Moral ist ein anderes Wort für Willkür

Der Schriftsteller Peter Handke über die Nato-Bomben auf Serbien und die Frage, warum Amerika umerzogen werden muß



Aus der Süddeutschen Zeitung, 15.05.99, Feuilleton

 

‹Der ewige Frieden ist möglich", verkündet die Nova am Ende Ihres

dramatischen Gedichts ‹Über die Dörfer". Das war 1981. Jetzt ist nicht

Frieden, sondern Krieg.

 

(H) Ich bin immer noch im Zustand des Schocks vom 24. März. Als die

Bomber und die Raketen losgingen, dachte ich zuerst, die Welt würde

aufwachen, aber dann fing die Propaganda der Nato an.

 

Sie haben dann einen Aufruf veröffentlicht, in dem es heißt, der Mars

greife die Erde an.

 

(H) Ich habe in meinem Entsetzensruf nicht den Kriegsgott Mars gemeint,

sondern den Film ‹Mars Attacks!" von Tim Burton. In Le monde hat der

albanische Schriftsteller Ismael Kadaré auf der ersten Seite verkündet:

‹Kosovo ist albanisch, denn wir waren die ersten." Schmutzige

Propaganda (es gibt ja auch reine Propaganda im Sinn von Propaganda

Fidei, Verbreitung des Glaubens, der Schönheit, Propaganda zum Beispiel

durch Melodie). Auch wenn ein Serbe sagte, wir Serben waren die ersten,

würde ich mich dagegen wenden.

Die Marsmenschen exekutieren bekanntlich eine humanitäre Aktion.

Die Nato sagt, es geht uns nicht um Geld oder Macht, es geht uns um die

Sache. Wir wollen ein neues Auschwitz verhindern. Gut, jetzt hat die

Nato ein neues Auschwitz erreicht.

 

Auschwitz ist aber doch etwas anderes?

 

(H) Der Horror der Geschichte wiederholt sich nicht seitengleich oder

spiegelbildlich. Dieser Krieg zeigt auf fürchterlich unvermutete Weise

die ewige Barbarei: Nur bricht die im Jugoslawien-Krieg in grundanderer

Gestalt aus als in der planen Wiederholung. Damals waren es Gashähne

und Genickschußkammern; heute sind es Computer-Killer aus 5000 Meter

Höhe.

 

Jürgen Habermas rechtfertigt den Krieg als Ausnahme.

 

(H) Habermas will ein Weltbürgerrecht, aber bevor es formuliert ist,

fingiert er es mit einem Krieg. Rundherum schreibt er einen entsetzlich

rechtfertigenden Schrieb zum Krieg gegen Jugoslawien. Das kommt schon

in seinen Adverbien zum Ausdruck: Wenn er zum Beispiel sagt, Serbien

pocht ‹neurotisch" auf seine Souveränität. Wieso neurotisch? Wie kann

ein Philosoph sowas schreiben? Das ist stilistisch-gedanklich auf dem

Hund. Oder wenn er schreibt, dieser Krieg werde von 19 demokratischen

Staaten geführt. Hätte man ja sagen können. Aber was sagt er vor dem

‹demokratisch"? Von 19 ‹zweifellos" demokratischen Staaten. Der ganze

Aufsatz ist eine Apologie der blindwütigen Gewalt. Ein Philosoph, der

im gegebenen Moment die Empörung verfehlt oder versäumt, hat seinen

Beruf verfehlt. Man sagt immer, das erste Opfer des Krieges sei die

Wahrheit. Für mich ist immer eins der ersten Opfer die Sprache.

 

Die Nato und selbst Habermas haben die Moral auf ihrer Seite.

 

(H) Was soll ich darauf antworten?

 

Ich frage Sie nach der Legitimation. Sie haben doch Jura studiert.

 

(H) Moral ist für mich in diesem Krieg ein anderes Wort für Willkür

geworden. Dagegen sage ich: Recht muß Recht bleiben. Recht ist das

Gegenteil von Willkür. Recht regelt das Minimum der Beziehung unter den

Menschen, damit einem nicht Unrecht geschieht.

 

Der nächste Satz lautet unweigerlich: ‹Summum ius, summa iniuria".

 

(H) Was soll ich dazu sagen? Da müssen wir anfangen zu politisieren,

und das ist nicht meine Rolle. In Rambouillet waren beide Seiten mit

der größtmöglichen Autonomie für das Kosovo einverstanden. Nur: Den

Zusatz, wie nämlich die Autonomie exekutiert hätte werden sollen,

konnte kein serbischer Verhandler oder Machthaber unterschreiben. In

dem Sinn war Rambouillet kein Vertrag, sondern ein brutales Diktat.

Als ich in Rambouillet war, kam der österreichische Unterhändler

Wolfgang Petritsch auf mich zu und sagte: ‹Das wird unheimlich schwer

sein für die Serben." Ich dachte, die Serben sind doch einverstanden

mit einer Erweiterung und fast staatengleichen Autonomie für das

Kosovo. Erst im nachhinein kam das Zusatzprotokoll heraus. Es war ein

grausamer Schwindel. Ich habe mich übertölpelt gefühlt, weil ich

dachte, es geht um Frieden und nicht um ein Diktat.

 

Warum waren Sie in Rambouillet?

 

(H) Warum nicht? Rambouillet ist nah, da nehme ich den Zug. Ich wollte

sehen, was man im Fernsehen nicht sieht: die Diplomaten, die

Journalisten, die Geheimdienstleute. Ich wollte es spüren, so wie ich

in den letzten Jahren immer wieder auch nach Jugoslawien gefahren bin.

Ich habe mich verpflichtet gefühlt.

 

Wem?

 

(H) Dem Problem, dem Schmerz, der Lösung.

 

Darum sind Sie auch während der Bombenangriffe nach Serbien gefahren?

 

(H) Ich war Ende März/Anfang April vier Tage dort und Ende April

nochmal eine Woche.

 

Wie kommt man nach Serbien hinein? Es herrscht doch Kriegsrecht.

 

(H) Wir waren für eine bestimmte Stunde angekündigt, sonst hätte man

uns nicht hineingelassen. Ich hatte ein Geleitschreiben dabei, aber

doch Angst, mich vor den herumschweifenden Banden ausweisen zu müssen.

Alles Offizielle, auch wenn es die eigene Seite ist, stachelt sie nur

an.

 

Sonst hatten Sie keine Angst?

 

(H) Es war eher Nervosität oder Gereiztheit. Ich kann Ihnen keine

Ernst-Jünger-Erlebnisse berichten. Unten im Tal schlagen die

Nachtigallen, hoch oben sind die Flugzeuge. Aber die Flugzeuge sind

jetzt Bomber. Und der blaue Himmel heißt Bombenwetter. Auf dem Rückweg

habe ich in Belgrad eine zünftige Bombennacht erlebt. Es ist, als käme

der Himmel herunter, eine Faust haut auf die Zwei-Millionen-Stadt. Die

militärischen Ziele sind längst verlassen, die Soldaten nicht mehr in

den Garnisonen. Aber die Kriegshelden wissen das ja; der Sinn der

Bombardierung besteht in den sogenannten Kollateralschäden. Das heißt,

in den Krankenhäusern müssen Krebskranke die scheußlichsten Leiden

ertragen, weil sie vielleicht Milosevic gewählt haben. Aber vielleicht

haben die Bomben die Sterbenden zum Leben erweckt. Die Todkranken

werden wie in der Bibel geheilt, wenigstens ein Erfolg der Nato-Gewalt:

Steh auf, nimm dein Bett und wandle.

 

In Ihrem Roman ‹Der kurze Brief zum langen Abschied" (1972) heißt es am

Anfang: ‹So weit ich mich zurückerinnern kann, bin ich wie geboren für

Entsetzen und Erschrecken gewesen. Holzscheite lagen weit verstreut,

still von der Sonne beschienen, draußen im Hof, nachdem ich vor den

amerikanischen Bombern ins Haus getragen worden war."

 

(H) Hier erklärt sich gar nichts mit meiner Herkunft und meiner

Geschichte. Ich bin schlicht fassungslos. Das gibt's doch nicht, daß

die ganze Welt gegen jedes Recht dieses Land angreift. Diese Menschen

in Serbien, im Kosovo, in Montenegro, denke ich bei der Erinnerung an

die Kinder auf dem Chor während der orthodoxen Sonntagsmesse von

Srebrenica, sind unschuldig, fast alle. Sie sind so unschuldig, wie man

nur sein kann, sie sind die verkörperte Unschuld. Sie sind so

unschuldig, wie hier auf dem Kriegs- und Feindesplaneten fast alle

schuldig sind, finster-ahnungslos schuldig. Vielleicht weiß ich zu

Jugoslawien nichts, oder zu wenig. Aber ich weiß: Ich bin kompetent.

 

Warum?

 

(H) Weil mich die Macht nie fasziniert hat. Weder die Macht eines

Slobodan Milosevic noch die des Papstes und nicht die eines

Indianerhäuptlings &endash; höchstens vielleicht die Macht eines Kindes, eines

Heiligen, eines Ohnmächtigen oder Sterbenden.

 

Sie sind immerhin bei Bruno Kreisky gewesen.

 

(H) Ich war heilfroh, als ich wieder draußen war. Ich kann mich noch

erinnern, wie hoch die Türgriffe in der Hofburg waren. Ich zähle mich

allerdings noch immer zur sozialistischen Tradition in Österreich. Und

wenn es in diesem Jahrhundert in Europa für mich Helden gegeben hat,

dann waren das die jugoslawischen Partisanen. Was Jugoslawien betrifft,

bin ich gern ewiggestrig oder meinetwegen nostalgisch. In Jugoslawien

ist der Reformkommunismus, die Arbeiterselbstverwaltung, tragisch

gescheitert, und hier ist das Wort ‹tragisch" angemessen. Auf den

Nato-Pressekonferenzen hingegen wird ein Wort wie ‹tragischer Irrtum"

jedesmal fällig, wenn die Bevölkerung abgeknallt wird. Selten sind die

beiden Wörter so mißbraucht worden. Tragik ist etwas anders, Tragik ist

die Situation Jugoslawiens in der Geschichte, die Geschichte Serbiens,

im Kosovo.

 

Worin besteht diese Tragik?

 

(H) Die Serben haben durch den Zerfall Jugoslawiens als einziges Volk

dort nur verlieren können und dann verloren. Deshalb Milosevic zu

dämonisieren, hilft doch nichts. Was hätte ein anderer Präsident

Serbiens im Interesse Jugoslawiens anders machen können als Milosevic?

Ich möchte sehen, was passiert, wenn ein junger französischer Soldat

aus dem Hinterhalt von einem korsischen Nationalisten getötet wird.

Aber im Kosovo wurde wieder nur ein dicker, wahrscheinlich

slibowitzsaufender serbischer Polizist weggehauen. Aber ich will nicht

als Politiker reden.

Hans Magnus Enzensberger redet wie ein Politiker und möchte die UÇK

bewaffnen.

Der weiß immer, wo's lang geht, ein grinsender höhnischer Zuschauer,

der menschgewordene Hohn. Der islamische Sufi Djalâl-ud-Dîn Rûmî sagt:

‹Sie tragen bedruckte Seiden nicht als Ornament, sondern um ihre

Schönheit zu bewahren." Enzensbergers Sachen sind das Gegenteil,

Ornament zur Verhöhnung der Schönheit.

 

Mit ihrer pro-serbischen Haltung stehen Sie ziemlich allein da in der

deutschen Literatur.

 

(H) Ich bin mit dem serbischen Volk, nicht mit Milosevic. Wer nicht

prononciert antiserbisch ist, der hat als ‹Pro-Serbe" verschmäht zu

werden. Wer bei ‹Milosevic" nicht unverzüglich hinzufügt: ‹Schlächter",

‹Hitler des Balkan", ‹Gottseibeiuns", der ergreift Partei für

‹Milosevic" &endash; Pro-Serbe ist für mich heute ein Ehrentitel.

Die sprachliche Kumpanei zwischen der Macht und den Journalisten hat

Karl Kraus schon vor achtzig Jarhen in den ‹Letzten Tagen der

Menschheit" beschrieben.

Die meisten Journalisten und Politiker sind ohne Sprachgewissen, und

eine ärgere Gewissenlosigkeit gibt es nicht. Es bräuchte einen neuen,

einen noch besseren Karl Kraus, um zu beschreiben, was geschieht. Ihr

erbombt und erkillt eure Minister- und Journalistenpenisonen, und ich

zahle die Steuern für eure Bomben und eure Pensionen. Der deutsche

Minister wird von der Frankfurter Zeitung dafür gelobt, ‹weil er im

Kriege bereit ist, auf eine Auseinandersetzung mit Schriftstellern zu

reagieren". Das ist für mich schmutzigste Pornographie, weil sie auch

noch vornehm tut.

Es war wohl eher töricht, was die serbischen Schriftsteller gegen

Günter Grass angezettelt haben, als sie ihm seine Bücher zurückschicken

wollten, weil er den Nato-Krieg befürwortet hat. Etwas Analoges würde

ich bei den Leuten begrüßen, die einmal meine Sachen gelesen haben und

jetzt als Kriegsgesellen auftreten. Der deutsche Tötungsminister zum

Beispiel, der mir einst mit einem Telegramm zum Geburtstag gratuliert

hat, möge mir meine Bücher zurückschicken. Rührt nicht alles

Kriegsunglück daher, daß in der ganzen westlichen Welt die 68er an der

Macht sind?

Viele der Killer, die sich durch den Staat beglaubigen, erfüllten sich

einen Kindheitstraum. Sie wollten immer gegen irgendwas kämpfen. Für

die Nazis war's zu spät. Fürs Zerschlagen des Sowjetkommunismus war's

auch zu spät. Da hat der frömmlerische protestantische Kapitalismus

gesiegt und siegt weiter. Jetzt bekommen sie endlich die Gelegenheit,

den Helden zu spielen. Und was machen diese Turnlehrer des Grauens? Mit

der einen Hand tätscheln sie, mit der anderen töten sie, und das ist

das neue Auschwitz, das sie doch verlogen verhindern wollten. Gegen

diese Leute, die jetzt Macht ausüben, ist der beste Strang der Vor-68er

aufgetreten, Herbert Marcuse zum Beispiel, der gegen den

‹Eindimensionalen Menschen" schrieb. Der Eindimensionale Mensch ist

überall an der Macht und Gewalt.

 

Daniel Goldhagen möchte die Serben ‹umerziehen".

 

(H) Seit Vietnam werden die Amerikaner nur noch zum Beten, Boomen und

Bomben erzogen. Seitdem sind die Marsmenschen da, und sie tragen eine

Clinton-Maske. Serbien umerziehen? Nein, Amerika umerziehen, samt

seinem Vorsteher und dem Pimpf Goldhagen.

 

In Ihrem neuen Stück ‹Die Fahrt im Einbaum" tritt der amerikanische

Filmregisseur John O'Hara auf und sagt: ‹Wir Menschen sind, und das ist

endgültig, untereinander an die Falschen geraten." Gibt es noch ein

richtiges Leben für die falschen Menschen?

 

(H) ‹Wer aus einer weißen Kuh eine schwarze Kuh ziehen kann, der kann

auch aus einer schwarzen Kuh eine weiße ziehen", sagt Rûmî. Photos vom

Allkrieg gegen Jugoslawien geben das Weltgrauen nicht einmal

andeutungsweise wieder. Die Bombenschäden lassen sich so wenig

photographieren wie die serbischen und albanischen Toten, die

Flüchtlinge aber schon. Für diese Bilder gibt es nur Großaufnahme und

Totale; die Wahrheit finge dazwischen an. Die Bilder zeigen eine

schmerzhaft verlogene Dreiecksgeschichte: die Flüchtlinge, die leiden,

wie nur ein Mensch und ein Tier leiden kann; die Leute, die eine

Inszenierung draus machen samt abgeschnittenen Ohren und

Massenvergewaltigungen; und die Bildreporter. Es ist eine

heillos-schmerzlich-schmutzige Dreiecksgeschichte.

Bitte, und einmal ohne drei Ecken, die Geschichte der Serben in den

letzten zehn Kosovo-Jahren erzählen. Nicht der führenden Politiker oder

der Banden, sondern die Geschichten des bedrängten Volkes dort in Stadt

und Land. Die Bedrängung ‹gipfelnd" mit den sechs ermordeten Schülern

in Pec im Dezember 1998 und den fünf ermordeten Polizisten in Pristina

im März 1999. Denn damit, mit dem Einbruch des Terrors in die Städte,

begann erst der deutliche, sichtbare, nachweisbare Krieg im Kosovo.

Natürlich kann man sagen, es sei sinnlos, in den Koflikt in Jugoslawien

einzugreifen, genauso sinnlos, wie wenn man in Kafkas ‹Prozeß"

eingreifen würde. Vielleicht aber ist es das so offenbar Sinnlose, das

einen auf den Weg bringt. Credo, quia absurdum.

 

Die Fragen stellte Willi Winkler.

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