslawien-Krieg wirft erneut und
mit großer Brisanz die Fragen auf, wie sie schon seit
dem Beginn der 90er Jahre hätten gestellt
werden müssen - aber kaum gestellt wurden,
zumindest nicht von Regierungen, Parlamenten
und den tragenden Parteien. Fördert das
Selbstverständnis der Nato, sich gesamteuropäische
und sogar globale Aufgaben
zuzuschreiben, tatsächlich Sicherheit
und Frieden? Wie konnte es zu dem fast schon
selbstverständlichen Anspruch kommen,
daß die Nato im Jugoslawien-Konflikt die Rolle
übernimmt, die eigentlich der UN oder
der OSZE gebühren müßte? Ist es sicherheitspolitisch
noch weiter für Europa tragbar, daß die
Nato unter amerikanischer Federführung das um seine
politische und wirtschaftliche Existenz
ringende Rußland - immerhin der größte europäische
Staat mit den reichsten Ressourcen und
immer noch Atommacht - politisch laufend demütigt,
wie es vor allem durch die Nato-Osterweiterung
und zuletzt durch die kalte Schulter gegenüber
Primakows Vermittlungsversuch im Kosovo-Konflikt
geschah? Ist es hinnehmbar, daß die
USA die notwendige Stärkung des UN-Systems
blockieren und die europäischen Staaten dies
aufgrund ihrer Verschränkung mit den
USA in der Allianz unwidersprochen lassen müssen?
Wie lange noch soll die EU ihre originären
Sicherheitsinteressen de facto von den USA via
Nato steuern lassen? Aus der Sicht der
einzigen Weltmacht ist das alles nachvollziehbar. Daß
die europäischen Wirtschaftsinteressen
nicht mit denen der USA identisch sind, bestreitet kaum
einer. Aber warum wird dann niemals auch
die naheliegende Frage gestellt, ob die
europäischen Sicherheitsinteressen so
kompatibel mit denen der USA sein können, wie es die
Nato suggeriert?
Der Schlüssel zur Beantwortung dieser
Fragen ist die Entwicklung seit dem Fall des Eisernen
Vorhangs in Europa in der Wende zu den
90er Jahren. Seitdem hat die Nato eine politische
Transformation eingeleitet, die schwerwiegende
Konsequenzen für die internationale und die
europäische Politik programmiert. Das
Ende des Ost-West-Konflikts markierte die Chance zu
einer "neuen Weltordnung" (Willy Brandt).
Endlich schien die Zeit reif, die UN zu einer
wirkungsvollen Weltorganisation zur Friedenserhaltung
und Friedensschaffung auszubauen.
Doch die UN ist heute eher in einem fragileren
Zustand als zuvor. Aus der Konferenz für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(KSZE) wurde zwar Mitte der 90er Jahre die
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa (OSZE), jedoch mit sehr
beschränkten Einflußmöglichkeiten.
Gestärkt wurde statt dessen die Nato,
eingeleitet mit dem "Neuen Strategischen Konzept des
Bündnisses", das im November 1991 auf
dem Nato-Gipfel in Rom verabschiedet wurde. Darin
werden auf der Suche nach neuen Aufgaben
neue Herausforderungen und Risiken definiert,
die sich von früheren "grundsätzlich
unterscheiden". Sie "kommen aus allen Richtungen" und
beziehen sich auf die "Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen", die "Unterbrechung der
Versorgung mit lebenswichtigen Ressourcen",
"Terror- und Sabotageakte" sowie "ethnische
Rivalitäten und Gebietsstreitigkeiten".
Die Nato begann, sich allzuständig zu fühlen.
Ausgerechnet in dem Moment, in dem sich
der Warschauer Pakt und dann die Sowjetunion
auflösten und die Nato in jeder Hinsicht
definitiv überlegen geworden war, organisierte sie in
Rom ihre eigene "Stärkung", weshalb auch
von einer "Friedensdividende" in Form einer
Reduzierung der Militärbudgets zugunsten
ziviler politischer Aufgaben Abstand genommen
wurde.
An der Strategie der atomaren Abschreckung
wurde festgehalten, wobei nur wenigen auffiel,
daß deren neue "ratio" eine explosive
Widersprüchlichkeit enthält. Die alte ratio zielte auf einen
Ausgleich gegenüber der jahrzehntelang
unterstellten konventionellen Überlegenheit des
Warschauer Pakts und auf die Notwendigkeit
einer atomstrategischen Balance mit der
sowjetischen Atommacht. Die neue "ratio"
schließt zielstrebig "Gefahren aus dem Süden" ein,
also konventionell eindeutig unterlegene
Kontrahenten, die überdies noch keine Atomwaffen
hatten. Die Vermutung liegt nahe, daß
dies die Neigung in der islamisch-arabischen Staatenwelt
zum Atomwaffenbesitz erst fördert. Das
Insistieren der Nato darauf, daß ihre atomare Strategie
- weil in vernünftiger Hand - stabilisierend
wirke, während der Atomwaffenbesitz anderer den
Weltfrieden gefährde, verrät einen Zweiklassen-Anspruch
in der internationalen Staatenwelt,
der jeder Völkerrechtsordnung widerspricht
und sie durch eine Machtordnung ersetzt. Durch
genau dieses überhebliche Auftreten der
Nato aber fühlen sich z. B. Pakistan und Indien zu
ihren Atombombentests legitimiert.
Obwohl also die Gefahren der Verbreitung
von Atomwaffen wachsen, werden mit Rücksicht
auf die Nato und ihre Vormacht Forderungen
nach einer weltweiten kontrollierten atomaren
Abrüstung kaum noch erhoben. Dabei hatte
das atomare Abrüstungsziel bis in die 80er Jahre
hinein hohe internationale Priorität
und war seit Mitte der 80er Jahre auch zentraler
Gesprächsstoff zwischen Reagan und Gorbatschow.
Als die Zeit dafür reif war und der
russische Präsident Jelzin am Beginn
seiner Amtszeit Verhandlungen für eine weltweite
atomare Abrüstung erneut vorschlug, hatte
die Nato ihre neue Abschreckungsstrategie schon
formuliert. Auch von anderen neuen Abrüstungsinitiativen
ist keine Rede mehr, seit die Nato
des Warschauer Pakts entledigt worden
war - vielleicht deshalb, weil sie nunmehr einst von
Genscher an die sowjetische Adresse gerichtete
Formel auf sich selbst anwenden müßte: "Wer
mehr hat, der muß mehr geben."
Die Nato nahm sich 1991 also nicht den
Übergang zu neuen kollektiven Sicherheitssystemen
vor, die sie selbst einmal überflüssig
machen könnten. Statt dessen konzentrierte sie sich selbst
auf ihre funktionale und räumliche Ausweitung.
Dies begann damit, den Nordatlantik-Vertrag
umzuinterpretieren, um den Geltungsbereich
des Bündnisses ausdehnen zu können. Nach den
Nato-Statuten ergibt sich der Bündnisfall
aus Artikel V (ein Angriff gegen einen oder mehrere
wird als Angriff auf alle angesehen)
und Artikel VI (der den territorialen Geltungsbereich
regelt). Doch in Punkt 13 der Erklärung
von Rom hieß es: "Die Sicherheit des Bündnisses muß
jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen
(...). Im Bündnis gibt es Mechanismen für
Konsultationen nach Artikel IV des Vertrages
von Washington sowie gegebenenfalls zur
Koordinierung von Maßnahmen der Bündnispartner
einschließlich ihrer Reaktion auf derartige
Risiken." Artikel IV des Nato-Vertrages
aber lautet: "Die Parteien werden einander
konsultieren, wenn nach Auffassung einer
von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die
politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit
einer der Parteien bedroht ist." Aus dieser
"Konsultation" wurde inzwischen die Selbstlegitimierung
zur Erweiterung des territorialen
Einsatzbereichs militärischer Aktionen.
Mit dieser willkürlichen und statutenwidrigen
Umdeutung des Nato-Vertrages bewegte
sich die Nato "out-of-treaty", um "out-of-area" gehen
zu können. Kein Parlament eines europäischen
Nato-Staats hat diesen fundamentalen
Bündniswandel je ratifiziert.
Der Nato-Gipfel hatte ganz konkrete praktische
Folgen auch für die Bundeswehr. Bei den
Verhandlungen über konventionelle Abrüstung
in Europa am Ende der 80er Jahre waren
vertrauensbildende Verteidigungsstrukturen
die Leitlinie. Doch diese sogenannte "strukturelle
Nichtangriffsfähigkeit" war von heute
auf morgen vergessen. Die Umstrukturierung von
Streitkräften zu immer mehr Schnellen
Eingreiftruppen - in der Lesart der Bundeswehr: zu
"Krisenreaktionskräften" - mit expeditiver
Ausrüstung begann, bar jeder Überlegung, welche
Wahrnehmung und Reaktion dies in der
Militärpolitik anderer Länder auslösen muß. Mit dem
äußeren Kontrahenten waren der Nato gleichzeitig
auch die meisten internen Kritiker
verlorengegangen. Zwar gab es im Zusammenhang
mit der Nato-Osterweiterung noch eine
Mediendebatte. Massiv bemängelten Experten
der internationalen Politik, von Egon Bahr bis
Ernst-Otto Czempiel, die Nato-Osterweiterung,
weil diese die Umwandlung des
Verteidigungsbündnisses in ein europäisches
Hegemoniebündnis bedeutet und tiefe Irrationen
in Rußland hervorrief. Aber eine offene
Debatte über diese Frage kam schon nicht einmal mehr
in der SPD zustande.
Es gibt mehrere Gründe dafür, daß Kritik
an der Nato in den 90er Jahren tabuisiert war. Das
kritische Potential innerhalb des Westens
gegenüber der Nato entstand aus der Angst vor den
Gefahren eines Atomkriegs und aus dem
Widerstand gegen das fortlaufende Wettrüsten. Diese
Bedrohung schien mit dem Zerfall von
Warschauer Pakt und Sowjetunion gebannt, um so
mehr, als im Zusammenhang mit der deutschen
Vereinigung auch die landgestützten
amerikanischen Atomraketen aus Europa
abgezogen wurden. Alle anderen Fragen würden sich
von selbst erledigen. In dem politischen
Wirrwarr, das die abrupt eingeleitete Transformation
der ehemaligen Staaten des Warschauer
Pakts zu parlamentarischer Demokratie und
Marktwirtschaft zwangsläufig auslösen
mußte, erschien die Nato als beruhigender Hort der
Stabilität. Als gar noch die ostmitteleuropäischen
Staaten ihr Interesse an einer
Nato-Mitgliedschaft zu artikulieren begannen,
weil sie nicht in einer sicherheitspolitischen
Grauzone leben wollten, erhielt die Nato
scheinbar endgültig die Aura der Unangreifbarkeit.
Der Westen und mit ihm die Nato fühlten
sich historisch bestätigt und deshalb auch besonders
legitimiert, die neue europäische Sicherheitsarchitektur
allein zu konstruieren.
In dieser Atmosphäre war der Blick für
die Folgen des neuen Nato-Selbstverständnisses
getrübt, Kritik daran erschien als bloße
Mäkelei, als Aufguß früherer Ressentiments gegen die
Nato. Deswegen irritierte es kaum jemanden,
als - in konsequenter Fortsetzung der in Rom
eingeleiteten Neudefinition der Nato-Aufgaben
- 1993 die RAND-Corporation, der
einflußreichste braintrust der amerikanischen
Sicherheitspolitik, davon sprach, daß die Nato
unbedingt "out of area" gehen müsse,
weil sie sonst bald "out of business" sei - also ihre
Existenzberechtigung nicht mehr allzu
lange unter Beweis stellen könnte. Damit war jedoch die
Frage nicht beantwortet, in welcher "area"
sie denn tätig werden könnte, und zwar in einer
Weise, die der europäischen Öffentlichkeit
plausibel zu vermitteln sei.
Die im Zusammenhang mit dem Zerfall des
Jugoslawischen Bundes entbrennenden Konflikte
auf dem Balkan boten sich als erstes
dafür an, erleichtert durch die offenkundige
Handlungsschwäche der UN. Daß die übliche
Praxis der UN, mit Blauhelm-Truppen ohne
Kampfauftrag und auf der Basis der Zustimmung
der Konfliktparteien gewaltschlichtend zu
wirken, nicht mehr ausreichte, um gegen
ethnische Vertreibungen und Massaker vorzugehen,
wurde der europäischen Öffentlichkeit
im Balkankonflikt schnell bewußt. Jede Stärkung der
UN-Rolle, um mit ihrem völkerrechtlich
verankerten Gewaltmonopol gegen international
ausgeübte Gewalt vorzugehen, hätte vorausgesetzt,
daß UN-Truppen auch mit militärischer
Polizeigewalt eingreifen können. Eine
solche Rolle der UN als Weltpolizei wollte
UN-Generalsekretär Boutros-Ghali 1992
mit seinem Vorschlag profilieren, daß
UN-Mitgliedsländer kampffähige robuste
Truppenkontingente bereit- und gegebenenfalls
einem UN-Kommando unterstellen sollten.
Das Vorbild dafür liefert die norwegische Armee,
die seit Jahren Einheiten für solche
Aufgaben nicht nur bereithält, sondern auch entsprechend
ausbildet.
Der Generalsekretär scheiterte mit seinem
Vorschlag aber bereits am Widerstand der
amerikanischen Regierung: unter keinen
Umständen würde sie dulden, daß amerikanische
Einheiten einem UN-Kommando unterstellt
würden. Nun hätte die UN ihre Rolle auch ohne
US-Verbände ausbauen können, wenn sie
dafür ausreichende europäische Unterstützung
erhalten hätte. Doch einen solchen Schritt
verhinderte die Nato. Sie nutzte vielmehr den
Balkankonflikt, indem sie sich der UN
als leistungsfähiges militärisches Instrument anbot und
an deren Mandat allzu kritische Fragen
an ihre neue "out of area"-Rolle abprallen ließ. Zugleich
stellte sie der UN Bedingungen: "alle
oder keiner" war die erste, und die zweite ist, daß ihr
Einsatz stets unter Nato- und nicht unter
UN-Kommando stehen sollte. Weil die UN auf dem
Balkan tätig werden wollte und mußte,
europäische Nato-Staaten dazu brauchte und sie nur
noch als Nato-Paket bekam, ließ sie sich
nolens volens auf deren Konditionen ein. Damit
beutete die Nato die Zwangslage der UN
und die Hilfsbereitschaft der europäischen
Öffentlichkeit, welche der eskalierenden
Gewalt auf dem Balkan nicht tatenlos zusehen wollte,
zur eigenen Profilierung aus. (. . .)
Festgeschrieben wurde das neue Selbstverständnis
der Nato 1994 in der "Military Decision on
MC 327". Diese bezieht sich nun explizit
nicht mehr auf Artikel V des Nordatlantikvertrages.
Sie verzichtet auch auf eine Berufung
auf Artikel IV, weil sie sich offiziell in den Rahmen
sicherheitspolitischer Maßnahmen der
UN oder der KSZE (heute OSZE) stellt und daraus
"militärpolitische Aktionen" für "friedensunterstützende
Nato-Operationen" ableitet. Der
Nordatlantikrat und der Verteidigungsplanungsausschuß
der Nato sollen alle relevanten
politischen Entscheidungen fällen. An
vorderer Stelle steht im Operationsfall das einheitliche
Kommando der gesamten Nato-Struktur.
Das Kommando der UN-Operation soll zwar in
Konsultation mit dem UN-Sicherheitsrat
festgelegt werden - aber es wird gleichzeitig
festgestellt, daß es normalerweise bei
der Nato zu liegen habe. Nur die Nato als Einheit - so die
zentrale Begründung - sei stark genug,
der UN unter die Arme greifen zu können. Wenn sie
dies tut, beansprucht sie zwar zunächst
nicht unbedingt die politische, aber die militärische
Führung. Damit definiert sie sich als
militärischer Arm der UN oder der OSZE - und
mittlerweile sogar als militärischer
Ordnungshebel aus eigener Vollmacht.
Letzteres wurde offenkundig, als 1998
im amerikanischen Senat über die Ratifizierung der
Nato-Osterweiterung entschieden wurde.
Der Senat knüpfte daran die Bedingung, daß die Nato
unabhängig von der UN und der OSZE agieren
könne und daß sie bereit sein müsse, sich
außerhalb ihres Geltungsbereichs zu engagieren.
Die Führungsrolle der USA dürfe nicht in
Frage gestellt werden. Damit wird deutlich,
daß es mit der Nato nur vordergründig darum
gehen soll, sich der UN zur Verfügung
zu stellen. Im Kern geht es um die eigene Aktion, die
sich im Zweifelsfall nicht mehr von einer
offiziellen Legitimation durch die UN abhängig
macht.
Das Identitätsbedürfnis der Nato mit
festgeschriebener amerikanischer Führungsrolle wurde
zunehmend zur Maxime, als ginge es bei
der UN und der OSZE nicht um viel mehr: um die
Funktionsfähigkeit, Identität und Integrität
allianzübergreifender Friedensinstitutionen, die
gegenüber jedem Staat der europäischen
Staatengemeinschaft bzw. internationalen
Gemeinschaft unterschiedslos gegeben
sein muß, wenn ihre institutionalisierte
Sicherheitsaufgabe internationale Autorität
behalten bzw. gewinnen will. Auf diesem Weg
wurde aus der Transformation der Nato
eine Deformation der UN und eine Selbstblockierung
Europas auf dem Weg zu einer Europäischen
Friedensordnung.
Aus der UN-Charta ergibt sich, daß die
UN - oder gegebenenfalls eine alle Staaten einer
Region erfassende UN-Regionalorganisation
- für friedenerhaltende oder friedenschaffende
Maßnahmen unter ihrem Kommando Militäreinheiten
von Mitgliedsstaaten anfordert. Der
entscheidende Unterschied einer solchen
UN-Truppe zur Mandatierung der Nato ist, daß
keines der UN-Mitgliedsländer das eigene
Kommando beansprucht. Zudem sind nur einzelne
Staaten Mitglied der UN und haben sich
deren Charta unterstellt, während die Nato weder
UN-Mitglied ist noch es je werden könnte.
Da sie auch keine kollektive Sicherheitsorganisation
bzw. Regionalorganisation im Sinne der
UN-Charta ist, bleibt sie damit zwangsläufig ein
Fremdkörper im UN-System. Dies stellt
weit über formale völkerrechtliche Fragen hinaus ein
eminent politisches Problem dar.
Die Nato repräsentiert mit der Ausnahme
Japans alle reichen Staaten des Nordens gegenüber
der untergegangenen "Zweiten", der "Dritten"
und der "Vierten Welt". Die Nato-Staaten haben
ihre spezifischen politischen und wirtschaftlichen
Interessen, die sie weder verbergen können
noch wollen. Ob, wann und wo die Nato
oder ihre Führungsmacht USA bei internationalen
Konflikten tätig zu werden bereit ist,
hängt naturgegeben stets von diesen Interessen ab - und
keineswegs davon, ob die UN dies für
erforderlich hält. Daraus ergeben sich zwangsläufig
Glaubwürdigkeitslücken. Die Nato-Staaten
symbolisieren unfaire und ungerechte
Verteilungsstrukturen im Weltmaßstab.
Sie werden in der "Dritten Welt" als eigensüchtig und
ausbeuterisch empfunden und sind es auch,
vor allem in bezug auf die maßlose Nutzung der
Weltressourcen. Sie haben das militärische
und ökonomische, insgesamt das politische
Übergewicht. Sie sind damit in maßgeblicher
Weise mitverantwortlich für soziale Spannungen
und deren konflikthaltige internationale
Konsequenzen. (. . .)
Im Engagement der Nato auf dem Balkan
kommen alle diese Glaubwürdigkeitslücken und
Widersprüche zum Ausdruck. Daß die Vertreibung
der Serben aus der kroatischen Krajina
reaktionslos hingenommen wurde, weil
die kroatische Staatsführung als Partner gilt, ist eine
der wesentlichen Gründe dafür, daß es
Milosevic gelungen ist, die Serben unter sich
zusammenzuschweißen. Im Dayton-Abkommen
über die Friedenslösung in
Bosnien-Herzegowina und zur Entsendung
der SFOR-Truppe war die UN immerhin bei den
Verhandlungen noch beteiligt, es gibt
auch eine russische Mitbeteiligung und ein UN-Mandat.
Aber daß die Nato das alleinige Kommando
hat, war conditio sine qua non. Doch der
Jugoslawien-Krieg zeigte, wie sehr das
neue Nato-Selbstverständnis gegebenenfalls auf
Alleingang angelegt ist. Zwar war vorgesehen,
wie es auch noch im Bundestagsbeschluß am
26.02.1999 heißt, eine "multinationale
Friedenstruppe aus Nato-Staaten und
Nicht-Nato-Staaten" zur militärischen
Implementierung des Rambouillet-Abkommens
einzusetzen. Aber schon die seit dem
Herbst 1998 über dem Konflikt schwebende
Bombardierungsdrohung zeigte, wie sehr
die Nato schon auf Alleingang eingestellt war.
Dies hat möglicherweise mit dazu beigetragen,
daß es bei den Rambouillet-Verhandlungen gar
nicht erst zu Gesprächen über den militärischen
Implementierungsteil gekommen ist - was im
Gegensatz zu der offiziellen Nato-Behauptung
steht, ein "ausgehandelter Vertrag" habe
vorgelegen, den Jugoslawien nur nicht
unterschreiben wollte. Es hat wohl auch mitbewirkt,
daß ein Veto Rußlands im UN-Sicherheitsrat
über die Bombardierung zu erwarten war. Indem
die Nato selbst ihre Initiative darauf
zuspitzte, im Zweifelsfall auch ohne UN-Mandat
militärisch einzugreifen, ist sie an
dem Punkt angekommen, der in ihrem neuen "out of
area"-Selbstverständnis angelegt ist,
nunmehr ohne UN-Schminke.
Daß die europäischen Staaten dies alles
mitmachen, ist in der US-dominierten Nato-Struktur
angelegt. Und daß sich die Bundesregierung
so schwer tut, die amerikanische Zustimmung für
ihren Friedensplan unter Einbeziehung
von UN-Generalsekretär Annan und Rußlands zu
bekommen, hat einen zentralen Grund:
Jede Lösung des Konflikts mit Hilfe Rußlands und der
UN wäre gleichbedeutend mit dem Scheitern
des Versuchs, die USA in der globalen
ordnungspolitischen Rangordnung vor die
UN und die USA-geführte Nato vor die OSZE zu
stellen. Wenn nur mit der UN und mit
Rußland der Konflikt gelöst wird, hat sich offenkundig
für alle der neue Nato-Anspruch als untauglich
erwiesen - und erhalten die UN und die OSZE
endlich ihre Chance. (. . .)
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