Das Ende der europäischen Nachkriegszeit Chronologie einer Tragödie oder Vom Recht auf Selbstbestimmung zum NATO-Bombardement. -- Wie Jugoslawien zerstört wurde.

Von Hannes Hofbauer

Der 24. März 1999 markiert das Ende der europäischen Nachkriegszeit. In einem beispiellosen Akt militärischer Aggression haben die 19 NATO_Staaten unter der Führung der USA den Krieg nach Jugoslawien getragen. Erstmals seit 1945 ist damit ein souveräner europäischer Staat angegriffen worden. Die nordatlantische Allianz, die sich wenige Tage zuvor bis an die weißrußische Grenze und in die Puszta hinein ausdehnen konnte, hat damit einen völkerrechtlichen Präzedenzfall geschaffen. Die Spielregeln internationaler Politik sind außer Kraft gesetzt. Mit ihrer Militarisierung tritt sie in eine neue Phase. Die westliche Wertegemeinschaft hat den Angriff auf Jugoslawien mit der Mißachtung von Menschenrechten im Kosovo argumentiert. Der Bombenterror aus Kampfflugzeugen im Dienste der Menschenrechte stellt allerdings dieses Bekenntnis in die Tradition des universalistischen abendländischen Machtanspruchs, der vom Großen Schisma über die Kreuzzüge bis zum Kampf gegen den Bolschewismus tausend Jahre lang eine blutige Spur durch Europa gezogen hat. Die Geschichte Jugoslawiens seit dem Verschwinden Moskaus von der geopolitischen Landkarte bietet ein schauriges Lehrstück westlicher Allmachtsphantasien. Den Preis dafür könnte schließlich Europa als Ganzes bezahlen.

Ein Bürgerkrieg nimmt seinen Lauf

Blenden wir zurück ins Jahr 1989. Am 28. Juni versammeln sich auf dem Kosovo polje, dem Amselfeld, eine Million Serben aus aller Welt, um der verheerendsten Niederlage in der serbischen Geschichte zu gedenken. Auf den Tag genau vor 600 Jahren war das von Fürst Lazar geführte christliche Heer nahe Pristina von den Osmanen unter Sultan Murad vernichtend geschlagen worden. Slobodan Milosevic, der mit großem Pomp per Helikopter auf die Bühne geflogen wird, nützt diesen historischen Gedenktag, um seiner Partei und seiner Person eine nationale, großserbische Aura anstelle der in weiten Kreisen diskreditierten jugoslawisch_kommunistischen Identität zu verpassen. Die Kontinuität der Macht in Belgrad schien damit gesichert. Auf kosovo-albanischer Seite waren schon seit dem Tode Titos im Jahre 1980 die Stimmen lauter geworden, die sich mit der 1974 zugestandenen weitgehenden Autonomie nicht mehr zufrieden geben wollten. Sie forderten die Errichtung einer »Kosovo_Republik«. Frühlingsdemonstrationen albanischstämmiger StudentInnen in Pristina beendete die jugoslawische Polizei am 1. und 2. April 1981 mit brutaler Gewalt. In den Straßen der kosovarischen Hauptstadt blieben damals nach offiziellen Angaben elf Tote zurück, die albanische Seite sprach von 200 getöteten DemonstrantInnen. Eine bis dahin im Kosovo nicht gekannte Radikalisierung setzte ein. Die Verfassungsänderung vom 28. März 1989 schloß das -_ historisch gesehen -_ kurze Autonomiekapitel des Kosovo. Das Parlament in Belgrad erklärte feierlich die Rückgabe der staatlichen Souveränität an Serbien. Ein Bürgerkrieg nahm seinen Lauf. Politische Provokationen kosovo_albanischer Führer, die seit langem ausschließlich national argumentierten, verschärften den Konflikt. Im Juli 1990 wurde die Unabhängigkeit des Kosovo ausgerufen, was im Gegenzug die endgültige Auflösung des Parlaments in Pristina zur Folge hatte. Am 18. Oktober 1991 riefen die von Belgrad längst abgesetzten albanischen Abgeordneten eine unabhängige »Republik Kosovo« aus, die bis heute von keinem Land der Welt anerkannt worden ist. Die selbstorganisierten und ohne legale Grundlage abgehaltenen Präsidentenwahlen im Mai 1992 machten den Schriftsteller Ibrahim Rugova zu einem Führer ohne Land. Alle jugoslawischen Einrichtungen werden seither von der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo boykotiert. Belgrad verschärfte zwar die Repression in der Provinz, griff jedoch Ibrahim Rugova, der bereits damals unter dem Schutz des Westens stand, nicht an. Im Jahre 1993 formierte sich eine bewaffnete albanische Untergrundbewegung, die UCK, die von Anbeginn ihrer Tätigkeit Polizeistationen und militärische Einrichtungen im Kosovo im Visier hatte.

Die ökonomische Krise

»Schuld an der ganzen Misere sind die Kommunisten«, lautete das einfach gestrickte Argument der Jahre 1989/90, das die wirtschafltiche Misere erklären wollte, in die Jugoslawien -_ wie andere Staaten in Europa auch -_ geraten war. Die Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs lagen tatsächlich schon lange zurück. Bis Mitte der 60er Jahre galt Jugoslawien als Vorbild an sozialistischer Effizienz, das Bruttonationalprodukt wuchs jährlich um sechs Prozent bis sieben Prozent. Mit Hilfe fetter US_Kredite aus den 50ern, die Jugoslawien aus dem Bannkreis Moskaus fernhalten sollten, wußte die Führung um Josip Broz Tito anfangs noch, sinnvolle Projekte zu entwickeln. Die ersten Krisenerscheinungen machten sich Ende der 60er Jahre bemerkbar. Früher als alle anderen Länder in Osteuropa hatte man Westkredite erhalten, früher als alle anderen mußten sie zurückgezahlt werden. Bereits 1965 wurde im Zuge allgemeiner Dezentralisierung die sogenannte »nationale Ökonomie« auf Republiksebene eingeführt, neun Jahre später kam es zu einer neuen jugoslawischen Verfassung, die der Zentrale nur noch wenige koordinative ökonomische Funktionen beließ. Die Verantwortlichen glaubten vorerst, mit der Föderalisierung einen machtpolitischen Balanceakt zustandegebracht zu haben. In Wahrheit wurde damit ein entscheidende Schritte in Richtung Desintegration gesetzt. 1979 mündete diese Politik in eine wirtschaftliche Stagnation. Die Rückzahlung ausländischer Kredite geriet ins Stocken. Vorerst noch überschaubar, wuchs der Schuldenberg bis Anfang 1991 auf 16 Mrd. Dollar an, um bis zum Zerfall des Landes 21 Mrd. Dollar zu betragen. Sieben Mrd. Dollar erhielt Belgrad allein zwischen 1985 und 1991; 23 Mrd. flossen im selben Zeitraum ab -_ an Zinszahlungen und anderen Obligationen. Dieses Mißverhältnis entsprach dem eines hochverschuldeten »Dritte-Welt«_Landes, das mit der Rückzahlung des Schuldendienstes kämpft, ohne je die Schuldenlast verringern zu können. Der Krieg in Jugoslawien brach letztlich auch um die offene Frage aus, wer denn nun die notwendigen neuen Dollar_ und DM_Kredite erhalten sollte und wer für die Rückzahlung der aufgelaufenen Altschulden haftbar gemacht werden könnte. Neben den internationalen Schulden existierten auch auf der Ebene zwischen den Republiken Gläubiger_Schuldner_Beziehungen. Slowenien verweigerte seit 1990 das Abführen der Zolleinnahmen an die Zentralregierung. Serbien wiederum betrieb Destruktion am Staatsganzen, als es zur Jahreswende 1990/91 eigenmächtig die Notenpresse in Rotation versetzte, Dinar für umgerechnet 1,8 Mrd. Dollar druckte, um Lehrer, Militärs und sonstige staatliche Angestellte entlohnen zu können. Damit unterlief Belgrad den gesamten, von Ministerpräsident Ante Markovic mit dem IWF (Internationaler Währungsfonds) ausverhandelten Sanierungsplan. Dieser sah eine von Jeffrey Sachs ausgearbeitete Schocktherapie vor, mit Lohnfreeze, Geldverknappung, Subventionsstreichungen für Sozialausgaben und allem, was seit über zwei Jahrzehnten zum Instrumentarium westdiktierter Strukturanpassungsprogramme gehört. Durch das Einschalten der Notenpresse demonstrierte die serbische Seite den unbedingten Willen zur Beibehaltung des politischen Primats über ökonomische Prozeße. In den reformwütigen Monaten der Wendezeit kam diese Haltung einer Kriegserklärung an IWF und Weltbank gleich. Der Westen sah darin dementsprechend auch einen »kommunistischen Akt« und einen »Raubüberfall auf die Bundeskasse«. Seit damals gilt Belgrad als Feind der »freien Welt«. Nach der versuchten Antiinflationspolitik von Präsident Markovic brach schließlich die von westlichen Finanzhilfeorganisationen wie dem IWF und der Weltbank durchgesetzte Öffnung der Märkte wie ein Orkan über die jugoslawische Industrie herein. Innerhalb weniger Wochen zu Beginn des Jahres 1991 wurden sämtliche Importe aus dem Ausland zoll_ und bewilligungsfrei. Die totale Marktöffnung hatte verheerende Folgen für alle jugoslawischen Produktionsbetriebe. Dumpingwaren aus Südostasien und Westeuropa überschwemmten die Geschäfte. Dies führte zu Produktionsrückgängen und schließlich Kündigungswellen und bereitete so den Boden für eine andere Verwertung der Arbeitskraft, die künftighin nicht mehr in der Fabrik, sondern am Schlachtfeld stattfinden sollte. Die Entwicklungsunterschiede innerhalb Jugoslawiens waren dann auch der Auslöser dafür, daß sich die allgemeine wirtschaftliche Krise zu einer politischen und letztlich zu einer territorialen auswuchs. Slowenien als die höchstentwickelte Teilrepublik hatte ein -_ pro Kopf gerechnet -_ acht Mal höheres Bruttoinlandsprodukt als das Kosovo. Dazwischen lagen Kroatien und Serbien. Das wirtschaftliche Elend der südserbischen Provinz Kosovo und die ebenfalls düstere Lage in Serbien bildeten wesentliche Motive für die Flucht Sloweniens und Kroatiens aus dem Staatsverband. In den Augen der Slowenen waren die bevölkerungsreichen Republiken Kroatien und Serbien zum Hemmschuh auf dem Weg in Richtung Europa -_ sprich: der Brüsseler Union -_ geworden, auf dem Weg zu Wohlstand und Prosperität zumindest für die Oberschicht der 1,9 Millionen Slowenen.

Kroatien serbenfrei

Am 25. Juni 1991 erklärten Zagreb und Ljubljana, mit Rückendeckung Deutschlands und Österreichs, einseitig die Unabhängigkeit ihrer Teilrepubliken. Der jugoslawische Präsident Markovic, wirtschaftspolitischer Gegenspieler des serbischen Führers Milosevic, nahm diese Erklärung nicht zur Kenntnis und befahl der Volksarmee die Sicherung der Staatsgrenzen. Von slowenischen Bürgerwehren besetzt gehaltene Zollstationen wurden daraufhin angegriffen. Nach drei Tagen Krieg, in dem die slowenischen Separatisten über 1.000 jugoslawische Soldaten gefangennahmen, zog sich die Armee in die Kasernen zurück. Der deutschen Außenpolitik schlug die große Stunde, die österreichische assistierte. Im Rausch der nationalen Einheit, die erst kurz zuvor fünf neue Länder an Bonn angeschloßen hatte, zerschlugen Genscher und Kohl das multinationale Jugoslawien. Die sezessionistischen Bewegungen wurden offen unterstützt, die Bundesorgane Jugoslawiens vor den Kopf gestoßen. So z.B. als Österreichs Außenminister Alois Mock lange vor der Anerkennung der slowenischen Unabhängigkeit den späteren slowenischen Außenminister Rupel als Mitglied der österreichischen KSZE_Delegation nach Berlin einlud. Die Diskussionen um einen Ausschluß Jugoslawiens aus den internationalen Organisationen begannen dort. Ideologisches Kernstück der jugoslawischen Desintegration bildete die These vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, die ohne jedes kritische Hinterfragen als Recht zur Errichtung eines eigenen, ethnisch möglichst homogenen Nationalstaates postuliert wurde. Im gesellschaftlichen Milieu des Balkans, das wußte jeder, der es wissen wollte, konnte diese Zielvorstellung nur in den Krieg führen. Wo 30 und mehr Völkerschaften auf engstem Raum miteinander leben, ist die Volkszugehörigkeit als Argument für eine territoriale Einheit ein Unding. Die einfache Formel von der Anerkennung neuer Nationalstaaten als Mittel zur Verhinderung von Bürgerkrieg in Jugoslawien, wie sie von CDU bis zu den Grünen gebetsmühlenartig wiederholt wurde, hat sich im Nachhinein als kriegstreiberisch erwiesen. Ohne daß daraus allerdings bisher irgendwelche Konsequenzen gezogen wurden. Zudem haben Regierungen und Oppositionen in deutschen Landen von Anfang an gute und schlechte Nationalismen auseinanderdividiert. Serbisch wurde dabei von deutschen Medien und Politikern durchwegs mit denunziatorischen Adjektiven belegt, während slowenisch, kroatisch und -_ später -_ bosnisch einen sympathischen Klang erhielten. Mitte Jänner 1991 brachte die »Affaire Spegelj« ein wenig Licht in die dunklen Machenschaften militärischer Vorbereitungen Kroatiens auf einen Bürgerkrieg. Der Kroate Martin Spegelj, selbsternannter Verteidigungsminister aus Zagreb, sprach in einem TV_Interview von der unumgänglichen »Ausrottung« der Serbenhochburg Knin. Dafür hatte er sich von der ungarischen Armee 36.000 Maschinengewehre besorgt. Der Journalist, der die freizügige Rede Spegeljs in Bild und Ton setzte, verstarb zwei Stunden nach Ausstrahlung des Beitrages. Angebliche Todesursache: Selbstmord. Belgrad war alarmiert. Und die serbische Minderheit in Kroatien bekam Angst vor den Sezessionisten aus Zagreb. Folgerichtig beschloß man in Knin, Pankrac und Umgebung, am 22. Februar 1991 eine »Serbische Autonome Provinz Krajina« auszurufen -_ ganz nach dem Vorbild Sloweniens und Kroatiens. Die kroatische »Nationalgarde«, die es laut Abkommen mit den Bundesstellen eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen, sollte in den serbisch besiedelten Teilen des Landes keine Exekutivgewalt innehaben. Am 2. März 1991, also noch vor den militärischen Auseinandersetzungen um Slowenien, kam es in der Stadt Pankrac zu einer gezielten Provokation kroatischer Garden gegen die örtliche Polizeistation. Eine kroatische Einheit wollte die durchwegs serbischen Polizisten der lokalen Station dazu zwingen, die ustaschafarbene Schachbrettfahne der damals auch international noch von niemandem anerkannten »Republik Kroatien« zu hissen. Als sich die Polizisten weigerten, kamen die ungarischen Armeebestände zum Einsatz. Die ersten Toten dieses Krieges waren Serben. Zu schlechterletzt sollte sich Spegeljs Vorhersage erfüllen: Nach systematischer Aufrüstung der kroatischen Armee durch westliche, insbesondere US_amerikanische Militärs, bombte sich die junge Republik im Sommer 1995 mittels der Aktionen »Blitz« und »Sturmgewitter« serbenfrei, 200.000 Menschen flüchteten in die serbisch kontrollierten Gebiete Bosniens. Zwischen den Ereignissen von Pankrac und dem kroatischen »Sturmgewitter« hatten jugoslawische Truppen ganze Städte wie Vukovar in Schutt und Asche gelegt und die kroatische Bevölkerung daraus vertrieben. Titos Kampfgefährte, Milovan Djilas, sollte recht behalten. Im Juni 1991 hatte er in der Wiener »Presse« gewarnt: »Die Anerkennung der Unabhängigkeit von Slowenien und Kroatien durch Deutschland, Österreich oder andere Staaten wird direkt zu einem Bürgerkrieg in Jugoslawien führen. Dieser Krieg würde von unvorhersehbarer Dauer sein und könnte, so fürchte ich, durch die Intervention internationaler Organisationen oder das Eingreifen der Großmächte nicht gestoppt werden.« Die zwei für Westeuropa wirtschaftlich interessantesten Partner -_ Slowenien und Kroatien -_ waren nach den Kriegen um die Krajina und Slawonien ethnisch homogen.

Bosnischer Dreikampf um eine staatliche Fiktion

Die bosnische Tragödie übertraf noch die kroatische. Hier war und ist die ethnische Durchmischung um ein mehrfaches komplizierter. Dennoch setzte die deutsch/österreichichische Außenpolitik auf dasselbe Krisen-"Lösungs"-Muster. Internationale Hilfe wurde an die Ausrufung der Unabhängigkeit geknüpft. Zuvor noch trieb man die bosnische Führung in ein Referendum über die Eigenstaatlichkeit, wohl wissend, daß ein Drittel der Bevölkerung -_ die Serben -_ dieses Modell strikt ablehnte. Ein lang andauernder, bis heute nicht wirklich beendeter Bürgerkrieg war die Folge. Anders als in Kroatien, wo die Nationalgarde mit westlicher Hilfe zur entscheidenen Kampfkraft gebracht wurde, war in Bosnien die Lage weniger eindeutig. Einen muslimischen Staat in der Mitte Europas wollte die Brüsseler Union nicht hinnehmen. Zudem standen allerlei Hilfstruppen afghanischer und iranischer Mudjahedin der bosnischen Führung um Alija Izetbegovic zur Seite. Waffenlieferungen aus der Türkei und dem Iran verstärkten den westlichen Unmut. An eine Aufrüstung der Bosnier unter diesen politischen Bedingungen war nicht zu denken. Also entwickelte man einen Interventionsplan, der die NATO -_ getarnt als UNO_ bzw. SFOR_Truppen und ausgestattet mit wackeligem UN_Mandat -_ auf den Balkan brachte. Am 31. März 1993 wurde auf Beschluß der UNO über Bosnien ein Flugverbot verhängt. Damals begann die Intervention der westlichen Allianz, die von Rußland nicht zuletzt deshalb gebilligt wurde, weil auch Moskau an einer Muslimherrschaft im Herzen Europas kein Interesse hatte. Der 28. Februar 1994 sah die ersten Angriffe amerikanischer F_16_Bomber auf bosnisch_serbische Flugzeuge. Mitte April begann dann der militärische Einsatz der NATO in Bosnien; über die Konstruktion der »Partnerschaft für den Frieden« nahmen daran auch Soldaten aus Rußland, der Ukraine und Österreich teil. Vorerst lag die Einsatzzentrale im ungarischen Kaposvar. Zu diesem Zeitpunkt stand Belgrad schon längst unter UN_Embargo. Am 27. März 1992 übertrugen sämtliche TV_Stationen der Welt grauenhafte Bilder einer Explosion im Zentrum von Sarajevo, bei der 16 Menschen getötet und viele weitere verletzt worden waren. In eine für Brot Schlange stehende Menge in der Vase-Miskina-Straße schlugen, so der Kommentar zum Film, serbische Granaten ein; am Boden kriechende Schwerverletzte mit zerfetzten Beinen blieben der Welt in Erinnerung -_ als Opfer serbischer Aggression. Drei Tage später, am 30. Mai, verabschiedete der UNO_Sicherheitsrat die Resolution 757. Harte Sanktionen gegen Belgrad waren damit, als unmittelbare Antwort auf den Terror, in die Tat gesetzt. Später kamen Zweifel auf, ob es tatsächlich von serbischen Positionen abgefeuerte Granaten waren, die das Massaker in der Vase-Miskina-Straße verursacht hatten. Eine Untersuchungskommission der UNO vermisste beispielsweise die für Granatentreffer typischen Einschläge im Asphalt. Auch die Tatsache, daß die Straße eine Woche vor dem mörderischen Zwischenfall von bosnischen Behörden gesperrt gehalten wurde, ließ Vermutungen, es könnte sich bei dem Terrorakt um eine gezielte Provokation bosnischer Milizen handeln, aufkommen -_ zumal ein bosnisches Fernsehteam an Ort und Stelle war, um die Schreckensbilder in alle Welt zu senden. Belgrader Quellen nennen auch eine -_ später von bosnischen Behörden verhaftete -_ Augenzeugin, die von ihrem Wohnfenster aus gesehen haben wollte, wie bosnische Polizisten vor dem Anschlag jenen Teil der Straße abgesperrt hätten, der in ein moslemisches Viertel der Stadt führt, sodaß es mehrheitlich serbische Bürger aus Sarajevo waren, die um Brot anstanden. Ob serbische Granaten oder bosnische Bomben, blieb letztlich ungeklärt. Das gegen Belgrad verhängte Embargo wäre jedenfalls bei einer genauen Untersuchung des Vorfalls nicht argumentierbar gewesen. Trotzdem bestimmte es jahrelang das Leben von mehr als zehn Millionen Menschen im Rest Jugoslawiens und weiteren Millionen in Rumänien, Bulgarien, Makedonien und Ungarn, die mehr als der Westen Europas oder gar die USA unter der zwangsweisen Einstellung sämtlicher Wirtschaftsbeziehungen zu Belgrad litten. In den ersten Stunden des 30. August 1995 startete schließlich die NATO ihre bis dahin größte Militäraktion am Balkan. Mehr als 60 Kampfflugzeuge griffen Stellungen bosnischer Serben rund um Sarajewo an. Zwei Tage zuvor hatte ein angeblich bosnisch_serbischer Artillerieangriff 41 Menschen getötet. Zwei Monate später stellte sich heraus, daß das Massaker vom 28. August, das der NATO die Legitimität zum Eingriff lieferte, eine gezielte, fürchterliche Provokation der Regierung in Sarajewo war. Britische Experten hatten herausgefunden, daß die Granaten, die den Balkan in eine weitere Spirale des Krieges hineinzwangen, von bosnischen Regierungstruppen abgefeuert worden waren. Französische und russische UN_Fachleute teilten diese Meinung. Immer wieder war zu jener Zeit -_ auf den hinteren Seiten der westlichen Medien -_ von Provokationen bosnischer Einheiten die Rede, so auch Anfang August 1995, als der Chef der französischen SFOR/NATO_Truppe bekannt gab, daß seine Marinesoldaten bosnische Heckenschützen ausgehoben hatten, die tagelang gezielt auf die eigene Bevölkerung feuerten, um Punkte im Propagandkrieg zu sammeln. Der französische General wurde bald darauf von seinem Posten in Sarajevo zurückbeordert. Izetbegovic gewann, mit Hilfe der amerikanischen PR_Agentur Ruder Finn, die Propagandaschlacht. Die USA konnten sich militärisch als Sieger fühlen. Der Dayton_Vertrag vom 21. November 1995 besiegelte die Teilung Bosniens. Er war von Kampfjets der USA herbeigebombt worden, die letztlich gezielte Provokationen aus den Reihen der bosnischen Grünen Barette zum Anlaß nahmen, um die serbische Seite in die Knie zu zwingen. Freilich lag den Westalliierten auch daran, die politische Macht Sarajewos zu beschneiden, was -_ folgt man der totalen Absenz der bosnischen Führung in den westlichen Medien -_ auch gelungen scheint.

Nächster Akt: Die Zerstörung Serbiens

Nun soll Belgrad endgültig in die Knie gezwungen werden. Als einziges Land am Balkan, dessen Regierung sich dem IWF_ und NATO_Diktaten bislang nicht zu beugen gewillt war, bekommt Jugoslawien die volle Gewalt der abendländischen Wertegemeinschaft zu spüren. Da kommen die rebellischen Albaner im Kosovo mit ihren verzweifelten Hilferufen an die NATO gerade recht. Schon mehrere Male in diesem Jahrhundert hatten sich albanische Freiheitskämpfer an Wien, Rom, London oder Berlin um Hilfe gewandt, um osmanische oder serbische Bedrückungen abzuschütteln. Und jedesmal kam monarchischer oder faschistischer Entsatz, der die Aufforderung zur Hilfe als Initialzündung für die Erweiterung des eigenen Machtbereichs begriff. Die albanische Frage brachte das westliche Imperium regelmäßig, wenn auch bislang nur kurzfristig, in die Offensive. Die dem Völkerrecht und selbst dem NATO_Statut, wonach nur ein um Hilfe rufendes Mitgliedsland militärischen Entsatz verdiene, widersprechenden Luftangriffe der nordatlantischen Allianz auf das souveräne Jugoslawien bilden den vorläufigen Höhepunkt einer westlichen Destabilisierungspolitik auf dem Balkan. Medial wird diese von der ständischen Schuldzuweisung an »die Serben« oder an »Präsident Milosevic« begleitet. Wenn die Politik Belgrads auch einen gehörigen Anteil an der Zerschlagung Jugoslawiens hat, die Auslöser dieser Tragödie sitzen in Zagreb, Ljubljana und Sarajewo, die Strategen in Bonn/Berlin und Washington. Während sich Bonn/Berlin von der Zerstückelung des Vielvölkerstaates die Teilnahme der Filetstücke an der westeuropäischen Integration versprach, dürften die Motive der USA, die ja bis Sommer 1991 im Gegensatz zu Deutschland an der Einheit Jugoslawien festhalten wollte, geopolitischer Natur sein. Der Balkan, so ließ man sich nach und nach im Pentagon und auf dem amerikanischen Kapitol überzeugen, ist als Aufmarschgebiet gegen zukünftige slawische Unruheherde bestens geeignet. Insbesondere läßt sich von hier aus das Schwarze Meer und damit die Ukraine und Rußland auch vom Südwesten aus erreichen. Ein ökonomischer Effekt der Zerstörung Jugoslawiens bleibt für den Westen dies_ und jenseits des Atlantiks auf jeden Fall: Der Wiederaufbau devastierter Landstriche von Kroatien über Bosnien bis Serbien bringt fette Aufträge. Eine zweite mögliche Strategie der US_geführten NATO_Schläge könnte sich auch indirekt gegen Westeuropa wenden. Wirtschaftliche Kleinkriege zwischen Brüssel und Washington sind ja bereits auf der Tagesordung. Die euroschwangere EU stellt zudem einen nicht ausmachbaren Konkurrenten für US_Amerika dar. NATO_Schläge zur Destabilisierung der EU_Ränder verursachen langfristig politische Kosten auf dem Kontinent. Nach dem direkten Eingriff der NATO werden nationalistische Bewegungen über Jahre die Kultur am Balkan bestimmen. EU_Europa ist in der Folge mit einem Problem beschäftigt, das man sich eigentlich vom Hals schaffen wollte: der Ethnisierung sozialer Probleme an der Peripherie. Wer alles den Preis für diese Politik bezahlen wird, steht noch nicht fest. Die Albaner auf jeden Fall. Sie gehören zu den größten Opfer der jugoslawischen Katastrophe. in: Volksstimme 13/99