Marlies Feindlinger

Verlieren, Vernichten, Verfilmen?

Nicole Kidman in Isabel Archer in "Portrait of a Lady"Wenn wir einen Roman lesen, tauchen wir ein in eine Welt, die nicht real existiert. Die Worte auf den Seiten zu Zeilen und Absätzen formatiert, in Kapitel eingeteilt, heißen uns ungelesen - oder unverstanden - gar nichts. Erst unser Gehirn läßt aus den abstrakten Zeichen und den verstreuten Informationen Landschaften, Gebäude, Zimmer, Gegenstände und Menschen entstehen. Erst in unserem Denken fügen sich die Einzelteile zu einer Geschichte, die in Form und Inhalt ständig mit unserer Erfahrung, unserem (logischen) Nachdenken und unserer Phantasie rückgekoppelt wird. Das Wunder zwischen zwei Buchdeckeln besteht darin, daß keine zwei Leser desselben Buches exakt dieselbe Geschichte erzählt bekommen. Lesen an und für sich ist immer ein interpretatorischer Akt. Einen Satz zu lesen und ihn nicht in eine Beziehung zu mir zu bringen, ist kaum möglich.
Wenn wir einen Film sehen, ist unser Verhältnis dazu ein anderes. Alle Zusehenden schauen die gleichen Bilder, hören die Worte so, wie sie von den Darstellenden gesprochen wurden. In einer genau festgelegten Zeit wird eine durch Schnitte genau strukturierte Geschichte erzählt. Es gibt kein Vor- und Zurückblättern, kein Verweilen. Die Interpretation geschieht erst nach der Wahrnehmung. Das Bild muß gesehen und angeschaut werden, bevor es kommentiert und interpretiert werden kann. Diese zeitliche Diskrepanz bringt eine Schwierigkeit mit sich: Die Filmschaffenden müssen sich ständig entscheiden, ob sie die Geschichte vorantreiben oder Bilder zeigen wollen, die auf etwas hinter der Handlung Stehendes verweisen, das die Zusehenden zu sich in Beziehung setzen können.

Die Geschichte des Films ist durchzogen von Literaturverfilmungen und in jüngster Zeit scheint sich der Trend, auf bereits in Buchform erschienene Stories zurückzugreifen, wieder zu verstärken. Eklatantestes Beispiel ist Disney mit seiner Zeichentrick-Multicolor-Musical-Kinder-Version von Victor Hugo's "Der Glöckner von Notre-Dame"; weiters: "Sleepers", "The Island of Dr. Moreau" und "Die Jury". Aber auch außerhalb Hollywoods allenthalben Literatur auf Zelluloid: "Crash", "The Portrait of a Lady", "Trainspotting" und "The Neon Bible", um nur einige zu nennen.
Ver-Filmungen stehen immer im Spannungsfeld des oben sehr grob skizzierten Problems. Was aus der literarischen Vorlage wird übernommen? Die Handlung, die Figuren, die Schauplätze oder das Ideengerüst, die Weltsicht, die Stimmung, der Geist, die Philosophie dahinter. Und für wen bzw. aus welchem Grunde werden solche Verfilmungen gemacht: Für die LeserInnen der Vorlage, für die breite Masse, für eine interessierte Minderheit von Cineasten, die das Buch nicht gelesen hat?
John Malkovich als Gilbert Osmond in "Portrait of a Lady"Werden zum Beispiel nur die Äußerlichkeiten übernommen, so sind alle Leser der Vorlage vor den Kopf gestoßen, weil sie sich das alles ganz anders vorgestellt haben und nun eine "Vision" einer weiteren Person (Drehbuchautor, Regisseur) aufgedrängt bekommen. Wird andererseits versucht, den geistigen Hintergrund mit zu übertragen, gerät das leicht zu einer blutleeren und kopflastigen Angelegenheit. Wenn schließlich ein Werk wie "Der Glöckner von Notre-Dame" zu einem KinderKinoKassenKnaller werden soll, kann man die Philosophie des Romans getrost vergessen und sich mit einer äußerst skelettierten Handlung zufriedengeben, oder eben nicht (Unser Aufruf in diesem Fall: Read the Book!).
Problematisch bei der Übertragung sind vor allem die formalen Mittel. Filmtechnische Entsprechungen für den Stil eines Autors zu finden ist nahezu unmöglich. "Ulysses" von James Joyce wurde nicht nur aufgrund des gigantischen Umfanges noch nicht verfilmt, sondern auch, weil die formale Konstruktion nicht transponierbar erscheint. In diesem Sinne ist die Ver-Filmung immer ein Rückschritt, auch wenn der Stil eines Regisseurs den Verlust des Autorenstils teilweise kompensieren kann. Die oft so komplexe Bauweise eines guten Romans wird zugunsten einer mehr oder weniger linear erzählten Story aufgelöst. Das wird nicht nur dem literarischen Werk nicht gerecht, sondern läßt auch das vergleichsweise junge Medium Film auf der Stelle treten.


Februar 97


wir lesen hören schauen linz