Neutralität
Nein Danke

Unser Eliten und ihre große österreichische NATO-Lüge

Georg Schöfbänker

Das strategische Umfeld und die Innenpolitik

Während in der Weltpresse gegenwärtig die möglichen Vor- und Nachteile einer NATO-Erweiterung für die gesamte europäische Sicherheit heftig, kontroversiell und differenziert diskutiert werden und seit Beginn der 90er Jahre dazu einige Laufmeter an Literatur erschienen sind, ist in Österreich die eindimensionale Darstellung der angeblich kuschelweichen NATO-Neu innenpolitisch kaum mehr zu überbieten. Insb. seit dem nicht abgestimmten Vorstoß des österreichischen Außenministers für einen sofortigen NATO-Vollbeitritt Österreichs erheben sich zwei Fragen: (1) Weshalb die österreichische Öffentlichkeit die international diskutierten Argumente und Probleme der NATO-Debatte überhaupt nicht wahrnimmt, und (2) weshalb es in Österreich möglich ist, offenbar mit einer Mischung aus Inkompetenz und bewußter Irreführung die Öffentlichkeit über den Charakter der NATO als nuklear-militärisches Paktsystem, das in seinen militärischen Planungen teilweise noch immer der Konfrontationslogik des Kalten Krieges verhaftet ist, zu täuschen. NATO-intern gibt es ein wichtiges Kürzel für die gesamte Öffentlichkeitsarbeit: CNI - communicate NATO's intentions. Das funktioniert in Österreich mittlerweile so gut, daß neben mancher durchaus positiven politischen Veränderung der NATO die gegenwärtigen militärischen Planungen der Erweiterung basierend auf der in ihren Kernelementen kaum reformierten NATO-Alt völlig aus dem Blickfeld geraten. Dieser Artikel stellt den notwendigen Realitätsbezug wieder her, gibt einen Überblick über den internationalen Stand der Debatte und schreibt den unbedingten und sofortigen Beitrittswunsch der ÖVP und FPÖ zur NATO in die nähere Zukunft fort und zeigt somit dessen mögliche Konsequenzen für Österreich auf.

Verschiedene ÖVP-Politiker erklären seit ca. zwei Jahren abwechselnd, die Neutralität sei mit einem NATO-Beitritt verträglich oder auch nicht. Das ist allerdings nur ein Beruhigungsmittel fürs uninformierte Wahlvolk. Man dürfe diesem schließlich nicht mehr zeitgleich zumuten (EURO, GASP usw.), als verträglich. Je nach Opportunität wird versucht, die Neutralität bei einem NATO-Beitritt beizubehalten (was unmöglich ist) oder die sofortige Abschaffung derselben zu verlangen, was sich aber auch nicht so leicht erklären läßt. Der NATO-freundliche SPÖ-Flügel tendiert für ein Opting-In und Opting-Out-Modell, ein bisserl mitmachen bei der "Partnerschaft für den Frieden", ein bisserl Daheimbleiben, wenn's den nationalen Interessen widerspricht. Das wäre eine Annäherung, hat aber mit einem Beitritt, wie ihn die ÖVP wünscht, absolut nichts zu tun. Für einen solchen gilt ausschließlich der Nordatlantikvertrag, der mit Sicherheit für kein einziges beitrittswilliges Land neu verhandelt wird. Dieser Nordatlantikvertrag hat mit einer NATO-Neu nichts zu tun. Er handelt von der nuklearen NATO-Alt.

Die NATO ist 1990/1991 ganz massiv in eine institutionelle Krise geraten. Ihr wurde damals der bedrohungspolitische Teppich unter den Füßen weggezogen. Vollständig. Kein realer Feind, aber viele neu Feindbilder. 1993 wurde dieser Sachverhalt von US-Senator Richard G. Lugar auf den Punkt gebracht: Die NATO müsse entweder eine Strategie entwickeln, um "out of area" handeln zu können, oder sie würde schnellstens "out of business" sein. Leider findet in Österreich keine seriöse Auseinandersetzung über die gegenwärtigen Ziele und Strategien der NATO-Politik statt. Wozu auch, scheint man sich in den Parteizentralen zu denken. Stattdessen werden Phrasen gedroschen. Von "europäischer Sicherheits-Solidarität" ist da die Rede, wobei (1) ausschließlich ein militärischer Sicherheitsbegriff verwendet wird und (2) die bereits vorhandene haushohe militärische Überlegenheit des Westens durch immer weitere Rüstung noch gesteigert und die Fähigkeit zur Projektion militärischer Macht territorial durch die Erweiterung ebenfalls erhöht werden soll.

Es geht bei der gesamten österreichischen NATO-Debatte schon lange nicht mehr um die Sicherung einer Verteidigungsfähigkeit gegenüber einem möglichen Aggressor, der Österreichs Staatsgebiet bedrohen könnte, weil es einen solchen gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht gibt. Militärbürokratien sind nicht nur in Österreich äußerst träge und reformunwillig, wenn es um ihre eigenen Ressourcen, aber sehr kreativ, wenn es um die Erfindung "neuer Bedrohungen" geht. Um nur einen Zahlenvergleich heranzuziehen: NATO-Europa verfügt gegenwärtig über etwa 14.000, die USA als NATO-Führungsmacht über etwa 10.500 schwere, moderne und funktionsfähige Kampfpanzer. Der russischen Armee zerbröselt ihr militärisches Gerät bei allen konventionellen Waffengattungen unter der Hand. Im europäischen Teil Rußlands sind gegenwärtig gerade 5.500 Kampfpanzer beim VKSE-Vertrag (Vertrag über konventionelle Streitkräftebegrenzungen) angemeldet, wobei nicht klar ist, wieviele davon funktionsfähig sind. siehe 1
Bei der innenpolitischen Positionierung der beiden Großparteien scheint es ausschließlich um Parteienkonkurrenz und Meinungsführerschaft zu gehen, wie niedrig das Niveau der Debatte auch noch fallen mag. Es wird nicht lange dauern und es wird behauptet werden, die NATO sei eine Organisation für umfassenden Umwelt- und Kastastrophenschutz.

Im NATO-Dokument aus Rom (1991), das als Basis der kuschelweichen NATO-Neu bezeichnet wird, heißt es, daß die weitere nukleare Rolle der NATO die Solidarität zum gemeinsamen Einsatz von Atomwaffen verlange und in Friedenszeiten die Stationierung von taktischen Atomwaffen auf NATO-Territorium vorschreibe. (A ... credible Alliance nuclear posture ... continue to require ... in peacetime basing of nuclear forces on their territory and in command, control and consultation arrangements.) siehe 2 Am Gleneagles-Treffen der NATO-Verteidigungsminister im Oktober 1992 wurde das Festhalten der NATO am nuklearen Ersteinsatz auch gegenüber nichtnuklearer Bedrohung weiterhin festgeschrieben. In der NATO-Osterweiterungsstudie 1995 wurde abermals die nukleare Rolle gleichlautend bestätigt. Die Doktrin des nuklearen Erstschlages wurde nicht revidiert. Bei den jetzigen Verhandlungsrunden zwischen USA-NATO und Rußland über die rechtliche Natur jenes Dokuments, das die Beziehungen zwischen NATO Rußland über die Jahrtausendwende hinaus definieren soll, hat die NATO abermals den völkerrechtlich bindenden Verzicht auf nukleare Vorwärtsstationierung oder deren Vorbereitung als nicht verhandelbar und ausgeschlossen bezeichnet.

Österreich glaubt, bei einem NATO-Beitritt Sonderkonditionen verhandeln zu können, unter dem Motto, keine fremden Truppen und keine Atomwaffen auf österreichischem Territorium akzeptieren zu müssen. Das könnte sich als Irrtum erweisen. Dänemark als NATO-Mitglied hatte solches vereinbart. 1968 ereignete sich ein Kernwaffenunfall mit einer amerikanischen Kernwaffe auf dänischem Territorium in Grönland mit bis heute anhaltenden ökologischen Folgen und Strahlenschäden. Die dänische Regierung hatte jahrelang die Öffentlichkeit belogen, sie wußte von der Kernwaffenstationierung. siehe 3 Die Frage ist also weniger, ob solche nukleare Garantien im Fall eines Beitritts Österreichs hinter dem Rücken einer österreichischen Bundesregierung, sondern vielmehr mit ihrer verdeckten Zustimmung unter Ausschluß der Öffentlichkeit erfolgen würden und weshalb die NATO auf keinen Fall auf ihre nukleare Komponente verzichten möchte.
Das Risiko der NATO-Erweiterung besteht objektiv darin, zu einer Verminderung der Sicherheit für alle, besonders für Rußland, die Ukraine und die Mittel- und Osteuropäischen Staaten zu führen.

Militärische Dinosaurier, die 35 Jahre gelernt haben, in den Dimensionen der "schlimmsten erwartbaren Entwicklungen" zu denken, stellen sich schwer um. Der Kalte Krieg strotzte vor wechselseitigen Bedrohungswahrnehmungen und einer daraus resultierenden "bösartigen Kommunikationsform", deren Analyse zwar bei Individualkonflikten zum Standardrepertoire einer Psychotherapie zählt, jedoch bei der Analyse internationaler Konflikte und militärischer Bedrohung noch immer nicht zum Allgemeingut geworden ist. Aus der "neorealistischen Schule" der Bedrohungsanalyse, die in Europa insb. durch die 1982 veröffentlichte Studie der Palme-Kommission für ein gemeinsames Überleben im Zeitalter der absoluten nuklearen Hochrüstung entstanden ist, läßt sich der wissenschaftlich verallgemeinerbare Satz ableiten, daß Sicherheit in einem bipolaren oder multipolaren System nur dann existieren kann, wenn sich die beteiligten Staaten "subjektiv" sicher fühlen, ganz gleich, was die andere der beteiligten Seiten davon halten mag, ob sie selbst ein Sicherheitsrisiko in Form einer "Bedrohung" für den "Bedrohten" darstellen mag. Die politische Anerkennung dieser wissenschaftlichen Erkenntnis war einer jener großen Durchbrüche, die zur Beendigung des Kalten Krieges und zur deutschen Wiedervereinigung geführt haben. Erstmals seit über hundert Jahren existiert seit den 50er Jahren eine realistische Friedenschance in Westeuropa, die positiv genutzt wurde, und erstmals existiert diese nun auch seit Beginn der 90er Jahre für Mittel- und Osteuropa gemeinsam mit Rußland, also für die ganze OSZE-Region von Vancouver bis Wladiwostok.

Auf dem Spiel durch die NATO-Erweiterung könnte diesmal alles stehen, was seit den ersten ernsthaften Abrüstungmaßnahmen 1987/88, beim Abzug der Mittelstreckensysteme in Europa (INF-Vertrag) an kooperativer Sicherheit erreicht wurde. All dies wurde erreicht durch die freiwillige und kooperative Zustimmung der Sowjetunion/Rußlands und durch einseitige Abrüstungsmaßnahmen, bei denen das eine Mal die USA, das andere Mal die Sowjetunion die Nase vorne hatte. Zuerst verhandelten Reagan und Gorbatschow die Mittelstrecken-Atomwaffen weg; danach kündigten Gorbatschow und Bush im Herbst 1991 an, alle landgestützten und seegestützten substrategischen Atomwaffen aus NATO- und WP-Territorium abzuziehen, was auch geschah.
Die objektiven Sicherheitsgewinne Europas ergaben sich durch eine Stufe für Stufe erreichte Zustimmung Rußlands.
1) Durch eine vertraglich gesicherte und verifizierte nukleare Abrüstung im strategischen Bereich (START I, II, und hoffentlich bald III) und INF;
2) Durch eine nicht vertraglich gesicherte, einseitige und nicht verifizierte Reduktion der substrategischen Kernwaffen;
3) Durch eine vertraglich gesicherte und verifizierte konventionelle Abrüstung (VKSE-Vertrag);

Die NATO verläßt durch die Osterweiterung diesen auf Konsens basierenden Kurs gemeinsam mit Rußland schlicht und einfach schon dadurch, daß sie diese gegen die russischen Interessen durchsetzt. Die NATO schließt die Vorwärtsstationierung konventioneller und nuklearer Waffen gegenwärtig nicht verbindlich aus.
Das führt innerhalb der militärischen Denkwelt, die immer noch von der Parität von Waffen als Sicherheits- und Stabilitätsfaktor ausgeht, zu einem "Vorteil" der NATO und zu einer gesteigerten "Bedrohung" Rußlands. Die Motivation für die Osterweiterung wird folgendermaßen begründet:
· Mit der Schaffung interner Stabilität und demokratischer Zustände. Dazu ist zu sagen, daß die politische Stabilität und vor allem das Niveau der Menschenrechte im NATO-Mitglied Türkei mit Sicherheit geringer ist, als etwa in Polen oder Ungarn. Die interne politische Stabilität und demokratische Verfaßtheit haben sich die ersten Beitritsskandidaten Polen, Tschechien und Ungarn auf friedlichem Weg selbst geschaffen. Sie brauchten dazu keine NATO.
· Mit der der Rückversicherung vor einer russischen Bedrohung bzw. einer neuen Eindämmungspolitik Rußlands. In den beitritsswilligen Staaten wird dies teilweise ganz offen geäußert. Deshalb werden dort auch US-Bodentruppen und u.U. Kernwaffen gewünscht. Das ist zwar historisch überaus verständlich, aber entspannungspolitisch völlig unverantwortlich und konfrontationsfördernd.
· Ebenfalls mit der Schaffung eines kooperativen Sicherheitssystems. Das wäre nur dann möglich, wenn sich die NATO tatsächlich von ihren militärischen Planungen der Osterweiterung verabschieden würde, was sie aber nicht tut.
· Schließlich mit der Auffüllung eines "Sicherheitsvakuums" in Mittel- und Osteuropa. Dieses existiert aber nicht. Es gibt kein "Sicherheitsvakuum" für den Westen.

Die Sicherheit vor Rußland ist gegenwärtig historisch entwickelt wie nie zuvor. Dies basiert auf den verifizierbaren Abrüstungsverträgen. Damit Rußland - nur rein theoretisch - wieder ein Sicherheitsrisiko für den Westen werden könnte, sind ganz eindeutig folgende Ereignisse, einzeln oder in Kombination, zwingend notwenig: (a) Rußland müßte die Staatsgrenzen seiner Nachbarn verletzen oder verletzen können; (b) Rußland müßte die bestehenden Abrüstungsverträge brechen (können), um wieder ein offensivfähiges militärisches Potential zu entwickeln, was anhand der bestehenden technischen Aufklärungmittel und sonstigen vereinbarten Überprüfungsprozeduren jederzeit frühab mit einer Vorwarnzeit von zehn bis fünfzehn Jahren festzustellen wäre, ganz abgesehen davon, daß dazu die Motivation und die Mittel fehlen; (c) der schlimmste denkbare Fall: eine "rot-braune Mafia" würde sich innenpolitisch etablieren und die Kommandogewalt der strategischen Kernwaffen erhalten und versuchen, damit den Westen zu erpressen. Nach der herrschenden Lehre des Atomkrieges, der Abschreckungslogik, wäre der Westen unter dieser Voraussetzung quantitativ und qualitativ immer noch in der Lage hier "überlegen" zu agieren.
Eine Sicherheit mit Rußland kann nur darauf basieren, alle als gemeinsame Bedrohung erkannte Risiken weiterhin gemeinsam zu minimieren und zu entschärfen. Dabei kann die NATO eine Rolle spielen. Auch beim Peace-Keeping und Peace-Making, wenn alle anderen Versuche der Konflikprävention fehlschlagen. Für diese jedoch ist die NATO nicht das geeignete Mittel. Dafür ist die OSZE zuständig.

Die Vorverschiebung des militärischen Limes der NATO wird im besten Fall für die Sicherheit der Beitrittskandidaten irrelevant sein, dann wenn die demokratischen Transformationen in Rußland positiv weitergehen und Rußland eine kooperative und friedliche Außenpolitik betreibt. Im schlimmsten Fall wird diese zu einer Gegenblockbildung, durch die NATO-Erweiterung selbst hervorgerufen, führen. Um mit diesem Spektrum an Alternativen umzugehen, fehlt der NATO in ihrer gegenwärtigen Verfaßtheit die Flexibilität. Und natürlich ist es unwahr, daß die NATO-Erweiterung gegen niemanden gerichtet sei. Sie ist ganz eindeutig gegen Rußland gerichtet. Selbst wenn Teile der NATO-Führung selbst daran glauben würden, daß ihre Politik nicht gegen Rußland gerichtet sei, so ist dies wiederum irrelevant. Man stelle sich die beiden NATO-Mitglieder Polen (1. Runde) und Litauen (2. Runde) als NATO-Mitglieder vor. Davon tatsächlich eingekreist die russische Enklave Königsberg. Dort sind zahlreiche russische substrategische Kernwaffen stationiert. Das wäre das umgekehrte Berlin-Syndrom mit Atomwaffen im Spiel zur Jahrtausendwende.
Österreich wird, so wie es jetzt zwei Wochen vor dem NATO-Gipfel im Juli 1997 in Madrid aussieht, bei all diesem mitmachen und von nichts etwas gewußt haben wollen, wenn dabei etwas schiefgeht. Aber darin haben wir ja Erfahrung.

1 Zahlenangaben nach International Institute for Strategic Studies: The Military Balance 1996/97. London: October 1996.
2 The Alliance´s Strategic Concept. Agreed by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Rome on 7-8 November 1991. Zit. nach: NATO-Handbook, NATO Office of Information and Press, Brussels 1995. Appendix IX, paragraphs 56-57.
3 Dies ist ausführlich in einem Report des Danish Institute of International Affairs: Greenland during the Cold War, Copenhagen 1996, nachzulesen.

Dr. Georg Schöfbänker lebt in Linz und ist Wissenschafter am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) in Stadtschlaining/Burgenland und spezialisiert auf Sicherheits- und Militärpolitik.


Sommer 97

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