Mai 95, Christian Wellmann


Jungle. Ein (aufgeschlossenen) Musikfreunden wohl sehr geläufiger Terminus der letzten Zeit. Im deutschsprachigen Raum ist diese radikale Tanzmusik erst durch einen massiven Medienhype seit ca. einem Jahr mehr oder minder bekannnt. Viva, Prinz und andere ZeitGEISTER wollten Jungle breitenwirksam machen und für den Ausverkauf sorgen. Doch für die hipen Leutchen war die Musik dann doch zu dreckig.

Über den Blödsinn, der hierzulande und in Deutschland geschrieben wurde, sollte nun ein Schlußstrich gezogen werden und von vorne begonnen werden. Der Karren blieb (hierzulande) im Underground stecken. Dankeschön! Genau das ist die Chance, die es zu nutzen gilt.

Doch hier soll die Rede von England sein, wo '91 ein gewisser Rebel MC ("The Wickedest Sound") Jungle erfand, der in Britannien längst innovativste/wichtigste neue Musikrichtung und Clubmusik ist. (House und Techno DJing wird jedoch bei weitem besser besucht; Jungle findet in eher kleineren Hallen statt und keine Platten stoßen in die Charts vor (außer: Baby D - "Let ..." )).

Jungle ist eine Subkultur, die sich vom Ausverkauf nicht vereinnahmen läßt. Zumindest wehren sich alle Verwickelten in England dagegen. Es gibt "Hardcore"-Zirkel (die OJ`s - Original Junglists), die sich gegen einen Sell-Out durch Reggae-Einflüsse wehren - man befürchtet durch die Breitenwirksamkeit des Reggae an Reputation zu verlieren.

Die Labels sind allesamt kleinste Indies (die wichtigsten: Moving Shadow, Reinforced, Street Tuff, Suburban Base, Flex, Ibiza, Inner City,...).

Diese Musik kickt Ass, wie selten eine Musikrichtung zuvor. Die meisten Tracks bestehen nur aus einem hektischen Drumbeat, irrsinnig tiefen Bässen und einigen Samples. Die Songs scheinen sich förmlich zu überschlagen. Drum`n`Bass. Die BPM (Beats per Minute) sind eigentlich immer über 90. Aber die Möglichkeiten, die ein solches Grundgerüst bietet, sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Zur Zeit befindet man sich in einer Experimentierphase und die Klassiker purzeln nur so aus den Kellerlöchern, wo sie vor dem Heimcomputer entstehen. Es gibt u.a. die jazzig/souligen Experimente des Mo-Wax-Labels (z.B.: DJ Shadow), Ragga-MC`s, die zu einem Track toasten (der bekannteste: UK Apachi), Jungle mit House-Anleihen (z.B.: Omni Trio, das mit ihrem Album "Volume 1" (die ersten 4 Maxis) die Nummer 1 der Indie-Charts in E belegte), Trance-Jungle, reine Drum`n`Bass Stücke (von fast allen DJ`s bevorzugt), usw. . Dance-Megaseller, wie Prodigy oder Moby, erkannten die Zeichen der Zeit und verwendeten auf ihren letzten Alben diese Einflüsse; auch Dubmeister wie Mad Professor nützen diese "Verjüngungskur" und mischen sich unters Jungle-Volk. UK Breakbeat (die Sammelbezeichnung für alle Jungle-Spielarten der Insel) ist nicht mehr zu stoppen. Die Stile werden nicht verunglimpft, sie erneuern sich und stehen für sich selbst. Bei House geschah dies das letzte Mal, und ein Retortenbaby, unter Techno bekannt, erblickte das Licht der Welt.
Großmeister Goldie (der wichtigste Produzent dieser Richtung; vor allem sein Remix von Ice Cubes und Scarface`s "Hand Of..." sticht an Innovation den Rest aus), auf dessen Debüt-LP ein ganzes Land gespannt wartet, äußerte sich vor kurzem dem NME gegenüber: " Jungle is today`s Hip Hop." Interessant ist der Aspekt dieser Subkultur jenseits der Musik: mit Härte gegen den Konservatismus vorgehen. Kids, im besonderen schwarze, identifizieren sich vollends mit Jungle - als Musik der Straße, als tanzbarer als der Rest; man braucht nicht zu Hip Hop (=Amerika) aufblicken, die Stars kann man ein Haus weiter treffen. Diese Jugendbewegung drückt das kaputte England 1995 präzise aus. Der Protest gegen die englische Gesellschaft (mit allen Rassenproblemen) wird lauter und verstärkter ausgetragen. Diese Musik wird größtenteils von Schwarzen gemacht, aber anders als in anderen Sparten, von allen akzeptiert. Verschiedenste Rassen vermischen sich bei Veranstaltungen (fast immer eine ungefähre Aufteilung von ca.: 60 % Schwarze, 30 % Weiße und ca. 10 % Inder). Es PASSIERT einfach wie sonst nirgendwo. Verschiedenste Altersklassen und eine 50/50 Aufteilung der Geschlechter machen das DJing doppelt interessant. Harte Drogen sind verpönt, die Pot-Debatte ist für Leute, die Jungle hören klar: bei Events raucht jeder ungeniert seinen Joint - vom DJ bis zum 14jährigen. Interessant ist auch, daß viele Leute, die zum ersten Mal mit Jungle konfrontiert werden, und ansonsten Dance-Musik verabscheuen wie ein Pfarrer ... (hehe), vor allem von der Spannung, Aggressivität und der Möglichkeit, mit Jungle völlig auszuflippen, fasziniert sind. Konsensfähig wie ein Butterbrot.

A Guy Called Gerald, alter House-Spezi, kann mit seinem Debüt(Jungle)Album ("Black Street Technology") durch Variantenreichtum und coolste Beats begeistern. Ein weiteres Zeichen, daß sich Jungle nicht nur auf Maxis und eine schier unübersehbare Flut von Compilations, mit fast immer den selben Tracks, beschränkt, sondern nun auch richtig gute Alben auf den Markt geworfen hat. Falsch ist auch die weitverbreitete Meinung, alles sei nur auf London konzentriert. Viele Labels und DJs sind um Leeds und in den Midlands (vor allem Nottingham) beheimatet. Doch London dient (wie überall) als Motor für die Bewegung. Nicht nur durch Radio "Kool FM", ein Jungle-Sender, oder den genialen Jungle-Shows auf "Kiss FM" oder durch die unzähligen Plattenlabels oder LP-Shops - es gilt: erst wer sich in London durchsetzt, darf in die "Provinz". Als Pioniere seien noch DJ Hype, DJ Grooverider ("der" Rave-DJ Numero Uno - der gute Mann versteht es, zusätzlich Bässe dazuzumischen, von denen Dir richtiggehend ÜBEL wird) , wie gesagt Rebel MC und Shut Up & Dance (Label und Band, die gerade eine eher miese Comback-12" mit Duran Duran-Sample startete) genannt.
Jungle hat vor allem für die westindische Comunity Reggae bzw. Dancehall als identitätsstiftende Kultur abgelöst bzw. erweitert. Viele Elemente der Dancehall-Kultur werden im Jungle 1:1 übernommen. Bei den meisten Auflegereien rappt ein MC über die Instrumental-Stücke des DJ`s. Bei Songs, wo die Post abgeht, rewindet (= kurzes Rückspielen und Stoppen der Platte) der DJ das Vinyl und läßt das Publikum dagegen anschreien. Der MC fragt nach "Noise" und es wird dann a) die gleiche Platte nochmals gespielt oder b) als Geste an ein unaufmerksames Publikum eine "fiese" Trance-Jungle Nummer gespielt, wo das Warten auf den ERLÖSENDEN Baß Höllenqualen verspricht. Zumeist versuchen leichtbeschürzte Tänzer und Tänzerinnen das Publikum in Stimmung zu bringen. Einzig die Tatsache, daß die Wasserhähne abgedreht sind, um Wasserflaschen zu verkaufen (passiert eher nur in größeren Clubs und vor allem bei Techno-Events - Extasy y`know) stört. Doch wir sind im Club-Land.

Der drohende Ausverkauf läßt sich zur Zeit noch abwehren, doch diese Musik wird noch viel größer werden - allein durch die Tatsache der Vermischung und eigenen Stile, die da noch entstehen können. In Österreich sollten nun kleinere Clubs (in Wien ist man da bereits sehr brav) Jungle am Laufen halten. Zumindest ein Soundsystem (It haffi Burn) hat sich inzwischen etabliert und sorgt auch für Präsenz im Radio (FM4). Produziert wird auch schon - auf der neuen EP von Schönheitsfeler (..ist tot) finden sich bereits 2 Jungle-Remixe.

Nützt Hanf, ein verrücktes Leben, Jungle und die Good Vibrations!