Pendlerleben

Eine Reportage von Anna Kopta

Dreiviertel vier, auf zur Frühschicht, es ist noch stockfinster. In kleinen Gruppen , manchmal auch einzeln stehend die Pendler. In Bushaltestellen, oft auch im Freien.
Dieser Bus fährt die B124 ab, schluckt die zum Teil durchfrorenen Gestalten, die in der Wärme des halbdunklen Busses im Halbschlaf versinken. Der Jüngste, so um die neunzehn, sitzt in der zweiten Reihe außen, den Kopf an die Scheibe gelehnt, die Augen geschlossen. Er öffnet sie auch nicht, wenn weitere Pendler zusteigen, obwohl er genau im Zug der Tür sitzt. Kurz vor Perg greift er, die Augen noch immer geschlossen, nach dem Plastiksack zu seinen Füßen und legt ihn auf die Rückenlehne des Vordersitzes, dann gräbt er sein Gesicht hinein und schläft weiter.
In Perg steigt die erste und einzige Frau dieser Route ein, auch sie murmelt nur ein "Morgn", gar nicht mürrisch, nur sehr müde. So wie alle in diesem Bus. Ausgelaugte, müde Gesichter, die sich in der dunklen Ruhe zu entspannen versuchen.
Die Musik wird aufgedreht und ein Schlagersternchen schüttet die blaue Adria (samt weißem Sandstrand und Liebe unter Palmen) über die Arbeiter aus. Warum nehmen die den Hohn auf ihr Leben einfach so hin? Nach einer halben Stunde die Antwort: Man nimmt die Musik nicht mehr wahr. Sie gehört zu diesen Busfahrten.
Der Horizont verfärbt sich orangegrün. Rauch steigt gegen den Himmel wie fette Watte, der gelbe Schein von Straßenlaternen. Ein erster Gruß der VÖEST. Die Pendler scheren sich nicht darum. Erst als der Werkposten in Sicht kommt, werden sie munter, alle auf einen Schlag, als hätten sie eine Stechuhr eingebaut.

Das Werk ist eine eigene Stadt, unfaßbar weites Gelände, eingezäunt, irgendwo fließt die Donau vorbei . Betreten darf man diese Stadt nur mit Erlaubnis. Das Gelände wird durch die Werkshauptstraße getrennt, über der sich wie der Leib einer silbernen Riesenschlange ein Stahlrohr windet. Die Luft ist dunstig, neben der Werkstraße graben sich weitere Rohre in den Boden, aus den Löchern dampft es heiß. Die Pendler steigen in Gruppen aus den Bussen und verschwinden in Nebenstraßen, in die Sinterstraße, in den Hüttenweg.
Die große Werkstraße führt weiter, läßt Hochöfen, Fabrikshallen und Eisenrohre hinter sich. Vorbei an Schlackehaufen und einer Skulptur aus Stahl, die den Oberkörper eines Mannes mit erhobenem rechten Arm darstellt. Zu beiden Seite der Straße lange Baracken im Scheinwerferlicht. Das ganze erinnert an ein anderes Bild. Von den Hochöfen her gellt eine Sirene. Wagons mit glühender Schlacke sausen wie wildgewordene Wespen über die Schienen. Die Arbeiter werden aufgenommen in den Bauch des Riesenwerkes. Frauen verschwinden in Büros oder putzen Bäder, Flure, Toiletten und die Kantine. Auch sie tragen Helme. Das Stahlwerk 3 wird umgebaut, die Schritte eines Pendlertrupps hallen durch die provisorischen, neonbeleuchteten Gänge. Die oft gefährliche Routine beginnt.

Rund 600 Pendler kommen jeden Tag aus dem Mühlviertel ins Werk. Im Mühlviertel zurück bleiben ihre Familien und die Arbeit am Bauernhof. Was sagen die Frauen, deren Männer in die VÖEST zur Arbeit fahren? Manche scheinen zufrieden mit diesem Leben. "Der Mann arbeitet ja, wenn er heimkommt; und ohne seinen Lohn könnten wir uns das alles nicht leisten." erzählt eine Bäurin und zeigt auf das neugebaute "Auszugshäusl" und den renovierten Stall. Eine andere aber ist verbittert. "Schön ist so ein Leben nicht," sagt sie, "obwohl es jetzt schon besser geht. Als die Kinder noch klein waren, bin ich mit der Arbeit überhaupt nicht fertig worden."
Die Frauen antworten knapp und direkt auf die Fragen, aber einer weichen sie aus. Wie wirkt sich die Arbeit in der VÖEST auf die Beziehung zur Familie aus? "Über die Arbeit erzählt er mir so gut wie nichts." Werden sich Menschen nicht fremd, wenn der eine nichts von einem doch sehr wesentlichen Bestandteil im Leben des anderen weiß und anscheinend auch nichts wissen will ? Eine Antwort auf diese Frage bekommt man auch von den Schichtlern nicht. Genau so wenig wie auf die Frage nach ihren Gefühlen bei diesem HALB DA - HALB DORT - Leben. Alles was einer der Arbeiter sagt ist: "Am Anfang war es natürlich hart, aber das ist vorbei!" Was war hart? Was ist vorbei? Nach längerem Überlegen: "Man ist nie ganz zu Hause, aber daran gewöhnt man sich." Das Verdrängen funktioniert. Einer der Bauern sagt am Ende des Gesprächs, ich solle auch schreiben, daß es im Werk zu wenig Absicherungen gibt.
Was ist ein Bauer, der in der VÖEST arbeitet, Bauer oder Arbeiter, beides oder nichts von beiden?

In den Gängen der VÖEST Büros hängen große Schautafeln, die die Geschichte der VÖEST Alpine Stahl zeigen. Bilder, Photos, Zeitungsausschnitte, leider nichts über die Krise in den 80er Jahren, als Nebenerwerbsbauern rücksichtslos gekündigt wurden und auch nichts davon, wieviele Betriebe schon privatisert wurden. Darüber wissen auch die Arbeiter nur wenig. Einer sagt, daß auch jetzt wieder viele entlassen werden. Leasingarbeiter sind billiger. In Zukunft würden wohl nur mehr ausgebildete Arbeiter eingestellt.
"Wenn ichs mir aussuchen könnte, würde ich wieder in der VÖEST arbeiten, obwohl für die Schichtler viel zu wenig getan wird. Man ist durch die Nachtschichten immer mit dem Schlafrhythmus durcheinander und die Arbeit ist anstrengend. Trotzdem bekommen wir nur alle 10 Jahre Erholungsurlaub, genau wie die Tagschicht, aber unsere Arbeit ist anstrengend! Im Fernsehen ,im Radio, überall werden die Arbeiter aufgerufen, sich zu schonen und auf die Gesundheit zu schauen. Meiner Meinung nach müssen alle, die Nachtschicht machen, ab 54 unter das Schwerarbeiterschichtgesetz fallen!"
Aber, so mein Gegenüber, in Privatfirmen sei es ja auch nicht besser. Angesprochen auf die Pension, wird er fast wütend: "Jeder Büroangestellte, jeder Politiker bekommt ohne Probleme seine Frühpension, nachdem er ein Gehalt bekommen hat, von dem wir nur träumen können. Uns kann es passieren, daß wir nach der Kündigung ein Jahr lang überhaupt nichts bekommen!" Ein anderer Pendler meint: "Vom Schutz der Gesundheit wird hier zwar viel geredet, aber gemacht wird nix!" Die Arbeit wird zur Routine und durch den Personalmangel arbeitet oft einer für zwei. Nur wenn etwas passiert, werden die Sicherheitsmaßnahmen für ein, zwei Wochen erhöht. Die Arbeit ist schwer und Unterstützung vom Betriebsrat bekommt nur, wer politisch aktiv ist, erzählt ein ehemaliger VÖESTler. Die Einzige VÖEST-Zeitung, die über solche Sachen halbwegs offen schreibt, ist die des GLB. Warum arbeiten trotz dieses Drucks so viele Mühlviertler Bauern in der VÖEST? "Früher wurde überall, besonders in den Wirtshäusern, für die Arbeit im Werk geworben. Die hatten zu wenig Arbeiter und wir zu wenig Arbeit. Außerdem war die Bezahlung gut."
Tag für Tag, Nacht für Nacht an die 600 Nebenerwerbsbauern in die VÖEST ?