Der Zug hielt in dem winzigen, von einigen Bogenlampen & dem reflektierenden
Schnee darunter spärlich beleuchteten Grenzbahnhof. Was für die
Pferdeeisenbahn Linz-Budweis der Kerschbaumer Sattel war, teilt sich derzeit
auf in zwei Stationen: Horní Dvoriste auf cechiser, Summerau auf
österreichischer Seite.
Ich
wollte eben das vom Gang durch eine Glasschiebetür getrennte Abteil
verlassen, als ein Zöllner in der Waggontür auftauchte &
uns Passagieren zurief: "Zollkontrolle! Alles zurück in die Abteile,
hier kann ich nicht kontrollieren!" (Mit "hier" meinte er
wohl den Gang des Waggons.) Schon dicht & dick vermummt in Erwartung
der Kälte draußen, setzte ich mich wieder auf die dunkelgrüne
Polsterung des CD-Waggons zurück, um die sogenannte Zollkontrolle
über mich ergehen zu lassen. Mein Visàvis auf der Fahrt von
Prag heraus, ein älterer Herr, verhielt sich ebenso. Er war so unauffällig
gekleidet, daß es schon wieder auffiel & hatte während der
Fahrt abwechselnd in deutsch- & cechissprachigen religiösen Schriften
gelesen & bei der Grenzkontolle in Horní Dvoriste einen Paß
der Ceska Republiká vorgewiesen.
In jenen Monaten, in denen der Winterfahrplan gültig ist, &
keine direkte Verbindung zwischen Linz & Budweis besteht, ist eine
Zugreise über die Grenze gar nicht so einfach: Von Prag respektive
Budweis kommend, bedeutet dies beispielsweise: Paßkontrolle der cechisen
Zöllner & damit verbunden kurzer Aufenthalt in Horní Dvoriste,
Fahrt bis Summerau, Paß- & strenge Zollkontrolle durch Beamte
der Republik Österreich. Immerhin werde verdammt viel geschmuggelt
in letzter Zeit (selbstredend hauptsächlich in Autos), vor allem Spirituosen,
Zigaretten & - Gartenzwerge (die grenznah wohnenden Oberösterreicher
- aber nicht nur diese - rächen sich an "ihren" Politikern
samt Sparpaket, indem sie auf Teufel-komm-raus bei jeder sich bietenden
Gelegenheit in Südböhmen einkaufen). Erst nach dieser Kontrolle
auf österreichischer Seite ist es erlaubt, den Zug zu verlassen, um
nach einer fahrplanmäßigen Wartezeit von etwa 25 Minuten (inkl.
Grenzkontrolle) in einer sogenannten Garnitur der ÖBB die Reise nach
Süden Richtung Linz fortsetzen zu können.
Die Doppel-Frage: "Haben Sie etwas zu verzollen, haben Sie
etwas mitgebracht, ein Geschenk?" beantwortete mein Gegenüber
mit leiser Stimme: "Ja, einen Kalender." - Der Zöllner nahm
diese Antwort sichtlich überrascht aber wortlos zur Kenntnis, was
für seine Menschenkenntnis sprach. Auch ich ging in mich, mein Gewissen
erforschend, öffnete Rucksack & Reisetasche, um unmißverständlich
zu zeigen, daß ich nichts zu verbergen hätte & kommentierte
das Sichtbargewordene mit den Worten: "Ein Bohemia-Sekt & einige
Bücher!", ein Geständnis, das auch mir keine Widerrede einbrachte,
sondern meinen Ausstieg ins kalte, dunkle Freie ermöglichte.
Hier,
auf "656 m ü.d.M." lag eindeutig der Schnee höher
als in Prag, 20 Zentimeter schätzte ich, als ich Richtung Bahnhofsgebäude
watete, & die Kälte war - wie auch schon während der letzten
Tage in der cechisen Metropole - eine wahrhaft kontinentale/klirrende/sibirische/polare:
wie auch immer man die Prädikate wählen mag, es geht wohl um
die sprachliche Annäherung an eine Naturgewalt, der man bislang mehr
oder weniger heroisch trotzen konnte.
Der Bahnhof Summerau in der Nähe eines Marktes mit dem bedeutsamen
Namen Rainbach ist ein bescheidener Grenzbahnhof mit einigen herumstehenden
Güterwaggons & nicht ganz so vielen ÖBB-Bediensteten, die
Weichen stellen, Fahrkarten verkaufen, Waggons rangieren & Züge
arrangieren; "unser" Zug, d.h. jener, der in ca. 20 Minuten abfahren
sollte, war noch nicht arrangiert, d.h. nicht vorhanden. Ich kaufte mir
eine Fahrkarte nach Gaisbach-Wartberg (dem meinem Wohnort nächstgelegenen
Bahnhof), lauschte dabei zwangsläufig dem lauten Gespräch einiger
nordamerikanischer Reisender, die auf den Boden stampfend & die Schuhe
bzw. die Sohlen gegenaneinanderschlagend vor dem überdachten Eingang
zum Fahrkartenschalter in der Kälte ausharrten, & begab mich dann,
nach einem Besuch der Toilette, zum Gros der Wartenden in den durchaus
wohlig-warm aufgeheizten Warteraum, in dem einige "einheimische"
Kids beiderlei Geschlechts, um ein 6er-Tragerl Bier sitzend (so wie ich
in ihrem Alter mit Freunden ums Lagerfeuer), offensichtlich etwas voreilig
begonnen hatten, schon einen Tag vor Silvester das Neue Jahr zu begrüßen.
Der aus Polen kommende Südamerikaner, der in Budweis zugestiegen war,
dann lautstark & hartnäckig aber ergebnislos vor meinem Abteil
mit dem Schaffner über die Höhe des Fahrpreises verhandelt hatte,
bandelte derweil mit einer cechisen Blondine an; ein Linzer erzählte
einem interessiert tuenden Pärchen seine Erlebnisse mit einem Prager
Taxifahrer, daß er jeden Tag gegen die Kälte eine Flasche Bailey
getrunken, & daß das Essen im Stadtteil Smíchov dem -
wie sich der Erzähler ausdrückte - Preis-Leistungs-Verhältnis
am besten entsprochen hätte.
Eine gar nicht so unrichtige Einschätzung, dachte ich, im
1. Bezirk & auf der Kleinseite ist es schwierig geworden, ein günstiges
& zugleich gutes Restaurant zu finden, Smíchov, noch immer eher
ein Stadtteil der Arbeiter & des Mittelstandes, ist vom Massentourismus
bislang noch verschont geblieben, aber wie lange noch? Seit 2 Jahren wird
an einem Tunnel von Stresovice nach Smíchov gebaut & eine internationale
Hotelkette hat schon zwei Komplexe - geländebedingt untereinander
mit einer Gondelbahn verbunden - in günstigster Lage errichtet.
Ja, Prag ändert sich täglich. Kaum hat es der ehrwürdige
Präsident geschafft, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, wird
schon einer seiner bedeutendsten Autorenkollegen in nämliche Anstalt
eingeliefert, Bohumil Hrabal ist seit ein paar Tagen im Spital & sein
Stammplatz im Goldenen Tiger verwaist. Nur ein paar Fotos von ihm (darunter
eines, auf dem er - über Havel hinweg - Clinton die Hand reicht) hängen
über dem typischen, von ihm immer wieder beschriebenen Brausen der
Stimmen der Trinkenden & Diskutierenden.
Ja,
& die Autoren Bohumila Grögerová & Josef Hirsal
haben mir erzählt, daß die Situation bezüglich Kaffeehäuser
immer schlimmer werde, das Café Slavia sei aufgrund von kriminellen
Spekulationen einer Amerikanerin noch immer geschlossen, im Privatisierungstaumel
habe man ihr das Lokal oder das ganze Gebäude um einen Pappenstiel
auf Jahre hinaus verpachtet; & in der "Malostranská kavárna",
einem Café, das zwar seit einigen Monaten wieder geöffnet ist,
jedoch aufgrund baulicher Veränderungen & eines konstanten Geräuschpegels
aus beliebiger wie belangloser "Hintergrundmusik" nicht mehr
die ehemalige Atmosphäre aufweist, habe ich in der Prager Zeitung
gelesen, daß nun auch das 1886 gegründete Café "Deminka"
zusperrt, weil die Eigentümer das Lokal an eine Bank(!) verpachten
wollen! Dieses Café in der Skrétova Nr. 1, in unmittelbarer
Nähe des Nationalmuseums, ist für die Prager Boheme, deren Künstler
& Literaten ebenso bedeutend gewesen wie das "Union" &
das bereits erwähnte "Slavia".
Abgesehen von der Kälte & den Touristenmassen hat mich
diesmal in Prag vor allem eine Ausstellung beeindruckt: "Cesk´y
surrealismus - retrospektivní v´ystava období 1929
- 1953", eine großartige Dokumentation
& Präsentation der cechisen Surrealisten-Gruppe, die mit der internationalen
surrealistischen Bewegung, vor allem mit den Kampfgefährten in Paris
(allen voran André Breton) in Verbindung gestanden hat. Eine notwendige
Relativierung, wer kennt denn im deutschsprachigen Raum schon Namen wie
Jindrich Styrsk´y, Toyen (die eigentlich Marie Cermínová
hieß), Karel Teige, Vítezslav Nezval oder Frantisek Hudecek?
Nicht nur der cechise Kubismus war eine sehr eigenwillige Variation des
von Frankreich ausgehenden Stils (wo sonst noch sind kubistische Bauten
& Möbel entstanden?), sondern auch der Surrealismus in Prag hatte
in Theorie (Manifeste!) & Praxis (Malerei, Graphik, Objektkunst, Fotografie,
Literatur etc.) eine Dynamik, die eher international bzw. nach Paris, eigenartigerweise
jedoch nicht nach Wien (oder Berlin) ausgerichtet war ...
Schließlich hielt ich die Atmosphäre nicht mehr aus
im Warteraum & trat wieder hinaus in die Kälte. Mein bescheidener
Begleiter vom Abteil, jener mit den religiösen Schriften & dem
Kalender als Geschenk, bog in diesem Moment ums Eck des Bahnhofs, er überbrückte
die Wartezeit offensichtlich mit einigen Runden ums Bahnhofsgebäude,
ein Verhalten, das ich bei dieser Kälte nur als Bußübung
interpretieren konnte. Oder spürte er etwa Abneigung oder gar Ekel
vor dieser Art von Menschenansammlungen?
Eine rote E-Lok schob eine Garnitur, bestehend aus drei Waggons,
in den Bahnsteig 2 ein & hielt mit leisem Quietschen. Der Zug Nr. 3823
Summerau - Linz stand zur Abfahrt um 19.52 Uhr bereit.
Josef Hirsal, geboren 1920 in Chomuticky u Horic, war Lehrer, Forstbeamter,
Verlagsredakteur, Hilfsarbeiter, »Propagandaredakteur« mehrerer
Verlage und Experimentalbühnen und seit 1966 freiberuflicher Schriftsteller
und Übersetzer - seit 1972 mit Publikationsverbot (das erst 1989 aufgehoben
wurde!); in diesen Jahren konnte er nur im Samisdat und Exilverlagen publizieren.
Hirsal lebt heute in Prag.
Erste Publikation 1940, danach außer Lyrik- und Prosabänden
- seit 1952 in enger Zusammenarbeit mit Bohumila Grögerová
- zahlreiche Anthologien, Kinderbücher und Übersetzungen. Auf
Deutsch erschien von ihm Böhmische Boheme (1994).
Bohumila Grögerová, geboren 1921 in Prag, wo sie bis
heute lebt. Auch sie publizierte Hörspiele, Kinderbücher, Tagebücher
in Form literarischer Montagen, Übersetzungen aus dem Deutschen, Französischen
und Englischen. Auf Deutsch liegt vor Die Mühle (gemeinsam mit Hirsal,
1991).
1988 erhielten beide den Österreichischen Staatspreis für Übersetzungen.
Bio-Bibliographisches |
Richard Wall, geb. 1953 in Engerwitzdorf/OÖ. Autor von Bildern & Texten. Wohnt & arbeitet - wenn nicht auf Reisen - in Au bei Katsdorf/OÖ. Seit 1980 Ausstellungen & Veröffentlichung der Texte in Anthologien & Literaturzeitschriften. |
Buchveröffentlichungen (Auswahl): "Blackthorn", ein Irlandjournal mit Zeichnungen & Fotografien des Autors, 1989 "Sommerlich Dorf", Miniaturen, Variationen, Spaziergänge, 1992 "Schwellenlicht/Schattenbahn", Gedichte, 1995 "HerzAsphaltMörderGrubenRhapsodie", Prosa, mit Illustrationen von Paul Jaeg, Verlag CC. U Rovell, 1996 "Steine Spuren Labyrinthe", Reiseskizzen & Essays, Verlag Grosser, Linz 1996. |
Februar 97
wir lesen hören schauen linz