REPUBLIK DER OPFER

von Erwin Riess , April 95
Als Hitler am 12. März 1938 auf dem Weg nach Linz war, dachte er noch nicht an die vollständige Annexion Österreichs. 28k Jubel an den Linzer Straßen: 12.3.1938, 12 Uhr . Foto: Stadtarchiv Linz

"Als neues EU-Mitglied soll Österreich einmal zuhören und sich mit eigenen Initiativen zurückhalten."
Jacques Delors


17k Trümmer am Volksgarten: 20.9.1945, Foto: Stadtarchiv Linz

33k. You are free now!!. Cartoon: Stevie Gasser

28k KZ Mauthausen nach der Befreiung, Foto vermutlich vom 7.Mai 1945 . Foto: Nationalmuseum Washington

22k Kontrolle am Brückenkopf: Juli 1945. Foto: Stadtarchiv Linz

28k Nix g'wußt: Fotoausstellung vom KZ Mauthausen an der Linzer Landstraße. Foto: Nationalmuseum Washington D.C.

8k ....heimliche Liebe zum Barock....GI's in St. Florian. Foto: Nationalmuseum Washington.D.C.



Der Jubel an den Straßen zerstreute aber Hitlers Befürchtungen, und als er in Linz einzog, war er sich seiner Sache schon so sicher, daß er der schlecht vorbereiteten Wehrmacht befahl, auf dem schnellsten Weg nach Wien vorzustoßen. da aber keinerlei Feindberührung zu verzeichnen war, marschierte die angeschlagene Wehrmacht dennoch in der Hauptstadt ein.

Der "Blumenkrieg" war gewonnen, die "Ostmark" erobert.

1936 wurden in Wien Nationalsozialisten in die Regierung aufgenommen, und am Abend vor dem Einmarsch ernannte der österreichische Bundespräsident Miklas den NSDAP-Innenminister Seyss-Inquart zum Bundeskanzler. Stunden zuvor hatten die österreichischen Nazis schon die Macht in den Landeshauptstädten übernommen. Hitler marschierte also in ein bereits "befreites" Land ein. "Dieses Volk von Dienstboten hat nur das bekommen, was es verdient", notierte der französische Militärattaché

Am 13. März 1938 beschloß der österreichische Ministerrat das Verfassungsgesetz über die Vereinigung mit dem Deutschen Reich. Das Protokoll endet mit den Worten:

1938 befanden sich laut Ernst Hanisch - Autor einer vor kurzem erschienen Studie über Österreich im 20. Jahrhundert - ein Viertel der Wiener Betriebe im Eigentum jüdischer Besitzer, die "Arisierung" hatte also eine nicht zu unterschätzende materielle Dimension, allein in Wien wurden 70.000 Wohnungen geraubt. Die Aussicht auf Beute führte zu einem Sturm auf die Parteilokale, und im Nu waren 700.000 NSDAP- Mitglieder registriert. Widerstand kam hauptsächlich von Kommunisten, allein zwischen 1938 und 1943 wurden in Wien und Niederösterreich 6.000 von ihnen verhaftet, ein großer Teil wurde hingerichtet. Den sozialistischen Widerstand ordnete die Gestapo als "Stammtischaktivität" ein, und der konservative Widerstand überschritt kaum die Schwelle eines geflüsterten "Grüß Gott!".

1,2 Millionen Österreicher wurden zur Wehrmacht eingezogen. 240 von ihnen erreichten den Generalsrang.

In der Wiener Gauleitung war nur eine von achtzehn Positionen mit einem Deutschen besetzt, in der Wiener Gestapo stellten Österreicher achtzig Prozent des Apparats. Die NS-Herrschaft war also auch eine Herrschaft von Österreichern über Österreicher.

Der Krieg hinterließ

der rasch verstaatlicht wurde, um den Zugriff der Sowjetunion auf das ehemalige deutsche Eigentum zu vereiteln.

Die Betriebe wurden von den schätzungsweise 200.000 Gefangenen der ostmärkischen Konzentrationslager - allein das KZ Mauthausen unterhielt 49 Nebenlager - errichtet.

Erlebten die einen das Ende der NS-Herrschaft als die ersehnte Befreiung, war es für die Parteigenossen die Stunde Null, die große Niederlage, der Zusammenbruch. Für die Mehrheit der Österreicher war das Kriegsende der "Umbruch". Den Alliierten gegenüber verfolgte man die Taktik des Hofrates Pechacek aus dem Kabarett "Wiener Werkel":

 

In der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April heißt es:

Wer "macht- und willenlos" einen Großteil der KZ-Mörder stellt, wer einen Eroberungskrieg nur deswegen ablehnt, weil er "aussichtslos" ist, wer niemals die "Bekriegung von Völkern gewollt", wer also nichts Böses "gutzuheißen instand gesetzt war", der ist nicht nur ein bedauernswertes Opfer der Sprache, sondern auch der Geschichte, mit einem Wort ein wahrer Österreicher.

Die Vorsitzenden der konservativen, der sozialistischen und der kommunistischen Partei unterzeichneten die Erklärung, stellten sich also in den Dienst des wahren Österreichers. Und der katholische Publizist Friedrich Heer verkündete dessen Mission:

Diese gemeingefährliche Drohung blieb aber nur Vorsatz, dem zerbombten Land fehlten die Mittel, das grausame Vorhaben in die Tat zu setzen. Erst Jahrzehnte später sollte der wahre Österreicher Alois Mock, Heers Wort eingedenk, als Außenminister mit brennender Fackel durch Jugoslawien laufen, den Ruf unter die südslawischen Völker werfend:

Österreich, das sich mit Aplomb in die Staatenwelt zurückgemeldet hatte, durchforstete seine Geschichte nach Spuren des wahren Österreichers. Das konservative Lager pries die josephinische Aufklärung, denn deren Spuren waren schon zwei Jahre nach Josephs Tod getilgt. Man beschwor das Biedermeier und die Alpen, das förderte den Fremdenverkehr und die Weinwirtschaft. Nicht die Denkmäler, sondern die Idee des Denkmalschutzes wurde zur Apotheose erhoben.

In sentimentalen Stunden gestanden selbst ultramontane Katholiken ihre heimliche Liebe zum barocken Sinnenrausch.

Die Linke pries die josephinische Aufklärung, denn sie war, anders als die französische und englische, ohne Literatur ausgekommen. Und sie beschwor den Österreichmythos, denn er stieß "in der Welt draußen" auf amüsiertes Kopfnicken. Die Pflege des Kulturerbes äußerte sich bei der Linken in verbissener Kunstfeindlichkeit -

In sentimentalen Stunden gestanden auch die Revolutionäre und Sozialreformer ihre heimliche Liebe zum sinnenfrohen Barock.

Österreich als Hitlers erstes Opfer: Diese historische Figur beruft sich auf die Moskauer Deklaration der Allierten Außenminister des Jahres 1943. Verdrängt wurde jedoch der folgende Passus:

Der wahre Österreicher liest nicht gern, er schätzt einfache Botschaften und liebt seine Schriftsteller, sofern sie ihn nicht überfordern. Alexander Lernet-Holenia, Autor des inoffiziellen Regierungsprogramms der Zweiten Republik - "Die Österreicher brauchen nur dort fortzusetzen, wo sie durch Träume eines Irren unterbrochen worden sind" -, erfreute sich hoher Wertschätzung.

Die Zweite Republik kannte keine Sieger, sie kannte nur Opfer:

Die Kommunisten fühlten sich als Opfer, weil sie sich von der Bevölkerung um das Honorar für den Widerstand betrogen glaubten. Die Widerstandskämpfer waren aber im Kampf gegen die Nazi-Herrschaft und nicht im schwärmerischen Streben nach einem wahren Österreichertum gefallen.

Ernst Fischers und Louise Eislers Briefroman über Prinz Eugen, Eva Priesters Geschichte Österreichs und Albert Fuchs' Geistige Strömungen in Österreich beschworen den Österreichmythos, der ohne das Opfertheorem aber nicht zu haben ist, was zur Folge hatte, daß diejenigen, die besonders unter den Nazis gelitten hatten, die Augen vor dem österreichischen Anteil an der NS-Herrschaft niederschlugen.

Die Kommunisten fühlten sich aber auch als Opfer der sowjetischen Befreier, die ein naheliegendes Ziel verfolgten: den Transfer der Maschinenstraßen in die zerstörte Sowjetunion.

Er kannte die österreichische Geschichte - 1913 hatte er im Auftrag Lenins in Wien die Nationalitätenpolitik der Habsburger studiert und dabei auch Karl Renner kennengelernt.

Dieser wahre Österreicher, der für den Fortbestand der Monarchie eingetreten war und den Einmarsch der Deutschen bejubelt hatte, diente sich den Sowjets als Bundeskanzler an, und Stalin ging auf das Angebot ein.

Das Opfertheorem und der Österreichmythos sind auch in der Kabale um Alfred Hrdlicka präsent. Broders Forderung, dessen "Mahnmal gegen Krieg und Faschismus" müsse geschleift werden, zeugt davon, daß es noch Anwärter auf das wahre Österreichertum gibt.

Das hysterische Geheul übertönt die Fragen nach der ästhetischen und politischen Dimension einer Skulpturengruppe, unter der Hunderte von Bombenopfern liegen. Hinter der Oper und neben dem Hotel Sacher wird aller gedacht, der Bombenopfer und der gemordeten Juden, der Nazis und der Kommunisten, der Mitläufer und Skrupulösen - der Betrachter kann sich aus dem Supermarkt der österreichischen Geschichte nehmen, was ihm gefällt.

Auf dem "Stein der Republik", dem Schlußstein des Mahnmals, prangt ein Auszug aus der verlorenen Unabhängigkeitserklärung des Jahres 1945.

Simon Wiesenthals Plan, das Mahnmal zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung mit einem Stein zu ergänzen, der die Namen aller 65.459 ermordeten Juden enthalten soll, ist ein Versuch, den Opfermythos, der vom Mahnmal transportiert wird, zu korrigieren, doch der Versuch scheitert daran, daß die Namen der ermordeten Juden nicht bekannt sind.

klagt der Historiker Robert Streibel, der seit Jahren versucht, in Arisierungsakten Einsicht zu nehmen.

Zuerst wurde ihm beschieden, es gebe keine Aufzeichnungen dieser Art. Der Historiker fand aber heraus, daß die Faszikel in der Abteilung für Naturkatastrophen gelagert werden.

Im Frühjahr 94 beschied Vizekanzler und Wissenschaftsminister Busek einen Filmemacher, der um Förderung für einen Dokumentarfilm über den Todesmarsch ungarischer Juden (1944/45) nachgesucht hatte, daß

Einen Historiker, der um Unterstützung eines Projekts über das KZ Mauthausen gebeten hatte, beschied er:

So hartnäckig der Opfermythos in Österreich auch beschworen wird, international ist er längst durchschaut. Kurz vor Weihnachten wurde die Unesco-Liste des "Welterbes" auf 440 Stätten ergänzt. In der Liste finden sich jetzt auch die Klöster an den Hängen des Popocatepetl und der Potala-Palast in Lhasa. Österreich ist in der Liste weiterhin nicht vertreten.