80 Tage, die die Welt erschütterten

Präzedenzfall für die neue Welt(un)ordnung? Eine Bilanz des Nato-Krieges gegen Jugoslawien.

80 Tage dauerte der Nato-Bombenkrieg gegen Jugoslawien. Die Nato läßt sich nun als Sieger feiern. Jan Oberg, der Leiter des schwedischen Friedens- und Zukunftsforschungsinstitutes, meint dazu: "Diese autoritäre NATO-Aktion bedeutet nicht gutes für die Zukunft und für den Frieden. Die gegenwärtigen und zukünftigen Kosten dieser Politik sind nicht zu akzeptieren. Unter diesen Umständen kann nicht von "Frieden" gesprochen werden." Was ist die Bilanz von 77 Tagen Nato-Krieg? Welcher "Frieden" konnte erreicht werden?

Verdreiundreißigfachung der täglichen Flüchtlingszahlen

Seit dem 24. März, dem Tag, an dem die Nato ihren Angriffkrig begonnen hat, ist die Anzahl der Flüchtlinge von rund 50.000 auf 800.000 angestiegen. Pro Tag hat sich die Zahl der Flüchtlinge seit den Nato-Bombardements verdreiundreißigfacht. Aufgrund des Nato-Angriffs wurden die OSZE-Beobachter und die humanitären Hilfsorganisationen abgezogen, die zuvor für einen - leidlichen - Schutz der Zivilbevölkerung sorgen konnten. Die Vertreibungen und Ermordungen sind durch nichts zu rechtfertigen, sie sind aber in dieser Dimension eine unmittelbare Folge der NATO-Aggression.

Mehr als dreißig Mal soviele Todesopfer pro Tag

Laut Bericht der OSZE gab es im Kosovo in der Zeit vor dem Beginn des Nato-Krieges - also seit Beginn 1998 bis zum 24. März 1999 - rund 2.000 Tote, großteils Opfer der Kämpfe zwischen jugoslawischen Einheiten und der UCK. Laut Schätzungen des schwedischen Friedens- und Zukunftsforschungsinstitutes ist die Zahl der Todesopfer seit dem 24. März auf rund 15.000, also das mehr als siebenfache, angestiegen. Pro Tag ist die Zahl der Toten um mehr als das dreißigfache angestiegen (Opfer der Bombardierungen, Opfer der Vertreibungen). Ganz zu schweigen von den längerfristigen Opfern durch erhöhte Krebsraten, Kinder- und Säuglings-sterblichkeit, Zerstörung des Gesundheitssystems, Vergiftung der Umwelt, usw.

Anstachelung des ethnischen Hasses

Die Geschichte des Konfliktes zwischen Kosovo-Albanern und SerbInnen ist lange. Die repressive Politik der serbischen Führung gegenüber den Kosovo-AlbanerInnen (Aufhebung der Autonomie des Kosovo Einde der 80´er Jahre), trägt dafür eine große Verantwortung. Tatsache aber ist, dass die jugoslawische und serbische Führung bei den Gesprächen in Rambouilett bereits bereit war, einer umfassenden Autonomie des Kosovo unter internationaler Aufsicht (UNO, OSZE) zuzustimmen. Doch der Westen forderte die Besetzung des gesamten jugoslawischen Territoriums durch Nato-Truppen. Für jede Regierung dieser Welt wäre diese Forderung unannehmbar gewesen. Der Westen wollte nicht die Sicherung der Menschenrechte der Kosovo-AlbanerInnen, der Westen wollte den Krieg - wohlwissend, dass die Bombardements den ethnischen Hass traumatisch anstacheln und die Kosovo-AlbanerInnen zum Freiwild serbischer Paramilitärs machen würden. Die Nato-Allianz, vor allem Deutschland, wollten den Krieg, um ihre Politik der ethnischen Zerstückelung Jugoslawiens, wie sie bereits in Slowenien, Kroatien und Bosnien mit blutiger Konsequenz betrieben wurde, im Kosovo fortzusetzen.

Über diese Strategie des "Teile und Herrsche" wird die Kolonialiserung des Süd-Ostens Europas vorangetrieben. Gazmend Pula, Präsident des Kosovo Helsinki Kommitees für Menschenrechte, meinte dazu unlängst in einem Interview mit dem französischen Wochenmagazin "Marianne": "Ich hasse es, mitansehen zu müssen, dass wir, die Albaner, den Preis dafür zahlen, damit die NATO ihre Macht absichert."

Radioaktive Verseuchung des Kosovo

Hauptopfer des Krieges sind jene, denen zu helfen vorgebliches Ziel der Nato-Angriffe war: die Zivilbevölkerung. Durch den Einsatz von Munition mit abgereicherten Uran sind große Teile des Kosovo auf Generationen radioaktiv verseucht. Bei der Detonation dieser Urangeschosse wird radioatives Aerosol frei. Radioaktives Aerosol kann über hunderte Kilometer mit dem Wind verbreitet werden und stellt eine enorme Krebsgefahr dar, die neben der Atemluft auch über die Nahrungskette aufgenommen werden kann. Die Halbwertszeit beträgt mehrere Millionen Jahre. Dieselbe Munition wurde bereits Anfang der 90´er Jahre im Golfkrieg gegen den Irak verwendet. Im Südirak haben Krebs- und Leukämieerkrankungen bei Kindern und die Mißbildungen bei Neugeborenen mittlerweile eine Rate erreicht, die den Werten in Japan nach Hiroshima entspricht. Laut US-Veteranenorganisaitonen sind diese Uran-Geschosse verantwortlich für das sog. "Goflkriegssyndrom", das sind schwere Nervenerkrankungen, die bei 10.000 en US-Soldaten nach dem Einsatz im Golfkrieg aufgetreten sind. Der Einsatz von uranhältiger Munition ist von der UN-Menschenrechtskommission verurteilt worden.

Terror gegen Zivilbevölkerung

Viele Tausend Zivilisten wurden Opfer des Bombenkrieges. Durch Nato-Raketen wurden Krankenhäuser, Wohnviertel, Fabriken, Brücken, Züge und Busse, Schulen, Rundfunkstationen wegrasiert. Selbst hunderte Flüchtlinge aus dem Kosovo starben im Bombenhagel. Besonders abscheulich ist der Einsatz der von der UN geächteten Cluster-Bomben, die aufgrund der verzögerten Detonation die Wirkung von Sprengfallen aufweisen. Riesige Minenfelder werden noch jahrelang die Zivilbevölkerung im Kosovo terrorisieren.

Chemische Kriegsführung

Die jugoslawische Zivilbevölkerung ist Opfer eine chemischen Kriegsführung geworden. Die gezielte Bombardierung von Chemiefabriken und Erdölraffinerien setzt einen chemischen Giftcocktail frei, der jenen berüchtigten C-Waffen nicht nachsteht, deren Einsatz auf dem Schlachtfeld völkerrechtlich geächtet ist. Eines der schlimmsten chemischen Substanzen ist das "Seveso"-Gilft Dioxin. Meßstationen in Nordgriechenland haben einen 15-fachen Dioxin-Gehlat im Vergleich zur Zeit vor dem Krieg festgestellt. In unmittelbare Nähe der brennenden Erdölraffinerie von Pancevo wurde die Überschreitung der erlaubten Werte um das 7.000-fache (!) festgestellt. Mit tausenden Opfern muss in unmittelbarer Nähe dieser Katastrophengebiete gerechnet werden.

Ökologische Katastrophen

Durch die wiederholten Bombardierungen von Raffinierien in Jugoslawien bildeten sich auf der Donau Ölteppiche von riesigen Ausmaßen (bis zu 24 Kilometer lang). Damit wird nicht nur eine einzigartige Naturlandschaft im Donaudelta auf Jahre ökologisch zerstört. Unkalkulierbar waren bzw. sind die Risiken für die bulgarischzen Atomanlagen. Ihr Kühlwasser kommt direkt aus der Donau. Wenn das Öl in die Pumpen kommt, kann das ganze Kühlsystem des Reaktors zusammenbrechen und eine Kernschmelze auslösen.

Wirtschaftlich 100 Jahre zurückgebombt

Durch die gezielte Zerstörung der gesamten wirtschaftlichen Infrastruktur (Erdölraffinerien, Brücken, Großindustrie, Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Verkehrswege, usw.) ist Jugsolawien heute bereits wieder auf den Stand von 1900 zurückgeworfen. Nach vorsichtigen Schätzungen haben die Nato-Bombardements in Jugoslawien volkswirtschaftliche Schäden in der Höhe von 150 Milliarden US-Dollar verursacht. Das entspricht dem 15-fachen jährlichen Volkseinkommen Jugoslawiens und dem 75-fachen Albaniens. 500.000 Menschen haben ihren Arbeitsplätze, zwei Millionen Menschen ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage verloren. Aber auch in den Anrainerstaaten kommt es zu schweren wirtschaftlichen Krisen infolge des Zusammenbruchs der Donauschifffahrt, des Tourismus, des Fischfangs, usw.

Der Krieg als "Geburtshelfer" für Nato-neu und EU-Militärunion

Die Nato führte einen völkerrechtswidrigen Krieg, weil es kein Mandat der UNO gab. Die militärisch und wirtschaftlich stärksten Länder der Welt haben sich selbst das Mandat erteilt, Krieg zu führen. Die Botschaft ist klar: wer in Hinkunft nicht bereit ist, sich den stärksten Staaten der Welt zu unterwerfen, musss mit Krieg rechnen. Der Angriffskrieg gegen Jugoslawien stellt den blutigen "Geburtshelfer" für Nato-neu und die EU-Militärunion dar. Am Beginn des 2. Monats des Krieges erteilte sich die "neue" Nato in Washington einen globalen Interventionsauftrag - unabhängig von den Vereinten Nationen. Am Beginn des 3. Kriegsmonats mutierte die EU beim Kölner Gipfel endgütlig zur Militärunion: der zukünftige Mr. GASP Nato-Generalsekretär Solana kann in Hinkunft die EU in weltweite Militäreinsätze führen, ebenfalls ohne auf die UNO Rücksicht nehmen zu müssen. Der Krieg gegen Jugoslawien bedeutet damit einen Rückfall in das internationale Faustrecht. Jede Bombe, jede Raketete tötete nicht nur Menschen, zerstörte nicht nur Infrastruktur, sie schwächte auch die Vereinten Nationen und die Hoffnung auf eine Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Der Krieg wurde von Nato und EU benutzt, um einen Präzedenzfall für die neue Welt(un)ordnung zu schaffen. In den Beziehungen zu Rußland ist wieder Eiszeit eingekehrt, denn die russische Führung weiß nur zu gut, dass Rußland selbst zunehmend ins Fadenkreuz westlicher Militärstrategien gerät. Die gezielt betriebene "Ethnisierung des Sozialen" - Verarmung und sozialer Abstieg werden in ethnischen Hass und nationalistischen Wahn umgelenkt - hat das multiethnische Jugoslawien zerstört. In den Schubladen deutscher Eliten liegen bereits Pläne zur ethnischen Filletierung der GUS-Staaten.

Anti-Kriegsarbeit muss verstärkt weitergehen

Die Bilanz des Nato-Krieges ist verheerend: mehr Flüchtlinge als je zuvor, mehr Hass zwischen den Volksgruppen als je zuvor, mehr Tote als je zuvor, mehr ökologische und wirtschaftliche Zerstörung als je zuvor. Nach 77 Tages des Krieges wissen wir, dass die Bezeichnung dieses Krieges als "humanitäre Aktion" blanker Zynismus ist. Diejenigen, denen geholfen werden sollte - die Zivilbevölkerung - sie sind die Hauptopfer dieses Krieges. Aber auch die Gewinner sind klar: jene Kreise in den USA und der EU, die das Recht des Stärkeren anstelle des Völkerrechts durchsetzen wollen, um in Hinkunft rücksichtslos ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen durchsetzen zu können. Gewinner ist natürlich auch die Rüstungsindustrie, die sich nicht nur über satte Dividenden, sondern auch über volle Auftragsbücher freuen darf.

Der Krieg in Jugoslawien droht der Beginn einer Kette heißer Kriege gewesen zu sein, mit der USA und EU ihre Weltmachtsansprüche durchsetzen wollen. Die Anti-Kriegsarbeit muss jetzt verstärkt weitergehen.

 

FORDERUNGEN:

Sofortmaßnahmen für den Kosovo und die BR Jugoslawien

  • Abzug der Truppen von Nato-Ländern aus dem Kosovo. Ersetzen durch UNO-Kontingente aus Ländern, die nicht am Krieg gegen Jugoslawien beteiligt waren. Völlig unvorstellbar und unvereinbar mit der Neutralität ist die Beteiligung österreichischer Truppen im Kosovo unter Nato-Kommando.
  • Sicherstellung und Unterstützung der Rückkehr aller Flüchtlinge in den Kosovo.
  • Sofortige Entwaffnung der UCK und Entminung des Kosovo.
  • Wiederaufbauhilfe der Zerstörerländer an Jugoslawien und alle anderen vom Krieg im Mitleidenschaft gezogenen Staaten. Auch humanitäre Hilfe darf nicht an ethnischen grenzen halt machen.
  • Beendigung der wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber der BR Jugoslawien. Entschuldung der Länder der Balkan-Region.
  • Sofortige Entsendung von ExpertInnen-Teams zur Analyse und Eindämmung der dramatischen Bedrohungen für Mensch und Natur, wie sie durch die ökologische Kriegsführung der verursacht wurden (radioaktive und chemische Vergiftung des Trinkwassers, des Bodens, der Luft und der Nahrungskette)
  • Einleitung und Unterstützung eines zivilgesellschaftlichen Versöhnungsprozesses im Kosovo. Ensendung von geschulten zivilen Friedensdienern zur nicht-militärischen Konfliktbearbeitung vor Ort. Unterstützung lokaler Friedensgruppen mit Kommunikationsinfrastruktur, Förderung lokaler Friedenskonferenzen und ökumenischer Friedensarbeit.
  • Die Politik der ethnischen Parzellierung Jugoslawiens (vor allem die Unabhängigkeit und die ethnische Säuberung von Kroatien sowie die ethnische Aufteilung Bosniens), die auf allen seiten immer wieder nur zu Vertreibungen und Greueltat geführt hat, darf nicht im Kosovo wiederholt werden. Eine Fortsetzung dieses Prozesses würde zu unabsehbaren Risiken für den gesamten Südosten Europas führen. Ziel darf daher nicht die Sezession, sondern die weitgehende Autonomie für den Kosovo im Rahmen eines multiethnisches Jugoslawien sein. Dieser Prozeß braucht eine Überwachung und Begleitung durch UNO und OSZE.

Sicherung der Menschenrechte für alle Seiten - Für eine multiethnische jugoslawische Konföderation

  • 1995 wurden rund 650.000 SerbInnen aus der Krajina in Kroatien vertrieben. So wie für die Kosovo-AlbanerInnen Rückkehrmöglichkeiten, Menschenrechte und Autonomie innerhalb der BR Jugoslawiens gesichert werden müssen, so muss dies auch für die Krajina-SerbInnen in Kroatien gelten.
  • Die ethnische Zerlegung Jugoslawiens hat die staatlichen Zerfallsprodukt wirtschaftlich und politisch zunehmend in den Status von westlichen "Bananenrepubliken" gedrängt. Es gilt daher, in allen Staaten und in allen Volksgruppen des ehemaligen Jugoslawiens jene politischen Kräfte zu unterstützen, die den Aufbau einer demokratischen, multiethnischen jugoslawischen Konföderation anstreben. Ansonsten droht dem Balkan ein "lateinamerikanisches" Schicksal: Vorhof großdeutschen Politik, EU-Aufmarschgebiet für weitere Ostexpansionen und billiges Arbeitskräfte und Rohstoffreservoir für westliche Großkonzerne.

Rückkehr zu einer aktiven Neutralitätspolitik - keine Teilnahme an der EU-Militärunion

  • Österreich muss wieder zur einer aktiven Neutralitätspolitik zurückfinden. Österreich hat bisher eine miserable Rolle in Jugoslawien gespielt, die von der Mock´schen Anerkennungshysterie Anfang der 90´er Jahre bis zur bedingungslosen Unterstützung des Nato-Krieges durch Bundeskanzler Klima im EU-Ministerrat reicht. Aktive Neutralitätspolitik muss sich vor allem in der Konfliktvorbeugung, in der glaubwürdigen Vermittlungsarbeit zwischen Konfliktparteien und im entschiedenen Eintreten für die Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen bewähren.
  • Abschaffung des neutralitätswidrigen "Kriegsführungsartikels" 23 f in der österreichischen Bundesverfassung. 1998 wurde in die österreichische Bundesverfassung ein Artikel eingeführt, der es in Zukunft Österreich ermöglichen soll, an kriegen der EU - weltweit, auch ohne UN-Mandat - teilzunehmen. Damit könnt Österreich bald ebenfalls wieder direkt in kriegerische Handlungen wie jetztin Jugoslawien verwickelt sein. Dieser "Kriegsführungsartikel" muss aus der Verfassung des neutralen Österreich wieder raus.
  • Suspendierung jener Teile des EU-Vertrages von Amsterdam sowie der Beschlüsse des EU-Gipfels in Köln, die den Grundstein für eine EU-Militärunion darstellen: Unterordnung unter die GASP, Verschmelzung von WEU und EU, Petersberg Aufgaben, Verpflichtung zu verstärkten Rüstungsanstrengungen und dem Aufbau einer gemeinsamen westeuropäischen Rüstungsindustrie.
  • Ausstieg aus der Nato-"Partnerschaft für den Frieden".