Ingrid Schöndorfer
Russische Literatur der Moderne
Das Glas hat sich bis zum Rand mit schwarzer Flüssigkeit gefüllt
All jene, die es bis jetzt verabsäumt haben (oder gescheitert sind), sich der russischen Seele zu nähern, möchte ich mit einem kleinen Einblick in die russ. Literatur der Moderne verführen, sich in den Fluß der slawischen Melancholie zu stürzen, und sich auf seinen Wellen treiben zu lassen.
Vor Beginn des 20. Jh. galt in Rußlands Literatur der Satz: "Der Mensch ist gut, die Umstände sind schlecht!" (Turgenjew in: "Väter und Söhne")
Nur allzugut verständlich, in Anbetracht der politischen Realität, die die Literatur zu einer "Philosophie der Hoffnung" führte. Einzigartige psychologische Porträts und religiöse Suche (Dostojewski) gingen der Frage nach "Wie bleibt man unter unerträglichen extremen Bedingungen Mensch, ohne sich selbst und den anderen zu verraten?" Mit der russ. Avantgarde (bildende Kunst und Literatur) setzte zu Beginn des 20. Jh. ein ernsthafter Bruch in der Kultur ein. Im Roman "Der kleine Dämon" (von Sologub Fedor) taucht das Böse als Grundelement der menschlichen Seele auf.
Der schreibwütige Unsinn der Schriftsteller der Stalinzeit, hat für Sologub keine Lorbeeren übrig, denn dieser Zweifel am Humanismus hatte in der bestehenden "Literatur der Lüge" keinen Platz. Die "Literaten" des sozialistischen Realismus zeigten uns auch schließlich in voller Gänze, wozu das Subjekt des Humanismus fähig ist (Ausgeburten v. Wahnvorstellungen sondergleichen).
Die Bemühungen einer ganzen Dichtergeneration in den 60er-Jahren, die Literatur zu den wahren humanistischen Normen zurückzuführen, erwies sich am Ende der 80er-Jahre als gescheitert.
Anstelle der Literatur trat Sprachlosigkeit. Aus dieser Verkrüppelung entwickelte sich die "Andere Literatur": eine Mischung aus Gogol, Dekadenz der Jahrhundertwende, Surrealismus, Beatles, Popart und westl. Postmoderne.
Die Zerrissenheit der russ. Kultur mündete in einem großen Zweifel an grundsätzlich Allem. Die Macht des Bösen und der Zerfall wurden zur Methapher des Lebens.
Mit dekonstruktivstem Erzählen, obszöner Sprache, Gewalt und Kannibalismus, artikulierte man die unausweichlige Lage des Menschen, und seine Verdammnis, in den Abgrund zu stürzen (die Tragik des Freien Falles, in dem sich auch die russ. Gegenwartsliteratur befindet).
Literaturempfehlungen:
Juri Mamlejew
"Der Mörder aus dem Nichts"
"Die letzte Komödie" (Residenz Vlg.)
Der eigentliche Held ist der Tod. Was am Ende übrigbleibt, ist das irre "Gewinsel" seiner Figuren, die Zuflucht suchen vor ihren morbiden Zwangsvorstellungen; Dreck, Perversion, Satanismus und Mystizismus, absurd gepaart mit schwärzestem Humor, als Antwort auf das Unvermögen und den Unwillen, die Welt zu erklären.
Vladimir Sorokin
"Die Schlange"
"Der Obelisk"
(Haffmans Vlg.)
Sorokin wird als "führendes Monster der neuen russ. Literatur" bezeichnet.
Seine Texte ähneln Fleisch, das vor Würmern wimmelt. Er gehört zu jener Dichtergruppe, die mit skandalösen Happenings und Untergrundvernissagen von Ironie, Dekadenz und allen Formen von Gewalt, läßt er noch Platz für Belustigung, wenn seine Helden, fast comicartig, im Sadofieber mit der Politik verschmelzen.
"Das Böse ist übervoll - das Glas hat sich bis zum Rand mit schwarzer Flüssigkeit gefüllt!"
Vorwärts die Zeit! Denn sie ist reif, russische Literatur zu genießen!