An solch einem Dienstag beschloß der Autor dieser Zeilen, daß ihm eine anständige Überraschung ganz gut anstehen würde und tat etwas, was er zuvor nie getan hatte: ins Kino zu gehen, ohne zu wissen, welchen Film er sehen würde. Die Warteschlange an der Kasse war nicht so lang wie erwartet - sind denn Gerüchte durchgesickert, daß man einen nur mittelmäßigen Film zu sehen bekommen würde? Eine knisternde Unruhe liegt über dem Kino-Foyer - Premierenstimmung: als könnte in letzter Minute noch die Vorstellung abgesagt werden, weil der Film nicht rechtzeitig eingelangt ist. In der Warteschlange werden Tips abgegeben: ein jeder bietet den Film auf, über den er zuletzt gelesen hat. "Showgirls" wäre heute gerade das Richtige. Nein, ich hätte Lust auf Sigourney Weaver in "CopyKill". Glaubst du nicht, daß eigentlich "Strange Days" angesagt wäre. Oder gar "Get Shorty!", das neue Travolta-Vehikel? Nervös wird von einem Fuß auf den anderen gestiegen. Eine Zigarette wäre gut. Sorry, vietato fumare.
Endlich an der Kasse, wird das Plexiglasfensterchen zum Beichtstuhlgitter und man ist nah daran, die Kassadame um die Absolution, sprich: den Filmtitel, zu bitten. Der Geldschein zittert ein wenig zwischen den Fingern. Die Eintrittskarte glänzt ein bißchen mehr als sonst. Die Ungeduld drückt auf die Blase. Beim Entleeren derselben in der Kabine hätte man sich besser hingesetzt, um keine Urinograffitis an der Toilettenwand zu hinterlassen. Zu spät. Auf das Händewaschen verzichtet man getrost, denn - oh Schande! - die Klotür geöffnet, sieht man den Pilgerzug bereits im Saal verschwinden. Noch schnell ein Säckchen Dragee-Keksi erstanden. Knistern & Knuspern beruhigt. Ah, da ist die Kollegin vom Tagesjournalismus - Guten Abend!, auch gern überrascht?
Das "Rrrrrrrratschschsch" beim Kartenabreißen brennt lauter als sonst in der Luft. Die junge Abreisserin raunt mir glitzernden Auges ins Ohr: "Hoffentlich kannst du gut Englisch!" Mein Herz. Es springt. Eine Originalversion!
Endlich im Saal. Noch ist die Leinwand mit einem geheimnisvoll durchsichtigen Vlies bedeckt. Dahinter ahnt man den brodelnden Bilderfluß. Im gedämpften Licht suche ich meinen Platz. Die verschworene Gemeinde von Wagemutigen scheint immer näher zusammenzurücken. Letzte Blicke zurück in gespannte Gesichter, dann mache ich es mir bequem. Zeitgleich gehen Vorhang auf und Licht aus. Mach doch einer die Eingangstüre zu! Keine Werbung. Keine Trailer. Film pur. Logo der Produktionsfirma. Abblende. Name der Produktionsfirma. Im Kopf: Hämmern. Was ist das für ein Film… Was ist das für ein Film… Abblende. Name der Produzenten. Zuspätkommende stehlen sich zwischen mir und der Leinwand durch. Bruchteile von Sekunden bange ich um die freie Sicht auf den Titel. Abblende. Dann. Aufblende. Namen der Hauptdarsteller.
Robert DeNiro. Al Pacino.
Die aufgestaute Spannung im Saal entlädt sich in Jubel. Es kann kein schlechter Film werden. Nicht nach diesen Namen. Der Abend ist gerettet, die Überraschung perfekt. "Heat" der neue Film von Michael Mann schleicht sich mit einer pulsierenden Tonspur an, die für beinahe drei Stunden keine Sekunde Stille erleben wird.
Der Sneak Preview ist eines der schönsten Geschenke zu Hundert-Jahre-Kino. So ähnlich, stelle ich mir vor, muß es den Menschen vor einhundert Jahren gegangen sein, die zum ersten Mal einen Kinofilm zu sehen bekamen. Sie wußten nicht, was sie erwartet. Jeder Film war eine Sensation. Diese Naivität haben wir längst nicht mehr, die Neugierde auf bewegte Bilder aber ist uns geblieben. Und mag man diese Art von Event auch in die "Spektakelkultur"-Schublade stecken, die Überraschungspremiere hat doch sehr viel mit Purismus zu tun. Unbeeinflußt von Vorschauen, Berichten, Kritiken oder Mundpropaganda können wir uns einfach einen Film ansehen. Wenn wir Glück haben sogar in Originalversion. Die Faszination ist ungebrochen!
Wer nach soviel Spannung, Lobhudelei und Pathos diesen Artikel bis hierher durchgehalten hat, verdient jetzt noch ein paar Worte zum Film: Den Inhalt will ich nicht vorwegnehmen. Das fast dreistündige, breit erzählte Epos hetzt Pacino als Cop auf DeNiro, den Meisterdieb. Ein Kampf der Giganten. Ein gigantischer Männerfilm. Die beiden Herren, die zwanzig Jahre nach "Der Pate II" wieder gemeinsam drehten, werden von der Kamera bis zum Schlußduell fetischisiert. Am Ende wird der Film nur mehr aus diesen Männern bestehen, er wird ganz von ihnen aufgebraucht sein und als Zuseher weiß ich nicht mehr so genau, was mir eigentlich erzählt wurde. Ich weiß nur mehr, daß es mit diesen beiden zu tun hatte. Alle anderen, besonders die weiblichen Charaktere, sind nur Staffage.
Michael Mann weiß, wie man Actionfilme macht - er hat schließlich die Kultserie der 80er erfunden: Miami Vice. Und einiges von der 80er-Cop-Thriller-Ästhetik hat er modifiziert in diesen Film herübergerettet. Jede Menge Neonglanz, blitzende Autos, extrem synthetischer Soundtrack (der übrigens überraschend viel source music verwendet, allerdings fast ausschließlich Instrumentalnummern), manieristische Kamerafahrten (manchmal deliriert die Kamera richtiggehend um die Protagonisten herum, versucht sie einzukreisen, prallt aber doch immer wieder an ihrer glatten Oberfläche ab) und extrem explizite, kalte Gewaltszenen. Daß der Film dennoch ein 90er-Feel entwickelt, liegt vor allem an den Charakteren, die noch brüchiger, verlorener angelegt sind als noch vor ein paar Jahren; und an der Tatsache, daß viel mehr gequasselt wird. Man hat den Eindruck, nach "Reservoir Dogs" und "Pulp Fiction" kommt kein Film, der halbwegs etwas auf seine Edelschrott-Qualitäten hält, ohne schmissige Dialoge unter coolen Figuren aus. Leider kanns nicht jeder so wie Tarantino.
Von Michael Mann weiß man, daß er dazu neigt, diverse Dinge über Gebühr zu strapazieren, sodaß der Film sich manchmal zu selbstverliebt in Szenen verliert, die dann ein wenig durchhängen und so den Eindruck erwecken, daß der Streifen nicht ganz aus einem Guß ist. Aber was soll's: bei den Hauptdarstellern! Al Pacino hat mit Abstand die coolsten Sprüche auf Lager und bringt seinen Text immer so mit Pausen versetzt, daß man das Gefühl bekommt, er könnte sich nicht mehr als drei Zeilen auf einmal auswendig merken. Bobby DeNiro hat sich wahrscheinlich nach jedem Drehtag - so vermute ich bescheiden - zwei Stunden lang Gurkenscheiben auf's Gesicht gelegt: wie er in "Heat" durchgehend die Stirn furcht, ist allemal sehenswert. Auch wenn die Überraschungspremiere schon vorbei ist.