Wir schreiben das Jahr 1996. Der gesamte Cyberspace wird von dunklen Mächten der übelsten Sorte, auch Provider genannt, beherrscht.
Der ganze Cyberspace? Nein, eine kleines Dörfchen mitten in Oberösterreich hat sich zum Ziel gesetzt, auch noch Nachbars Kuh mit dem Raiffeisen-Lagerhaus zu vernetzen, und bringt das Dorf in eine Art digitalen Goldrausch, der so Stilblüten wie das AEC oder das Art&Tech Inst. nach sich zieht. Jüngstes Mitglied in der Reihe "Linz ist Digital" ist ein Projekt namens Freemail.
Freemail ermöglicht jedem, sich seine eigene Email-Adresse anzulegen und weltweit mit allen anderen Post (sprich Email) auszutauschen und das zu einem unglaublichen Preis - nämlich: nix.
Na ja, fast kostenlos. Die Telefongebühren bleiben "natürlich". Aber noch mal, Freemail ist zu vergleichen mit einem herkömmlichen Internetprovider, bis auf den Unterschied, daß es gratis ist und nur Email als Service angeboten wird. Freemail wird umso unglaublicher, wenn man weiß, daß alles ohne staatliche Subventionen oder Unterstützung der Uni Linz gemacht wird.
Mitmachen bei Freemail kann jeder, der einen Computer, ein Modem und das notwendige Wissen über Modems, Transferprotokolle, Portsettings, Systemkonfigurationen, TCP/IP, Slip, Baud, XOFF, OR, Netmask, IP Adressen, Unix, Displaytypes, IRQ´s, DMA Kanäle, und sonstigen Schrott besitzt. Denn das System ist erst im Anlaufen, und da es gratis ist, kann man auch keinen Fullservice erwarten. Mit 1. Jänner 96 öffnet Freemail seine Leitungen für die Linzer Bevölkerung, unter drei Telefonnummern ist das System 24 Stunden zu erreichen. Wie gesagt, man braucht keine Anmeldung und kann sich sofort ins System einloggen. Momentane Zugangsarten beschränken sich auf "Slip" und einen ASCII Webbrowser namens "Lynx". Lynx ermöglicht sich in das System mittels einem einfachen Terminalprogrammes, anstelle des kompliziertem Slipmodes, einzuloggen und sich so seine eigene Adresse anzulegen, denn wer mit dem Wort "Slip" nichts anfangen kann, der sollte auch gleich erst gar nicht probieren, es zu installieren. Wie auch immer sie sich einloggen, der notwendige Benutzername lautet "GUEST", Paßwort gibt es bei GUEST keines. Sie können sich dann mittels LYNX eine eigene Email-Adresse anlegen und sofort zu schreiben beginnen. Sie erhalten eine eigene Emailadresse und ein Paßwort, das Ihnen in Zukunft den Zugriff auf ihre Post sichert.
Eingefallen ist das ganze Kurt Siegl vom Risc Institut Hagenberg, angeblich weil er nicht schlafen konnte. Was "nicht schlafen" und "Email" miteinander zu tun haben, muß er mir noch genauer erläutern. Er muß da auch so eine Art Vision gehabt haben, in Richtung "Freie Menschen" und "Internet für jeden und alle", ein seltener Anfall von Menschlichkeit auf jeden Fall, den man bei einem aktiven Politiker gar nicht vermutet.
Doch die Idee alleine reicht nicht, Computer kosten Geld, und Telekommunikation kostet Geld, und die Idee vom Freien Menschen bringt auch keine Kohle. Jetzt kommt die Wirtschaft ins Spiel, in Form der Firma Licon in Linz, die sich in den Kopf gesetzt hat allen Linzern und -Innen den Spaß zu finanzieren. Herzlichen Dank.
Aber wer schenkt heutzutage noch jemanden etwas ohne Gegenleistung? Des Rätsels Lösung ist einfach, der Anschluß ist gratis aber von Service hat keiner was gesagt. Das Knowhow, um ins Internet zu gelangen, läßt man sich bezahlen, muß man aber nicht in Anspruch nehmen. In erster Linie ist Licon an Firmen als Kunden interessiert, die Bürger profitieren im Schatten dieser Interessen, und es wird gehofft, daß sich Linzer User zu einem Selbsthilfeverband formieren, um sich gegenseitig beim Einstieg ins System zu helfen. Wie kompliziert Hi-tech sein kann, wird jeder, der auf eigene Faust ins Freemailsystem will, feststellen.
Getrennt von alledem ist vielleicht die interessanteste Funktion des Freemailsystems noch zu erwähnen. Es handelt sich dabei um eine Email-Fax Zustellung, die dem System ermöglicht, eingehende Emails als Fax gleich an den Besitzer zu senden. Sobald man eine Email erhält, greift der Server, auf dem die Nachricht einging, zum Telefon und schickt sie einfach als Fax. Wenn man jetzt noch die richtige Software installiert hat, steht der WorldWideCommunication zu Ortsgebühr nicht mehr im Wege.
Einlogen kann man sich unter 0732/651784 od. 651786 od 651791 bis 14.4 Baud.
Weitere Anfragen bitte an Fa. Licon, Hauptstraße 10, 4111 Walding.
Michael Pointner