Nach dem EU-Gipfel von Köln: Die Vierte Säule der Union nimmt immer deutlichere Konturen an

Von Klaus Heidegger

Der EU-Rat in Köln Anfang Juni dieses Jahres hat nichts gebracht, was nicht schon vorher angelegt gewesen wäre. Köln war eine weitere Etappe in der Entwicklung der Europäischen Union hin zu einem immer mächtigeren Superstaat mit einer eigenen Außen- und Sicherheitspolitik und damit auch wesentlich mit gemeinsamen militärischen Kapazitäten einschließlich nuklearer Potentiale. Köln war ein Déjà-vu. Köln war eine Bestätigung dessen, was in Maastricht grundgelegt worden war, was nach der monatelangen Regierungskonferenz im Vorfeld des Amsterdamer Gipfels erarbeitet worden war und schließlich als Vertrag von Amsterdam (Juni 1997) im gesamten EU-Bereich Gültigkeit erlangte. Köln war die Fortsetzung all der bisherigen EU-Gipfel aber auch wesentlich all der EU-Ministerräte. Köln kann mühelos aus der bisherigen Kette von EU-Treffen und EU-Strategiepapieren erklärt werden.

Der EU-Rat in Köln hat auch für die österreichische sicherheitspolitische Diskussion und Situation nichts wesentlich Neues gebracht, sondern die bisherigen Trends bestätigt. Die heimische Wahlkampfrhetorik rund um diesen Gipfel täuscht über dieses Faktum hinweg. Aus österreichischer Perspektive war beispielsweise die vor einem Jahr erfolgte Verfassungsänderung im Artikel 23f der Bundesverfassung eine weit größere Weichenstellung als der Kölner Gipfel. Im Juni 1998 wurde im Parlament beschlossen, dass Österreich selbst an Kampfeinsätzen im Rahmen der EU teilnehmen könne. Das passt freilich nicht in das propagierte Bild der Sozialdemokraten, dass sie in Köln tapfer die Neutralität verteidigt hätten.

Worin liegen nun, zusammengefasst, die Eckpunkte der Entwicklung zur Militärmacht EU, die in Köln bestätigt bzw. fortgeschrieben worden waren?

Erstens: Die EU solle eine eigenständige Militäridentität aufweisen und militärische Aufgaben besser wahrnehmen können.

Bereits im Vertrag von Maastricht ist davon die Rede, ‹auf längere Sicht eine gemeinsame Verteidigungspolitik festzulegen, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte". Im Amsterdamer Vertrag geschah der wesentliche Schritt, der nun in der Kölner Erklärung zur ‹Stärkung der gemeinsamen europäischen sicherheits- und Verteidigungspolitik" präzisiert wurde. Die Beschlüsse von Köln sollen die Finalisierung des Projekts eines EU-Militärpaktes bewerkstelligen. Das Ziel, so wurde genannt, soll in eineinhalb Jahren verwirklicht sein. Die im Maastrichter Vertrag offen formulierte Zeitangabe, wann die gemeinsame Verteidigungspolitik Wirklichkeit werden soll, scheint ein konkretes Datum zu bekommen. Beim Amsterdamer Gipfel wurde die ‹schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik ... die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, falls der Europäische Rat dies beschließt" festgelegt. Darauf konnte Köln aufbauen. Die EU kann nun eine gemeinsame Verteidigung errichten, ohne dazu eine neue Regierungskonferenz einzuberufen und ohne die Duchführung einer eingehenden öffentlichen Debatte.

Die Frage, wie sehr sich all die bisherigen EU-Entwicklungsschritte noch mit der heimischen Neutralität vereinbaren lassen, kann vor allem aus dem Konstrukt der ‹Petersberg-Missionen" beantwortet werden. Im Artikel 17 des Amsterdamer Vertrages über die Europäische Union wurden die sogenannten Petersberger Aufgaben in die Sicherheitspolitik der EU integriert. Es sind Aufgaben, die nicht nur sogenannte friedenserhaltende bzw. friedenssichernde Aufgaben vorsehen, sondern zugleich auch Kampfmaßnahmen. Diese können wohlgemerkt auch out-of-area &endash; also irgendwo auf der Welt stattfinden.

Die EU übernimmt Aufgaben, die in der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, ohne festzuschreiben, dass die ‹friedensschaffenden Maßnahmen" der EU nur durchgeführt werden können, nachdem der UN-Sicherheitsrat dies beschlossen hat. Auch die österreichische Textierung des Artikels 23f lässt eine Interpretation zu, die eine Teinahme an Kampfeinsätzen selbst ohne UN-Beschluss ermöglicht.

Zweitens: Die Verschmelzung von EU und WEU stellt Allianzfreiheit und Neutralität radikal in Frage.

Besonders aus dem Blickwinkel der neutralen und bündnisfreien Staaten warf der Gipfel in Köln erneut die Frage auf, wie sehr sich im Kontext des Amsterdamer Vertrages oder nun der Kölner Erklärung überhaupt noch eine Neutralität oder zumindest Bündnisfreiheit realisieren lasse. Oder anders gefragt: Ist die EU bereits ein Bündnis von Staaten, für die militärische Solidarität eine Selbstverständlichkeit ist?

Köln brachte hier nicht ein Mehr an Klarheit. Die Widersprüchlichkeit ist in der Textierung des Amsterdamer Vertrages festgelegt und konnte auch in Köln nicht wegdiskutiert werden. Bereits im Amsterdamer Vertrag wurde formuliert, dass die WEU in die EU integriert werden könne, falls der Europäische Rat dies beschließe. Dazu sollte eine engere institutionelle Zusammenarbeit gepflegt werden.

Je nach Interessenslage kann daher das Kölner Ergebnis als endgültige Demontage der Neutralität bzw. Bündnisfreiheit von EU-Mitgliedern interpretiert werden oder als Verteidigung ebendieser.

Einerseits wurde in Köln formuliert: ‹Die Mitgliedsstaaten unterstützen die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität." Die EU-Sprachregelung ersetzt also die Begriffe Beistandsverpflichtung mit ‹gegenseitiger Solidarität" und ‹Loyalität". Damit sei schon die Neutralität gerettet, so Bundeskanzler Klima, weil in klassischer Hinsicht ja nur die Beistandsverpflichtung einen Militärpakt ausmache. Die Mitgliedschaft in einer Verteidigungsunion ohne die klassischen Artikel-V-Pflichten bereite aber keine Neutralitätsschwierigkeiten.

Letztlich ist jedoch das Argument von einer Verpflichtung zur Solidarität nicht eine Abschaffung, sondern eine Verschärfung der bisherigen Beistandsverpflichtung. ‹Militärischer Beistand" ist jetzt nicht nur mehr gefordert zum Zwecke der Verteidigung, sondern &endash; siehe Petersberger Aufgaben &endash; in erster Linie zur Durchsetzung bestimmter Interessen &endash; und sei es unter dem Deckmantel der Humanität. Im EU-Jargon sagte es die amtierende Außenministerin Tarja Halonen eindeutig. Es gehe nicht mehr um ‹Verteidigung im althergebrachten Sinn, sondern um Krisenmanagement".

In der österreichischen Diskussion wurde bereits im unmittelbaren Vorfeld des Kölner Gipfels geredet und geschrieben, als würde einzig die durch eine WEU-Vollmitgliedschaft bedingte Beistandsverpflichtung einer vollständigen Verschmelzung von EU und WEU im Wege stehen.

Tatsächlich freilich verbieten die Kernelemente der Neutralität das, was in Köln neuerlich und definitiver formuliert worden ist: Zwar besteht tatsächlich auch nach Köln nicht die althergebrachte Beistandspflicht, andererseits sollen die pakt- und bündnisfreien Staaten bei EU-geführten Aktionen zur Krisenintervention voll einbezogen werden. Dies gilt auch für Aktionen, bei denen ein Rückgriff auf NATO-Kapazitäten erfolge. All dies geschieht freilich mit der Einschränkung, die dem Neutralitäts- bzw. Allianzgedanken etwas entgegenkommt: Eine Teilnahme an EU/WEU-Aktionen im Rahmen der Petersberg-Aufgaben setzt die freiwillige Zustimmung der einzelnen Mitgliedsstaaten voraus. Es gilt weiterhin die Möglichkeit der konstruktiven Enthaltung bzw. des Vetos bei gemeinsamen EU-Militäraktionen.

Erstens ist jedoch jede Teilnahme (immerwährende Neutralität!) an Kriegseinsätzen im Widerspruch zur völkerrechtlichen festgelegten Substanz der Neutralität. Vor allem seitens der Sozialdemokratie wird hier laufend gemogelt. Der große qualitative Unterschied zwischen Neutralität und Bündnisfreiheit wird negiert. Entweder wird Neutralität beinahe mit Allianzfreiheit auf eine Stufe gestellt, oder Neutralität wird bewusst auf eine Paktfreiheit reduziert. Die untrennbare Verbindung zwischen den Kernelementen ‹keine Beteiligung an Kriegen" und ‹Militärpaktfreiheit" bewirkt die de facto Abschaffung der Neutralität. Dies geschieht genauso mit der verfassungswidrigen Auslegung der Neutralität, sie quasi für Aktionen im Kontext von UN-Beschlüssen außer Kraft zu setzen. An der Beteiligung österreichischer Soldaten unter NATO-Kommando im Rahmen von KFOR wurde dies wiederum besonders deutlich. Die Regierungsspitze betonte, eine derartige Beteiligung stelle deswegen kein Problem dar, weil sie ja auf der Basis der UNO erfolgen werde. Neutalität ist zumindest nicht mehr jene als ‹immerwährend" Definierte, sondern wird zu einer ‹einfachen" &endash; das heißt zu einer ‹von-Fall-zu-Fall"-Neutralität.

Noch aus einem zweiten Grund ist die Konzentration der Diskussion auf die Beistandsverpflichtung nicht mehr stimmig. Sie ist zwar eines der zentralsten Kernelemente der klassischen Militärpakte, jedoch weder das einzige noch heute im Zeichen offensiver Militärorganisationen das wichtigste. Mit anderen Worten: Österreich könnte auch einem Militärbündnis dann nicht angehören, wenn es darin keine Beistandsverpflichtung gäbe.

Aus militärischer und sicherheitspolitischer Perspektive war der Kölner Gipfel zugleich eine Bestätigung für die Mehrklassenstruktur der Union. In der ersten Klasse, wo alle wichtigen Entscheidungen getroffen werden, sitzen eben die Paktmitglieder: Für diese gilt auch nach Köln ausdrücklich die bisherige Bündnisloyalität. Es heißt mit Hinweis auf Artikel 5 (V) der NATO- bzw. WEU-Verträge: ‹Diese Verpflichtungen (...) bleiben auf jeden Fall für die Mitgliedsstaaten, die diesen Verträgen angehören, bestehen. Die Politik der Union präjudizuiert nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedsstaaten."

Drittens: Die neue EU-Militärpolitik baut auf dem Nordatlantischen Militärpakt auf.

Köln war zweifelsohne eine Bestätigung für eine eigenständigere gemeinsame europäische Militärpolitik. In keinster Weise soll damit aber eine Loslösung oder gar Unabhängigkeit von der NATO bewerkstelligt werden. Ohne Wenn und Aber haben denn auch die NATO-Mitglieder der Union immer wieder betont, daß ‹europäische Sicherheitspolitik im Rahmen der NATO stattfindet". Der Schlüsselbegriff lautet: Der europäische Pfeiler der NATO solle gestärkt werden. Mit anderen Worten: Die EU-Militärpolitik wird nicht als autonomer Bereich gesehen, sondern eben als ein Pfeiler eines größeren Ganzen.

Bestimmte politische Parteien und Kräfte in den neutralen bzw. bündnisfreien EU-Ländern schwindeln sich um diese Tatsache herum, wenn sie nun nach Köln zwar ein aktives Engagement in einem europäischen Sicherheitssystem befürworten, zugleich aber einen NATO-unabhängigen Kurs propagieren. Es entspricht jedoch weder den gegenwärtigen Tatsachen noch den in Köln oder Amsterdam deklarierten Zielen, wenn seitens der SPÖ, der FPÖ, des Liberalen Forums heute so getan wird, als würde das europäische Sicherheitssystem ohne die bestimmende Rolle der NATO entwickelt werden. Die schick gewordene Losung nach dem Kölner Gipfel ‹vergessen wir die NATO, bauen wir das europäische Verteidigungsbündnis auf" entspricht zwar populistischen Absichten, hat aber nur sehr wenig mit der Realität zu tun.

Wie sehr die EU die NATO als ihr willkommenes militärisches Ausführungsorgan sieht und sich in militärischen Fragen unterordnet, demonstriert die tägliche Praxis. Bestes Beispiel ist der NATO-Krieg in Kosovo mit anschließender NATO-‹Befriedungs"-Politik. Der Kölner Gipfel stand ganz im Zeichen der letzten Kriegstage. Die EU-Staats- und Regierungschefs kritisierten in keinster Weise die NATO-Kriegspolitik.

Die Konsequenzen für die militärische Zukunft Österreichs liegen klar auf dem Tisch: EU und WEU sind genauso wie die Teilnahme an der erweiterten NATO-‹Partnerschaft" das vielzitierte Hintertürl in die NATO.

Viertens: Köln brachte den Mister GASP.

Die NATO-Orientierung der Europäischen Union wurde ungeschminkt sichtbar, als zum ersten ‹Mr. GASP" der amtierende NATO-Generalsekretär Javier Solana ernannt wurde. Der NATO-Generalsekretär, in dessen Amtszeit der erste NATO-Krieg fällt, der den völkerrechtswidrigen Angriff auf einen Staat ohne formelle Kriegserklärung zu verantworten hat, eben dieser Mann wird bar jeder Sensibilität zum EU-Außenminister gewählt. Seine Aufgabe wird darin liegen, die ‹Planungs- und Analyseeinheit" aufzubauen, mit der die sicherheits- und verteidigungspolitische Identität der EU vorangetrieben werden soll.

Fünftens: Militärische Offensivpolitik entspricht dem Gesamtsystem der Europäische Union.

Eine antimilitaristische und friedenspolitische Kritik ohne Berücksichtigung der ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren der Union würde scheitern. Die Fragen müssen zugleich fundamentaler und grundsätzlicher gestellt werden. Die Unionsarchitekten setzen auf Synergieeffekte zwischen den Bereichen der äußeren und inneren Sicherheit und auf eine gegenseitige Verstärkung der Reformen im Bereich der Militärs, der Sicherheitsapparate und der Justiz. Der Superstaat Union wird ein allmächtiger Polizeistaat mit massiven Restriktionen nach innen und einer geballten Militärmacht nach innen und außen sein &endash; oder er wird nicht sein. Das Projekt einer ‹Großmacht Europa" als solches ist in Frage zu stellen. Mit Blick auf die EU scheinen Ivan Illich, Leopold Kohr oder Friedrich Schumacher Recht zu bekommen. Ab einer bestimmtem Ausmaß trägt jede Größe den Keim des Untergangs in sich. Bei der Europäischen Union ist die kritische Größe längst überschritten. Die Milliardenverschwendungen in der EU, Korruption und Misswirtschaft, katastrophale Konsequenzen des Agrobusiness und all das verbunden mit einer Zentralisierung und Entdemokratisierung können nicht einzelnen Politikern zugeschrieben werden. Eine Edith Cresson ist nicht die Ursache für Verschwendung im EU-System, sondern bezeichnendes Symptom für die Nichtfunktionsfähigkeit dieses gigantischen Apparates. Der Teufel sitzt im System, das viel zu groß, viel zu mächtig, viel zu aufgebläht ist, um noch human funktionieren zu können. Ein System dieser Größenordnung ist geschaffen für die Mächtigen und jene, die diese Macht auch mit militärischen Mitteln sichern und ausbauen wollen.