Über GroßEUropa nach Großdeutschland

Von Gerald Oberansmayr. Aus Guernica Dez.98, Zeitschrift der Friedenswerkstatt Linz

"Von nun an zählen nur noch wirtschaftliche Macht und die militärischen Mittel, sie umzusetzen."(1) (Viersterne-General Klaus Naumann, damals Generaltruppeninspektor der deutschen Bundeswehr, 1992).

Seit Anfang der 90´er Jahre werden die Grundsteine jener Außen- und Sicherheitspolitik gelegt, deren Konturen sich heute immer deutlicher herausschälen: die Bereitschaft der reichen Länder des Westens zum weltweiten Interventionismus, die Entwicklung der EU zu einem westeuropäischen Militärblock - und Deutschlands wiederbelebten Drang zum "Platz an der Sonne".

Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Vertrages geriet - mangels Feindbild - auch die Legitimationsgrundlage der NATO in die Krise. Die Antwort hieß NATO-Neu. Das Neue daran ist, daß die NATO in Hinkunft ihre vorrangige Aufgabe nicht in der kollektiven Verteidigung des Bündnisgebietes sondern im Angriff sieht. Potentielles Einsatzgebiet von NATO-Verbänden ist die ganze Welt - nukleare Erstschlagsoption inbegriffen. Im Militärjargon nennt sich das "out of area"-Einsatz.

Militärischer Interventionismus als ...

Als Legitimation für die neu entdeckte militärische Interventionslust des Westens müssen die sogenannten "Schurkenstaaten" wie der Irak oder Jugoslawien herhalten. In internen Strategiepapieren wird prosaischer argumentiert. So wird in einer Studie zum "Überleben der NATO"(2) unumwunden die "Aufrechterhaltung von offenen Handels- und Finanzmärkten" als Grund genannt, um die volle NATO-Interventionsfähigkeit vom Persischen Golf über den Nahen Osten bis zur nordafrikanischen Küste zu erlangen. Brent Scowcroft, Sicherheitsberater von Präsident Bush, hat 1996 die tatsächlichen Beweggründe der USA für den Golfkrieg klargestellt: die Sicherstellung der westlichen Ölversorgung.(3) "Out of area"-Einsätze sind ein Mittel der reichen Nationen, ihre Interessen weltweit direkt durchzusetzen und die wachsende Ungleichheit der globalen Verteilung festzuschreiben.

... Knüppel zur Aufrechterhaltung der globalen Ungleichheit

Die UNO hat berechnet, daß das reichste Fünftel der Menschheit 1960 30 mal soviel verdiente wie das ärmste Fünftel. Heute verdienen die wohlhabenden 20 Prozent 61 mal soviel wie die unteren 20 Prozent. Die Vermögen der weltweit 358 Dollarmilliardäre entsprechen dem Gesamteinkommen der 2,3 Milliarden Einwohner der ärmsten Länder der Welt. Ein paar hundert Superreiche wiegen fast die Hälfte der Menschheit auf. In den vergangenen 15 Jahren hat die Rezession in rund hundert Länder 1,6 Milliarden Menschen verarmen lassen. Betroffen waren vor allem Schwarzafrika, die arabische Welt, Lateinamerika und die frühere Sowjetunion. In Rußland sind etwa seit 1989 die Reallöhne um 40 Prozent zurückgegangen. Aus den verzweifelten ideologischen Reflexen der Selbstbehauptung, mit denen die verarmten Länder auf die Dominanz des Westen reagieren, z. B. der Islamismus im Nahen Osten, werden die Feindbilder der Zukunft und die Anlässe für neue Militärschläge kreiert.

"Schicksalsgemeinschaft Europa"

Europa sei zwar wirtschaftlich ein Riese, aber politisch und militärisch ein Zwerg, bescheinigte der damalige Kommissionspräsident Jaques Delors Anfang der 90´er Jahre der EG. Eifersüchtig registrierten die europäischen Staatsmänner und Militärs, daß Europa im Golfkrieg bestenfalls zum Hilfssheriff der USA taugte. Seither wird eifrig daran gearbeitet, die EU aus dem Schatten der USA herauszulösen und auch politisch und militärisch zum Riesen zu machen. Im Bericht des Sprechers des außenpolitischen Ausschusses des Europäischen Parlaments, Leo Tindeman, wird martialisch die "Schicksalsgemeinschaft Europa" beschworen, die "stärkste Wirtschaftsmacht" der Welt, die nicht umhin komme, "zugleich unter Anwendung von militärischem Druck eine wirksame Außenpolitik zu betreiben".(4) Im EU-Vertrag von Amsterdam (1997) wird die Marschroute Richtung Militärmacht festgelegt:
· die "schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik"
· Die Westeuropäische Union (WEU), der militärische Arm der EU, soll auf Perspektive mit der EU verschmolzen werden.
· Aufbau einer gemeinsamen westeuropäischen Rüstungsindustrie.
· Freibrief für weltweite "Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung". Europa steht ein Aufrüstungsschub bevor. Der neue deutsche Verteidigungsminister Scharping forderte auf der jüngsten Tagung der WEU eine "wettbewerbsfähige, konsolidierte, europäische Rüstungsindustrie"(5), die mit
den USA mithalten könne. Der Ausbau einer EU-Rüstungsagentur mit Sitz in Bonn soll den Waffenschmieden wieder Hochkonjunktur verschaffen. Über eine halbe Billion (!) Schilling wird bereits in die Produktion des Jagdkampfflugzeugs "Eurofighters 2000" investiert. Die EU- und NATO-Osterweiterung sollen lukrative neue Absatzgebiete sichern.

"Sanfter" deutscher Imperialismus

Im Windschatten der EU-Militarisierung knüpft das vereinigte Deutschland Schritt für Schritt an alte Hegemonialzielen an. 1992 wurde in den Verteidigungspolitischen Richtlinien als Aufgabe der deutschen Bundeswehr "die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen in aller Welt" definiert.(6) Der alte deutsche Außenminister Kinkel machte bereits 1993 klar, daß Deutschland es nun ein drittes Mal versuchten möchte: "Nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potential entspricht.... Unsere Bürger haben begriffen, daß die Zeit unseres Ausnahmezustandes vorbei ist."(7) Und auch Joschka Fischer wußte bereits 1996, was gefordert ist, wenn man einmal neuer Außenminister werden will: Deutschland sollte "jetzt, nachdem es friedlich und zivil geworden ist, all das, was ihm Europa, ja die Welt in zwei großen Kriegen erfolgreich verwehrt hat, nämlich eine Art ?sanfter Hegemonie' über Europa" bekommen, eine Übermacht, die ihm aufgrund "seiner Größe, seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Lage" auch zustehe.(8)

Ethnische Parzellierung Europas - Deutschlands neuer Drang nach Osten

Die neue alte deutsche Außenpolitik wurde am Beispiel des ehemaligen Jugoslawien exemplarisch vorexerziert. Deutschland benutzte 1991 die Verhandlungen um die Währungsunion, um innerhalb der EU die vorzeitige Anerkennung von Slowenien, Kroatien und Bosnien durchzupeitschen, wohlwissend, daß ohne eine Klärung der Minderheitenfrage die Sezession zum Krieg führen mußte. Heute ist Deutschland unbestrittene wirtschaftliche und politische Hegemonialmacht in den abgespaltenen Republiken.

Das Muster ist offensichtlich. Unter dem Vorwand der "ethnischen Selbstbestimmung" wird das Feuer der Sezession geschürt, um altbekannte Ziele deutscher Außenpolitik zu realisieren: Expanison durch Zerlegen der europäischen Nationen in Regionen und ethnisch definierte Territorialparzellen.(9) Das Konzept vom "Europa der Regionen" läuft darauf hinaus, die kleinen Nationalstaaten zugunsten der ökonomischen Herrschaft des größten - Deutschlands - aufzulösen.

Auf den Spuren von "Barbarossa"

"Der Osten ist als Aktionsraum für die deutsche Außenpolitik zurückgekehrt" (10), heißt es 1994 im Strategiepapier der CDU-CSU-Fraktionen zur Europapolitik. In einer Studie der "Forschungsgruppe Europa" des "Centrums für angewandte Politikforschung" (CAP), eines u. a. von der deutschen Bundesregierung und deutschen Großbanken finanzierten Politikinstituts, wird offen die Revision von Grenzen in Osteuropa und Rußland eingefordert: "Gerechtfertigte Forderungen nach ethnischen Grenzrevisionen (sollen) rechtzeitig erkannt, sorgfältig geprüft und gegebenenfalls unterstützt werden."(11) Die Aufzählung derjenigen Gebiete, wo "nationalstaatliche Grenzrevisionen in Betracht" kommen, um die "ethnisch-kulturelle Identität" wiederherzustellen, führt uns auf die Spur des "Unternehmens Barbarossa": · Endgültige Zerlegung Jugoslawiens: der Kosovo sowie Teile Mazedoniens und Montenegros müßten an Albanien abgetreten werden
· Sezession des südlichen Bessarabiens und der Nordbukowina von der Ukraine und Angliederung an Rumänien
· Revision der Grenzen Ungarns gegenüber Rumänien, der Slowakei und Serbien
· Grenzrevsion zwischen Armenien und Aserbeidschan
· Grenzverschiebungen und Sezessionen im südlichen Kaukasus (Rußland, Georgien, Tschetschenien, Inguschetien),...
In den Schubladen deutscher Politiker liegen offensichtlich Pläne zur ethnischen Neuordnung des europäischen Ostens. Krieg inbegriffen: Sollten nämlich friedliche Verhandlungen nicht fruchten, kann die "Selbstbestimmung
auch gewaltsam durchgesetzt werden". Aufforderungen zur militärischen Intervention lassen sich organisieren. Deutschland steht bereit. Denn die deutschen Eliten verstand es in den 90´er Jahren vortrefflich, die - selbst geschürten - Konflikte am Balkan zu instrumentalisieren, um außenpolitisch die letzten Hemmungen abzuschütteln und innenpolitisch einen bellizistischen Burgfrieden herzustellen. In atemberaubendem Tempo wechselten die SPD-Abgeordneten und ein Gutteil der Grünen Bundestags-Fraktion - die Beschlüsse der eigenen Partei ignorierend - ins Lager der Bellizisten. Mitte Oktober 1998 wurde mit großer Mehrheit im deutschen Bundestag beschlossen, deutsche Truppen im Rahmen der NATO "out-of-area" im Kosovo einzusetzen - auch ohne UNO-Mandat. Der Antritt des ersten grünen Außenministers geht einher mit der militärischen Enthemmung der Bundeswehr. Konsterniert über die Linie Joschka Fischers nennt der Friedenssprecher der deutschen Grünen, Ludger Vollmer diesen Kriegsermächtigungsbeschluß "einen Präzedenzfall, der einer künftigen Selbstmandatierung anderer Staaten Tür und Tor öffnet."(12)

Schleichender Anschluß an Deutschland?

Für Österreich hat diese Entwicklung eine besondere Bedeutung. Zweimal war Österreich in diesem Jahrhundert Opfer und Mittäter großdeutscher Expansionswut. Mit katastrophalen Folgen. Aus diesen Erfahrungen heraus wuchs das antimilitaristische und antifaschistische Selbstverständnis der 2. Republik, wie es in Neutralitätsgesetz und Staatsvertrag festgelegt ist. Ein starker gemeinwirtschaftlicher Sektor stellte die wirtschaftliche Grundlage für eine kleines, paktfreies Österreich dar. Die Europäischen Union erweist sich einmal mehr als Einflugschneise für deutsche Interessen. Kanzler Helmut Kohl 1993 - ein Jahr vor dem österreichischen EU-Beitritt: "Es liege im nationalen Interesse der Bundesrepublik, eine europäische Union zu schaffen, der eines Tages alle deutschsprachigen Nachbarländer angehören würden."(13) Gerade jene politischen und ökonomischen Errungenschaften, die Österreichs Souveränität als Kleinstaat gegenüber großdeutschen Ambitionen sichern, kamen und kommen durch den EU-Beitritt unter die Räder. Verstaatlichte und Gemeinwirtschaft werden mundgerecht für privates - vor allem deutsches - Kapital zerlegt; Neutralität und Staatsvertrag werden systematisch demontiert. Im Juni dieses Jahres hat die österreichische Regierung handstreichartig den Kerngehalt der österreichischen Neutralität - die Nicht-Teilnahme an Kriegen - aus der Verfassung rauskatapuliert. Seit Juni 1998 darf Österreich wieder - Seit´ an Seit´ mit der EU - in Kriege ziehen, weltweit, ohne UNO-Mandat. Die Entscheidung darüber obliegt einzig und allein Kanzler und Außenminister in den - von der Öffentlichkeit abgeschirmten - EU-Gremien. Es paßt in dieses Bild, daß die neuen deutschen Regierung die Abschaffung des Vetorechts in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik anstrebt. Damit hätten Neutrale in der EU endgültig keinen Platz mehr.

In dem Maß, in dem die EU das Selbstverständnis der 2. Republik untergräbt, geraten die österreichischen Eliten in den Bann großdeutscher Ambitionen. Es gibt kaum ein Anliegen deutscher Außenpolitik - sei es die Zerschlagung Jugoslawiens, das militärische Eingreifen im Kosovo, die Rücknahme der Benes-Dekrete in Tschechien oder das Vorantreiben der EU-Osterweiterung - das nicht vehemente Fürsprecher bei Regierungsmitgliedern oder Bundespräsident finden würde. Unter der Hand wird schon mal ausgeplaudert, daß man in den EU-Gremien ohnehin immer mit den Deutschen abstimmt.(14)

Alternativen sind möglich: Kampf um Souveränität, weltoffene Allianzen und neutrale Zonen

Österreichs Weg nach Brüssel könnte rasch in Berlin enden. Wer dies verhindern will, muß um die Verteidigung der österreichischen Souveränität und ihres durch Antifaschismus und Antimilitarismus geprägten Verfassungsauftrages ringen. Nur auf dieser Grundlage ist es wieder möglich, aus der Satellitenrolle gegenüber Deutschland auszubrechen und nach weltoffenen Allianzen in Europa und der Welt zu suchen. Es gibt Alternativen: z. b. Allianzen mit neutralen und blockfreien Staaten wie Schweiz, Schweden, Finnland bzw. mit Ländern, die - wie Dänemark - nicht die volle EU-Integration mitgegangen sind. Eine aktive Neutralitätspolitik ermöglicht eine verstärkte Offenheit gegenüber den Nicht-EU-Mitgliedsländern in Nord- bzw. Süd-Osteuropa und im nördlichen Afrika. Neutralität, d. h. die Selbstverpflichtung zur Nicht-Teilnahme an Kriegen, ist die Voraussetzung für eine glaubwürdige Friedenspolitik. Die Ausweitung neutraler, demilitarisierter Zonen in Europa wäre ein wichtiger Beitrag, großEUropäischen und großdeutschen Großmachtambitionen entgegenzutreten. Die Alternative zum Import des Militarismus ist der Export der Neutralität.


Anmerkungen:
1) Spiegel 15/1992
2) Ronald D. Asmus/Richard : Kugler/Stephen F. Larrabee: What Will NATO Enlargement Cost? In Survival, 38/3, Autumn 1996, pp. 5-26; zit. nach Georg Schöfbänker, Die NATO-Osterweiterung - Der Beginn einer neuen Vorkriegszeit?,
in: Friedensbericht 1997 - Die Zukunft Südosteuropas, Hg. Österr. Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, Stadtschlaining, 1997
3) Neue Züricher Zeitung, 5./6. 10. 1996, S. 4
4) Bericht des außenpolitischen Ausschusses des Europäischen Parlaments, 1996
5) Süddeutsche Zeitung, 17. 11. 98, S. 7
6) Verteidigungspolitische Richtlinie für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, Bonn 26. 11. 1992
7) Bundesaußeniminister Klaus Kinkel, 1993, zit. nach "Von Krieg zu Krieg", S. 59
8) Zit. nach Christian Schmidt, Wir sind die Wahnsinnigen, München 1998, S. 299
9) Sh. Walter von Goldendach, Hans Rüdiger Minow, Von Krieg zu Krieg - Die
deutsche Außenpolitik und die ethnische Parezellierung Europas, Berlin 1997
10) Schäuble - Lamers, Strategiepapier der CDU-CSU-Fraktionen zur Europapolitik vom 1. 9. 1994
11) Georg Brunner, Gutachten über Nationalitätenprobleme und
Minderheitenkonflikte in Osteuropa. Im Auftrag des Centrums für angewandte
Politikforschung, Forschungsgruppe Europa, 1996, zit. nach "Von Krieg zu Krieg", S. 200
12) Berliner Zeitung, 17./18. 10. 1998, S. 2
13) Neue Züricher Zeitung, 7. 1. 1993
14) Sh. J. Voggenhuber, in: Standard, 24. 10. 1998