Marlies Feindlinger
Wenn
wir einen Roman lesen, tauchen wir ein in eine Welt, die nicht real existiert.
Die Worte auf den Seiten zu Zeilen und Absätzen formatiert, in Kapitel
eingeteilt, heißen uns ungelesen - oder unverstanden - gar nichts.
Erst unser Gehirn läßt aus den abstrakten Zeichen und den verstreuten
Informationen Landschaften, Gebäude, Zimmer, Gegenstände und
Menschen entstehen. Erst in unserem Denken fügen sich die Einzelteile
zu einer Geschichte, die in Form und Inhalt ständig mit unserer Erfahrung,
unserem (logischen) Nachdenken und unserer Phantasie rückgekoppelt
wird. Das Wunder zwischen zwei Buchdeckeln besteht darin, daß keine
zwei Leser desselben Buches exakt dieselbe Geschichte erzählt bekommen.
Lesen an und für sich ist immer ein interpretatorischer Akt. Einen
Satz zu lesen und ihn nicht in eine Beziehung zu mir zu bringen, ist kaum
möglich.
Wenn wir einen Film sehen, ist unser Verhältnis dazu ein anderes.
Alle Zusehenden schauen die gleichen Bilder, hören die Worte so, wie
sie von den Darstellenden gesprochen wurden. In einer genau festgelegten
Zeit wird eine durch Schnitte genau strukturierte Geschichte erzählt.
Es gibt kein Vor- und Zurückblättern, kein Verweilen. Die Interpretation
geschieht erst nach der Wahrnehmung. Das Bild muß gesehen und angeschaut
werden, bevor es kommentiert und interpretiert werden kann. Diese zeitliche
Diskrepanz bringt eine Schwierigkeit mit sich: Die Filmschaffenden müssen
sich ständig entscheiden, ob sie die Geschichte vorantreiben oder
Bilder zeigen wollen, die auf etwas hinter der Handlung Stehendes verweisen,
das die Zusehenden zu sich in Beziehung setzen können.
Die Geschichte des Films ist durchzogen von Literaturverfilmungen
und in jüngster Zeit scheint sich der Trend, auf bereits in Buchform
erschienene Stories zurückzugreifen, wieder zu verstärken. Eklatantestes
Beispiel ist Disney mit seiner Zeichentrick-Multicolor-Musical-Kinder-Version
von Victor Hugo's "Der Glöckner von Notre-Dame"; weiters:
"Sleepers", "The Island of Dr. Moreau" und "Die
Jury". Aber auch außerhalb Hollywoods allenthalben Literatur
auf Zelluloid: "Crash", "The Portrait of a Lady", "Trainspotting"
und "The Neon Bible", um nur einige zu nennen.
Ver-Filmungen stehen immer im Spannungsfeld des oben sehr grob skizzierten
Problems. Was aus der literarischen Vorlage wird übernommen? Die Handlung,
die Figuren, die Schauplätze oder das Ideengerüst, die Weltsicht,
die Stimmung, der Geist, die Philosophie dahinter. Und für wen bzw.
aus welchem Grunde werden solche Verfilmungen gemacht: Für die LeserInnen
der Vorlage, für die breite Masse, für eine interessierte Minderheit
von Cineasten, die das Buch nicht gelesen hat?
Werden
zum Beispiel nur die Äußerlichkeiten übernommen, so sind
alle Leser der Vorlage vor den Kopf gestoßen, weil sie sich das alles
ganz anders vorgestellt haben und nun eine "Vision" einer weiteren
Person (Drehbuchautor, Regisseur) aufgedrängt bekommen. Wird andererseits
versucht, den geistigen Hintergrund mit zu übertragen, gerät
das leicht zu einer blutleeren und kopflastigen Angelegenheit. Wenn schließlich
ein Werk wie "Der Glöckner von Notre-Dame" zu einem KinderKinoKassenKnaller
werden soll, kann man die Philosophie des Romans getrost vergessen und
sich mit einer äußerst skelettierten Handlung zufriedengeben,
oder eben nicht (Unser Aufruf in diesem Fall: Read the Book!).
Problematisch bei der Übertragung sind vor allem die formalen Mittel.
Filmtechnische Entsprechungen für den Stil eines Autors zu finden
ist nahezu unmöglich. "Ulysses" von James Joyce wurde nicht
nur aufgrund des gigantischen Umfanges noch nicht verfilmt, sondern auch,
weil die formale Konstruktion nicht transponierbar erscheint. In diesem
Sinne ist die Ver-Filmung immer ein Rückschritt, auch wenn der Stil
eines Regisseurs den Verlust des Autorenstils teilweise kompensieren kann.
Die oft so komplexe Bauweise eines guten Romans wird zugunsten einer mehr
oder weniger linear erzählten Story aufgelöst. Das wird nicht
nur dem literarischen Werk nicht gerecht, sondern läßt auch
das vergleichsweise junge Medium Film auf der Stelle treten.
Februar 97
wir lesen hören schauen linz