"Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, Räder, Kolben und Riemen - doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition: Bomben, Schrapnells, Granaten. Wie gerne würden sie auf irgendeinem Schlachtfeld krepieren! Der Name auf einem Kriegerdenkmal ist der Traum ihrer Pubertät." sagt der Lehrer in Ödön von Horváths 1937 erschienem Roman "Jugend ohne Gott" über seine vierzehnjährigen Schüler. In Larry Clarks 1995-Debütfilm hört sich das aus dem Mund von Telly (17) so an: "Wenn man mir das Ficken nimmt, bleibt nichts übrig."
Kindheit & Pubertät waren und sind ein zentrales Thema in der Literatur, im Film: die Romane und Filme werden von Erwachsenen geschrieben, deren Blick auf die nachfolgende Generation mehr oder weniger verzerrt bzw. künstlerisch stilisiert ist.Und doch verweisen diese Werke immer auf den gesellschaftlichen Umgang mit der Konvention "Kindheit". Im November liefen drei Filme an, die interessante Einblicke zulassen:
In "Die Stadt der verlorenen Kinder" kommt es zu einer eigenartigen Umkehrung von Kindheit und Erwachsensein. Das visuell durchgeknallte Gothik-Zuckerlpapierl erzählt die Story des manischen Genies Krank, das zu Träumen nicht fähig ist, und sie deshalb von Kindern stehlen will. Zur Rettung seines eben entführten, kleinen (Adoptiv)Bruders Denrée schließt sich der einfältig-debile Varieté-Strongman One mit einer Gruppe Straßenkindern zusammen. One ist aufgrund seiner Debilität vom psychologischen Status her das einzige Kind; die Kinder agieren in einer erwachsenen, zielgerichteten, autonomen Form, die sie bei weitem älter erscheinen läßt.
Noch mehr Verwirrung in die Dialektik von Erwachsensein / Kindheit bringt die Befreiung Denrées, dessen Träume bereits von Krank angezapft werden: Miette, eines der Straßenkinder, schließt sich ebenfalls an die Traum-Transfermaschine an. Dann sehen wir den kollektiven Traum von Krank, Denrée und Miette: Miette bringt Denrée vor den Schergen Kranks in Sicherheit und sieht sich dann selbst dem glatzköpfigen Traummännlein gegenüber. In einer spektakulären Morphose mutiert das Mädchen zu einer 82jährigen Frau, während parallel dazu der alte Krank immer jünger werdend quasi vor seine Geburt zurückgeschickt wird. Auch die Autoritätsverhältnisse werden dabei umgekehrt, sodaß das altgewordene Mädchen ungefährdet aus dem Traum aussteigt, weil der Kind-Krank ihr nichts mehr anhaben kann. Aufgewacht, ist Miette wieder ein Kind. Die Grenzen verschwimmen: Wenn Miette und One zusammenfinden, ist das wie eine klassische, sehr keusche Love-Story zweier erwachsener Menschen inszeniert, wobei weder Miette (physisch) noch One (psychisch) Erwachsene sind.
"Clueless" und "Kids" zeigen beide, daß Teenager Wörter wie "sozial" und "moralisch" aus ihrem Wortschatz gestrichen haben, gerne herumvögeln, sich immer nach der neuesten Mode kleiden müssen und ihre Körper an allen möglichen Stellen mit Metall durchbohren (und ich meine ausnahmsweise keine Projektile!). Der Unterschied ist: "Clueless" behauptet, das alles ist wunderbar. Das ist Hollywoods Sicht der neuen Brat-Pack Generation von wohlstandsverwahrlosten Biestern, die sich, wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie nachdenken wollen, wenn sie von ihren herumkommandierenden Eltern genug haben - kurz: immer - dem Kaufrausch hingeben. Der Horizont ist eng: Wenn Cher (Alicia Silverstone) aufgefordert wird, ein Kurzreferat darüber zu halten, ob haitianischen Flüchtlingen in den USA Asyl gewährt werden soll oder nicht, redet sie kurzerhand über ihres Vaters Geburtstagsparty. Denn popular - das Gegenteil von clueless - wird man durch geschicktes Verbiegen der Tatsachen, Aufgaben, sozialen Akten ausschließlich zu eigenen Gunsten. Moralität verkommt zum reinen Pragmatismus, wenn man zuerst erklärt: No dope! Und das begründet mit: es hat zur Folge, daß du dich schlecht kleidest und mit Verlierern herumhängst.
Warum die Kids so sind, wie sie sind, wird naturgemäß nach der eindimensionalen Hollywood-Psychologie erklärt: Chers Mutter ist kurz nach ihrer Geburt gestorben, sodaß die Arme allein bei ihrem Rechtsanwalts-Vater aufwächst und sehr früh den ganzen Haushalt schmeißen muß (Ecce: schon wieder eine Form von Kindheitsverlust!). Tja, was für ein Schicksal. So einem Aschenputtel ist natürlich am Schluß die wahre Liebe mit dem sympathischsten weil langweiligsten Boy sicher. Silverstone Sucks!
Larry Clark`s Ansatz bei "Kids" ist diametral anders. Der Film ist auch auf der Produktionsebene die Geschichte einer Obsession: Clark begann schon als Kind seiner Mutter zu helfen, wenn es darum ging, Kinder anderer Leute zu fotografieren. Selber herumstreunender Straßenjugendlicher, hatte er immer eine Kamera dabei, mit der er Kids an den abgefucktesten Stellen der Stadt ablichtete: Strichkinder, Junkies, Dealer, etc. Bereits seine Fotobände sind dokumentarisch / filmisch strukuriert.
Der 19jährige Harmony Korine hat das Drehbuch für Clarks ersten Spielfilm geschrieben. Ja, es ist ein Spielfilm, auch wenn er durch Handkamera und sparsame Verwendung von zusätzlichem Licht wie eine Dokumentation wirkt. In den letzten Jahren gab es immer wieder Filme, die mit ähnlichen Kunstgriffen arbeiteten ("Henry - Portrait of a Serialkiller", "Mann beißt Hund"). Meist lag der Schwerpunkt auf der Schilderung psychotischer Killer und ihrer Gewaltakte. "Kids" aber zeigt, wie eine Gruppe ganz gewöhnlicher amerikanischer Jugendlicher einen Tag mit (Jungfrauen)Ficken, Saufen, Raufen und AIDS-Tests verbringt.
Clark enthält sich jeglichen Kommentars, er erklärt nicht, warum diese Kinder so sind, wie sie sind. Die Kinder in ihrer hochgradigen Verletzbarkeit sind dem Kamerablick so schonunglos ausgesetzt wie ihrem Streetlife. Den ZuseherInnen ein Faustschlag in den Magen oder - gemäß dem Schlußsatz im Film - "Jesus Christ, what happened?"
Erwachsene scheint es in der Realität dieses Films nicht zu geben. Die Kids haben ihre eigenen Territorien, Rituale, Spiele, Ausdrucksweisen: Das Bild ihrer hermetisch von den Erwachsenen abgeschlossenen Welt erinnert mich an eine Raumkapsel, in der sie durch die Zeit fliegen. Biologisch erwachsen, werden sie hinausgeschleudert in einen Weltraum, der sie umbringt, weil sie gesellschaftlich keine Kindheit hatten und deshalb nicht erwachsen werden konnten.
Die Stadt der verlorenen Kinder
(La Cité des enfants perdus)
F 1995, Regie: Jean-Pierre Jeunet & Marc Caro
Clueless - Was sonst? (Clueless)
USA 1995, Regie: Amy Heckerling
Kids (Kids)
USA 1995, Regie: Larry Clark