SPÄTES FRÜHSTÜCK IM
ERINNERUNGSHOTEL

Rainer Krispel

rainer krispel


Langsam trete ich angespeiste Luft.
Dabei habe ich durchaus Gründe, glücklich zu sein: Ich habe nämlich soviele Außenstände, in allen erdenklichen Sinnen, daß mir die Verbindlichkeiten nie nicht ausgehen werden. Verbindlichkeiten sind schön.
Andererseits wiegen meine Trägheiten und ich immer öfter so schwer, daß wir mehr und mehr mit den Liften fahren, die sich bieten. Und sie bieten sich! So gesehen ist es schön in Wien zu sein, denn hier haben auch die U-Bahn-Stationen in der Regel Lifte. Linz funktioniert ja viel ebenerdiger, darum mußte ich mir dort immer überlegen wie ich mich bewege. Natürlich immer von oben nach unten, dann konnte ich den Schwung mitnehmen. Trotzdem bin ich dann einmal stehen geblieben und mußte so ­ logisch ­ eigentlich schwunglos weitergehen. Aus und mit mir selbst heraus. Weg. Das ist heute noch anstrengend und auch hier sind die Lifte dann doch eine zu kleine ­ oft eigenwillige ­ Minderheit.

Der Trost hält sich nobel zurück, Schlingel der er ist. Er braut seine Gegengifte ganz gemächlich, wenn überhaupt. Die Zeiten zwischen ­ zum Beispiel ­ den Konzerten oder Platten oder Liedern, die mir Hügel zum Schwung nehmen bauen, werden immer länger. Ängstlich, wie ich auch bin, habe ich schon eine Angst, daß sie gar nicht mehr kommen wollen. Wenn sie dann kommen, muß ich immer mehr rundum ausschalten, damit ich den Hügel noch sehen und benutzen kann. Und mit dem Ausschalten ist das auch so eine Sache. Das geht mir nicht mehr so leicht von der Hand. Ich möchte ja, vielleicht ein wenig willkürlich, in den nächsten Zeiten möglichst eingeschaltet sein. Überhaupt, es ist ja ein Skandal, wieviel da immer rumstehen muß um diese ­ zum Beispiel ­ schöne Musik. Immer öfter stellt sich ja aber auch heraus, daß es Lufthügel sind, von denen ich mir nur einen Luftschwung holen kann. Da schlage ich dann immer ganz furchtbar auf und mag mich gar nicht mehr rühren. Oder abgelaufene Hügel, die Hügel von jemand anders.
So gesehen kein Wunder, daß mir auch früher einmal die Stimme weggeblieben ist, wie ich meine eigene Vergangenheit wiederaufführen wollte. Das hatte ich schon gesagt. Daran hatte ich mich schon heiser geschrien. Vom Wohnen im Hotel Kummer und im Hotel Friendship habe ich schon erzählt.
Die Verwaltung hat mich ja jetzt auch ­ was bleibt einem schon übrig? ­ im Erinnerungshotel einquartiert, bis ich mir über meine weiteren Reisen gefälligst im klaren bin. Oder eben eben nicht. Sie haben mir einen überraschend hohen Stock zugestanden. Die Zimmer sind dort besser, sagt der Portier, ansonsten ein sekkanter Mensch. Der Lift hat sein Eigenleben ­ ich bin mir auch sicher, daß er mit der Regierung verschworen ist ­ der hält, wo er will. So wird eine Verabredung zum Frühstück ein kleines Abenteuer. "Ein Treppenhaus ist zu gefährlich", sagt der Portier und grinst abgestanden in seiner abgestandenen Uniform in seiner abgestandenen Portiersloge, in der er ein fast-vollvergilbtes Bild der ersten Filmnackten der Geschichte hängen hat, "könnte sie an Hügel erinnern!". Es heißt, wir wohnen in einem ehemaligen Kurhotel.


Unter uns Gästen geht die Geschichte von einem anderen Gast um, den der Lift in einer versunkenen Etage ausgesetzt hat. Als er wiederauftauchte ­ ich traf ihn zufällig an seinem letzten Tag bei einem späten Frühstück, das er mehr großflächig und fleckenintensiv über seine Kleidung verteilte als aß ­ konnte man ihn in seinem Zimmer immer Schreien hören. "Verscheißerrrrrrrrrrn", schrie er, rollte das "r" wie verrückt und setzte dann ein heiseres, sehnsüchtiges "Neutralität" nach. Er soll Geschichtslehrer gewesen sein. Er fand sein Ende, als er von einem Lufthügel auf den Boden seines Zimmers krachte. Er mochte sich dann nicht mehr nur nicht mehr nicht rühren ­ er konnte nicht mehr, nie wieder!
Nach meinen späten Frühstücken gehe ich nicht mehr so viel aus, wie vielleicht noch vor einem Jahr. Ich bin es leid, auf Hügel zu hoffen. Ich habe ja jetzt auch eine Freundin. Dieser Satz und dieser Umstand ist sehr erstaunlich. Erbaulich. Sie besucht mich oft und wir reiben uns dann freudig aneinander. Ohne uns allerdings in der Regel aufzureiben, wie an all den Dingen und Menschen vor dem wirklich einladenden Hotel-Portal draußen . Sie hat auch ihre eigenen Hügel meine teure Freundin, kleinere wohl, von denen sich wenigstens meine Finger (und andere, in der Regel weniger sichtbar getragene Teile) Schwung holen können.
Sie hat auch schon um ein Zimmer im Hotel angesucht. Wir werden sehen.
Bis dahin vermeide ich es, Tagebuch zu schreiben, und hänge mir möglichst wortlos nach und mit mir um. Mit dieser Sprache ist es ja auch so eine Sache. Solange sie nicht völlig klar ist, trägt sie nur zur Verwirrung und Verstellung bei. Meine Bücher habe ich längst der Heilsarmee vermacht.
Wenn ich doch rausgehe, manchmal, vergesse ich nie, mir Pistazien zu kaufen. Ihre Schalen spucke ich auf die Menschen, die unter meinem Zimmerfenster vorbeigehen. Die Krähen vom Dach krähen dann immer ganz anerkennend. Die Pistazien machen mich auch meinen Hunger vergessen, bis ich wieder mit dem Lift zu einem späten, ungewissen Frühstück aufbreche.


März 97

wir lesen hören schauen linz