Während in der Weltpresse gegenwärtig die möglichen Vor- und Nachteile einer NATO-Erweiterung für die gesamte europäische Sicherheit heftig, kontroversiell und differenziert diskutiert werden und seit Beginn der 90er Jahre dazu einige Laufmeter an Literatur erschienen sind, ist in Österreich die eindimensionale Darstellung der angeblich kuschelweichen NATO-Neu innenpolitisch kaum mehr zu überbieten. Insb. seit dem nicht abgestimmten Vorstoß des österreichischen Außenministers für einen sofortigen NATO-Vollbeitritt Österreichs erheben sich zwei Fragen: (1) Weshalb die österreichische Öffentlichkeit die international diskutierten Argumente und Probleme der NATO-Debatte überhaupt nicht wahrnimmt, und (2) weshalb es in Österreich möglich ist, offenbar mit einer Mischung aus Inkompetenz und bewußter Irreführung die Öffentlichkeit über den Charakter der NATO als nuklear-militärisches Paktsystem, das in seinen militärischen Planungen teilweise noch immer der Konfrontationslogik des Kalten Krieges verhaftet ist, zu täuschen. NATO-intern gibt es ein wichtiges Kürzel für die gesamte Öffentlichkeitsarbeit: CNI - communicate NATO's intentions. Das funktioniert in Österreich mittlerweile so gut, daß neben mancher durchaus positiven politischen Veränderung der NATO die gegenwärtigen militärischen Planungen der Erweiterung basierend auf der in ihren Kernelementen kaum reformierten NATO-Alt völlig aus dem Blickfeld geraten. Dieser Artikel stellt den notwendigen Realitätsbezug wieder her, gibt einen Überblick über den internationalen Stand der Debatte und schreibt den unbedingten und sofortigen Beitrittswunsch der ÖVP und FPÖ zur NATO in die nähere Zukunft fort und zeigt somit dessen mögliche Konsequenzen für Österreich auf.
Verschiedene ÖVP-Politiker erklären seit ca. zwei Jahren abwechselnd, die Neutralität sei mit einem NATO-Beitritt verträglich oder auch nicht. Das ist allerdings nur ein Beruhigungsmittel fürs uninformierte Wahlvolk. Man dürfe diesem schließlich nicht mehr zeitgleich zumuten (EURO, GASP usw.), als verträglich. Je nach Opportunität wird versucht, die Neutralität bei einem NATO-Beitritt beizubehalten (was unmöglich ist) oder die sofortige Abschaffung derselben zu verlangen, was sich aber auch nicht so leicht erklären läßt. Der NATO-freundliche SPÖ-Flügel tendiert für ein Opting-In und Opting-Out-Modell, ein bisserl mitmachen bei der "Partnerschaft für den Frieden", ein bisserl Daheimbleiben, wenn's den nationalen Interessen widerspricht. Das wäre eine Annäherung, hat aber mit einem Beitritt, wie ihn die ÖVP wünscht, absolut nichts zu tun. Für einen solchen gilt ausschließlich der Nordatlantikvertrag, der mit Sicherheit für kein einziges beitrittswilliges Land neu verhandelt wird. Dieser Nordatlantikvertrag hat mit einer NATO-Neu nichts zu tun. Er handelt von der nuklearen NATO-Alt.
Die NATO ist 1990/1991 ganz massiv in eine institutionelle Krise geraten.
Ihr wurde damals der bedrohungspolitische Teppich unter den Füßen
weggezogen. Vollständig. Kein realer Feind, aber viele neu Feindbilder.
1993 wurde dieser Sachverhalt von US-Senator Richard G. Lugar auf den Punkt
gebracht: Die NATO müsse entweder eine Strategie entwickeln, um "out
of area" handeln zu können, oder sie würde schnellstens
"out of business" sein. Leider findet in Österreich keine
seriöse Auseinandersetzung über die gegenwärtigen Ziele
und Strategien der NATO-Politik statt. Wozu auch, scheint man sich in den
Parteizentralen zu denken. Stattdessen werden Phrasen gedroschen. Von "europäischer
Sicherheits-Solidarität" ist da die Rede, wobei (1) ausschließlich
ein militärischer Sicherheitsbegriff verwendet wird und (2) die bereits
vorhandene haushohe militärische Überlegenheit des Westens durch
immer weitere Rüstung noch gesteigert und die Fähigkeit zur Projektion
militärischer Macht territorial durch die Erweiterung ebenfalls erhöht
werden soll.
Es geht bei der gesamten österreichischen NATO-Debatte schon
lange nicht mehr um die Sicherung einer Verteidigungsfähigkeit gegenüber
einem möglichen Aggressor, der Österreichs Staatsgebiet bedrohen
könnte, weil es einen solchen gegenwärtig und in absehbarer Zukunft
nicht gibt. Militärbürokratien sind nicht nur in Österreich
äußerst träge und reformunwillig, wenn es um ihre eigenen
Ressourcen, aber sehr kreativ, wenn es um die Erfindung "neuer Bedrohungen"
geht. Um nur einen Zahlenvergleich heranzuziehen: NATO-Europa verfügt
gegenwärtig über etwa 14.000, die USA als NATO-Führungsmacht
über etwa 10.500 schwere, moderne und funktionsfähige Kampfpanzer.
Der russischen Armee zerbröselt ihr militärisches Gerät
bei allen konventionellen Waffengattungen unter der Hand. Im europäischen
Teil Rußlands sind gegenwärtig gerade 5.500 Kampfpanzer beim
VKSE-Vertrag (Vertrag über konventionelle Streitkräftebegrenzungen)
angemeldet, wobei nicht klar ist, wieviele davon funktionsfähig sind.
siehe 1
Bei der innenpolitischen Positionierung der beiden Großparteien
scheint es ausschließlich um Parteienkonkurrenz und Meinungsführerschaft
zu gehen, wie niedrig das Niveau der Debatte auch noch fallen mag. Es wird
nicht lange dauern und es wird behauptet werden, die NATO sei eine Organisation
für umfassenden Umwelt- und Kastastrophenschutz.
Im NATO-Dokument aus Rom (1991), das als Basis der kuschelweichen
NATO-Neu bezeichnet wird, heißt es, daß die weitere nukleare
Rolle der NATO die Solidarität zum gemeinsamen Einsatz von Atomwaffen
verlange und in Friedenszeiten die Stationierung von taktischen Atomwaffen
auf NATO-Territorium vorschreibe. (A ... credible Alliance nuclear posture
... continue to require ... in peacetime basing of nuclear forces on their
territory and in command, control and consultation arrangements.) siehe
2 Am Gleneagles-Treffen der NATO-Verteidigungsminister im Oktober
1992 wurde das Festhalten der NATO am nuklearen Ersteinsatz auch gegenüber
nichtnuklearer Bedrohung weiterhin festgeschrieben. In der NATO-Osterweiterungsstudie
1995 wurde abermals die nukleare Rolle gleichlautend bestätigt. Die
Doktrin des nuklearen Erstschlages wurde nicht revidiert. Bei den jetzigen
Verhandlungsrunden zwischen USA-NATO und Rußland über die rechtliche
Natur jenes Dokuments, das die Beziehungen zwischen NATO Rußland
über die Jahrtausendwende hinaus definieren soll, hat die NATO abermals
den völkerrechtlich bindenden Verzicht auf nukleare Vorwärtsstationierung
oder deren Vorbereitung als nicht verhandelbar und ausgeschlossen bezeichnet.
Österreich glaubt, bei einem NATO-Beitritt Sonderkonditionen verhandeln
zu können, unter dem Motto, keine fremden Truppen und keine Atomwaffen
auf österreichischem Territorium akzeptieren zu müssen. Das könnte
sich als Irrtum erweisen. Dänemark als NATO-Mitglied hatte solches
vereinbart. 1968 ereignete sich ein Kernwaffenunfall mit einer amerikanischen
Kernwaffe auf dänischem Territorium in Grönland mit bis heute
anhaltenden ökologischen Folgen und Strahlenschäden. Die dänische
Regierung hatte jahrelang die Öffentlichkeit belogen, sie wußte
von der Kernwaffenstationierung. siehe 3 Die
Frage ist also weniger, ob solche nukleare Garantien im Fall eines Beitritts
Österreichs hinter dem Rücken einer österreichischen Bundesregierung,
sondern vielmehr mit ihrer verdeckten Zustimmung unter Ausschluß
der Öffentlichkeit erfolgen würden und weshalb die NATO auf keinen
Fall auf ihre nukleare Komponente verzichten möchte.
Das Risiko der NATO-Erweiterung besteht objektiv darin, zu einer Verminderung
der Sicherheit für alle, besonders für Rußland, die Ukraine
und die Mittel- und Osteuropäischen Staaten zu führen.
Militärische Dinosaurier, die 35 Jahre gelernt haben, in den
Dimensionen der "schlimmsten erwartbaren Entwicklungen" zu denken,
stellen sich schwer um. Der Kalte Krieg strotzte vor wechselseitigen Bedrohungswahrnehmungen
und einer daraus resultierenden "bösartigen Kommunikationsform",
deren Analyse zwar bei Individualkonflikten zum Standardrepertoire einer
Psychotherapie zählt, jedoch bei der Analyse internationaler Konflikte
und militärischer Bedrohung noch immer nicht zum Allgemeingut geworden
ist. Aus der "neorealistischen Schule" der Bedrohungsanalyse,
die in Europa insb. durch die 1982 veröffentlichte Studie der Palme-Kommission
für ein gemeinsames Überleben im Zeitalter der absoluten nuklearen
Hochrüstung entstanden ist, läßt sich der wissenschaftlich
verallgemeinerbare Satz ableiten, daß Sicherheit in einem bipolaren
oder multipolaren System nur dann existieren kann, wenn sich die beteiligten
Staaten "subjektiv" sicher fühlen, ganz gleich, was die
andere der beteiligten Seiten davon halten mag, ob sie selbst ein Sicherheitsrisiko
in Form einer "Bedrohung" für den "Bedrohten"
darstellen mag. Die politische Anerkennung dieser wissenschaftlichen Erkenntnis
war einer jener großen Durchbrüche, die zur Beendigung des Kalten
Krieges und zur deutschen Wiedervereinigung geführt haben. Erstmals
seit über hundert Jahren existiert seit den 50er Jahren eine realistische
Friedenschance in Westeuropa, die positiv genutzt wurde, und erstmals existiert
diese nun auch seit Beginn der 90er Jahre für Mittel- und Osteuropa
gemeinsam mit Rußland, also für die ganze OSZE-Region von Vancouver
bis Wladiwostok.
Auf dem Spiel durch die NATO-Erweiterung könnte diesmal alles
stehen, was seit den ersten ernsthaften Abrüstungmaßnahmen 1987/88,
beim Abzug der Mittelstreckensysteme in Europa (INF-Vertrag) an kooperativer
Sicherheit erreicht wurde. All dies wurde erreicht durch die freiwillige
und kooperative Zustimmung der Sowjetunion/Rußlands und durch einseitige
Abrüstungsmaßnahmen, bei denen das eine Mal die USA, das andere
Mal die Sowjetunion die Nase vorne hatte. Zuerst verhandelten Reagan und
Gorbatschow die Mittelstrecken-Atomwaffen weg; danach kündigten Gorbatschow
und Bush im Herbst 1991 an, alle landgestützten und seegestützten
substrategischen Atomwaffen aus NATO- und WP-Territorium abzuziehen, was
auch geschah.
Die objektiven Sicherheitsgewinne Europas ergaben sich durch eine Stufe
für Stufe erreichte Zustimmung Rußlands.
1) Durch eine vertraglich gesicherte und verifizierte nukleare Abrüstung
im strategischen Bereich (START I, II, und hoffentlich bald III) und INF;
2) Durch eine nicht vertraglich gesicherte, einseitige und nicht verifizierte
Reduktion der substrategischen Kernwaffen;
3) Durch eine vertraglich gesicherte und verifizierte konventionelle Abrüstung
(VKSE-Vertrag);
Die NATO verläßt durch die Osterweiterung diesen auf
Konsens basierenden Kurs gemeinsam mit Rußland schlicht und einfach
schon dadurch, daß sie diese gegen die russischen Interessen durchsetzt.
Die NATO schließt die Vorwärtsstationierung konventioneller
und nuklearer Waffen gegenwärtig nicht verbindlich aus.
Das führt innerhalb der militärischen Denkwelt, die immer noch
von der Parität von Waffen als Sicherheits- und Stabilitätsfaktor
ausgeht, zu einem "Vorteil" der NATO und zu einer gesteigerten
"Bedrohung" Rußlands. Die Motivation für die Osterweiterung
wird folgendermaßen begründet:
· Mit der Schaffung interner Stabilität und demokratischer
Zustände. Dazu ist zu sagen, daß die politische Stabilität
und vor allem das Niveau der Menschenrechte im NATO-Mitglied Türkei
mit Sicherheit geringer ist, als etwa in Polen oder Ungarn. Die interne
politische Stabilität und demokratische Verfaßtheit haben sich
die ersten Beitritsskandidaten Polen, Tschechien und Ungarn auf friedlichem
Weg selbst geschaffen. Sie brauchten dazu keine NATO.
· Mit der der Rückversicherung vor einer russischen Bedrohung
bzw. einer neuen Eindämmungspolitik Rußlands. In den beitritsswilligen
Staaten wird dies teilweise ganz offen geäußert. Deshalb werden
dort auch US-Bodentruppen und u.U. Kernwaffen gewünscht. Das ist zwar
historisch überaus verständlich, aber entspannungspolitisch völlig
unverantwortlich und konfrontationsfördernd.
· Ebenfalls mit der Schaffung eines kooperativen Sicherheitssystems.
Das wäre nur dann möglich, wenn sich die NATO tatsächlich
von ihren militärischen Planungen der Osterweiterung verabschieden
würde, was sie aber nicht tut.
· Schließlich mit der Auffüllung eines "Sicherheitsvakuums"
in Mittel- und Osteuropa. Dieses existiert aber nicht. Es gibt kein "Sicherheitsvakuum"
für den Westen.
Die Sicherheit vor Rußland ist gegenwärtig historisch entwickelt
wie nie zuvor. Dies basiert auf den verifizierbaren Abrüstungsverträgen.
Damit Rußland - nur rein theoretisch - wieder ein Sicherheitsrisiko
für den Westen werden könnte, sind ganz eindeutig folgende Ereignisse,
einzeln oder in Kombination, zwingend notwenig: (a) Rußland müßte
die Staatsgrenzen seiner Nachbarn verletzen oder verletzen können;
(b) Rußland müßte die bestehenden Abrüstungsverträge
brechen (können), um wieder ein offensivfähiges militärisches
Potential zu entwickeln, was anhand der bestehenden technischen Aufklärungmittel
und sonstigen vereinbarten Überprüfungsprozeduren jederzeit frühab
mit einer Vorwarnzeit von zehn bis fünfzehn Jahren festzustellen wäre,
ganz abgesehen davon, daß dazu die Motivation und die Mittel fehlen;
(c) der schlimmste denkbare Fall: eine "rot-braune Mafia" würde
sich innenpolitisch etablieren und die Kommandogewalt der strategischen
Kernwaffen erhalten und versuchen, damit den Westen zu erpressen. Nach
der herrschenden Lehre des Atomkrieges, der Abschreckungslogik, wäre
der Westen unter dieser Voraussetzung quantitativ und qualitativ immer
noch in der Lage hier "überlegen" zu agieren.
Eine Sicherheit mit Rußland kann nur darauf basieren, alle als gemeinsame
Bedrohung erkannte Risiken weiterhin gemeinsam zu minimieren und zu entschärfen.
Dabei kann die NATO eine Rolle spielen. Auch beim Peace-Keeping und Peace-Making,
wenn alle anderen Versuche der Konflikprävention fehlschlagen. Für
diese jedoch ist die NATO nicht das geeignete Mittel. Dafür ist die
OSZE zuständig.
Die Vorverschiebung des militärischen Limes der NATO wird im
besten Fall für die Sicherheit der Beitrittskandidaten irrelevant
sein, dann wenn die demokratischen Transformationen in Rußland positiv
weitergehen und Rußland eine kooperative und friedliche Außenpolitik
betreibt. Im schlimmsten Fall wird diese zu einer Gegenblockbildung, durch
die NATO-Erweiterung selbst hervorgerufen, führen. Um mit diesem Spektrum
an Alternativen umzugehen, fehlt der NATO in ihrer gegenwärtigen Verfaßtheit
die Flexibilität. Und natürlich ist es unwahr, daß die
NATO-Erweiterung gegen niemanden gerichtet sei. Sie ist ganz eindeutig
gegen Rußland gerichtet. Selbst wenn Teile der NATO-Führung
selbst daran glauben würden, daß ihre Politik nicht gegen Rußland
gerichtet sei, so ist dies wiederum irrelevant. Man stelle sich die beiden
NATO-Mitglieder Polen (1. Runde) und Litauen (2. Runde) als NATO-Mitglieder
vor. Davon tatsächlich eingekreist die russische Enklave Königsberg.
Dort sind zahlreiche russische substrategische Kernwaffen stationiert.
Das wäre das umgekehrte Berlin-Syndrom mit Atomwaffen im Spiel zur
Jahrtausendwende.
Österreich wird, so wie es jetzt zwei Wochen vor dem NATO-Gipfel im
Juli 1997 in Madrid aussieht, bei all diesem mitmachen und von nichts etwas
gewußt haben wollen, wenn dabei etwas schiefgeht. Aber darin haben
wir ja Erfahrung.
1 Zahlenangaben nach International Institute for
Strategic Studies: The Military Balance 1996/97. London: October 1996.
2 The Alliance´s Strategic Concept. Agreed
by the Heads of State and Government participating in the meeting of the
North Atlantic Council in Rome on 7-8 November 1991. Zit. nach: NATO-Handbook,
NATO Office of Information and Press, Brussels 1995. Appendix IX, paragraphs
56-57.
3 Dies ist ausführlich in einem Report des
Danish Institute of International Affairs: Greenland during the Cold War,
Copenhagen 1996, nachzulesen.
Dr. Georg Schöfbänker lebt in Linz und ist Wissenschafter
am Österreichischen
Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK)
in Stadtschlaining/Burgenland und spezialisiert auf Sicherheits- und Militärpolitik.