SUMMERAU

Der Zug hielt in dem winzigen, von einigen Bogenlampen & dem reflektierenden Schnee darunter spärlich beleuchteten Grenzbahnhof. Was für die Pferdeeisenbahn Linz-Budweis der Kerschbaumer Sattel war, teilt sich derzeit auf in zwei Stationen: Horní Dvoriste auf cechiser, Summerau auf österreichischer Seite.

Richard WallIch wollte eben das vom Gang durch eine Glasschiebetür getrennte Abteil verlassen, als ein Zöllner in der Waggontür auftauchte & uns Passagieren zurief: "Zollkontrolle! Alles zurück in die Abteile, hier kann ich nicht kontrollieren!" (Mit "hier" meinte er wohl den Gang des Waggons.) Schon dicht & dick vermummt in Erwartung der Kälte draußen, setzte ich mich wieder auf die dunkelgrüne Polsterung des CD-Waggons zurück, um die sogenannte Zollkontrolle über mich ergehen zu lassen. Mein Visàvis auf der Fahrt von Prag heraus, ein älterer Herr, verhielt sich ebenso. Er war so unauffällig gekleidet, daß es schon wieder auffiel & hatte während der Fahrt abwechselnd in deutsch- & cechissprachigen religiösen Schriften gelesen & bei der Grenzkontolle in Horní Dvoriste einen Paß der Ceska Republiká vorgewiesen.

In jenen Monaten, in denen der Winterfahrplan gültig ist, & keine direkte Verbindung zwischen Linz & Budweis besteht, ist eine Zugreise über die Grenze gar nicht so einfach: Von Prag respektive Budweis kommend, bedeutet dies beispielsweise: Paßkontrolle der cechisen Zöllner & damit verbunden kurzer Aufenthalt in Horní Dvoriste, Fahrt bis Summerau, Paß- & strenge Zollkontrolle durch Beamte der Republik Österreich. Immerhin werde verdammt viel geschmuggelt in letzter Zeit (selbstredend hauptsächlich in Autos), vor allem Spirituosen, Zigaretten & - Gartenzwerge (die grenznah wohnenden Oberösterreicher - aber nicht nur diese - rächen sich an "ihren" Politikern samt Sparpaket, indem sie auf Teufel-komm-raus bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Südböhmen einkaufen). Erst nach dieser Kontrolle auf österreichischer Seite ist es erlaubt, den Zug zu verlassen, um nach einer fahrplanmäßigen Wartezeit von etwa 25 Minuten (inkl. Grenzkontrolle) in einer sogenannten Garnitur der ÖBB die Reise nach Süden Richtung Linz fortsetzen zu können.

Die Doppel-Frage: "Haben Sie etwas zu verzollen, haben Sie etwas mitgebracht, ein Geschenk?" beantwortete mein Gegenüber mit leiser Stimme: "Ja, einen Kalender." - Der Zöllner nahm diese Antwort sichtlich überrascht aber wortlos zur Kenntnis, was für seine Menschenkenntnis sprach. Auch ich ging in mich, mein Gewissen erforschend, öffnete Rucksack & Reisetasche, um unmißverständlich zu zeigen, daß ich nichts zu verbergen hätte & kommentierte das Sichtbargewordene mit den Worten: "Ein Bohemia-Sekt & einige Bücher!", ein Geständnis, das auch mir keine Widerrede einbrachte, sondern meinen Ausstieg ins kalte, dunkle Freie ermöglichte.

stiegeHier, auf "656 m ü.d.M." lag eindeutig der Schnee höher als in Prag, 20 Zentimeter schätzte ich, als ich Richtung Bahnhofsgebäude watete, & die Kälte war - wie auch schon während der letzten Tage in der cechisen Metropole - eine wahrhaft kontinentale/klirrende/sibirische/polare: wie auch immer man die Prädikate wählen mag, es geht wohl um die sprachliche Annäherung an eine Naturgewalt, der man bislang mehr oder weniger heroisch trotzen konnte.
Der Bahnhof Summerau in der Nähe eines Marktes mit dem bedeutsamen Namen Rainbach ist ein bescheidener Grenzbahnhof mit einigen herumstehenden Güterwaggons & nicht ganz so vielen ÖBB-Bediensteten, die Weichen stellen, Fahrkarten verkaufen, Waggons rangieren & Züge arrangieren; "unser" Zug, d.h. jener, der in ca. 20 Minuten abfahren sollte, war noch nicht arrangiert, d.h. nicht vorhanden. Ich kaufte mir eine Fahrkarte nach Gaisbach-Wartberg (dem meinem Wohnort nächstgelegenen Bahnhof), lauschte dabei zwangsläufig dem lauten Gespräch einiger nordamerikanischer Reisender, die auf den Boden stampfend & die Schuhe bzw. die Sohlen gegenaneinanderschlagend vor dem überdachten Eingang zum Fahrkartenschalter in der Kälte ausharrten, & begab mich dann, nach einem Besuch der Toilette, zum Gros der Wartenden in den durchaus wohlig-warm aufgeheizten Warteraum, in dem einige "einheimische" Kids beiderlei Geschlechts, um ein 6er-Tragerl Bier sitzend (so wie ich in ihrem Alter mit Freunden ums Lagerfeuer), offensichtlich etwas voreilig begonnen hatten, schon einen Tag vor Silvester das Neue Jahr zu begrüßen. Der aus Polen kommende Südamerikaner, der in Budweis zugestiegen war, dann lautstark & hartnäckig aber ergebnislos vor meinem Abteil mit dem Schaffner über die Höhe des Fahrpreises verhandelt hatte, bandelte derweil mit einer cechisen Blondine an; ein Linzer erzählte einem interessiert tuenden Pärchen seine Erlebnisse mit einem Prager Taxifahrer, daß er jeden Tag gegen die Kälte eine Flasche Bailey getrunken, & daß das Essen im Stadtteil Smíchov dem - wie sich der Erzähler ausdrückte - Preis-Leistungs-Verhältnis am besten entsprochen hätte.

Eine gar nicht so unrichtige Einschätzung, dachte ich, im 1. Bezirk & auf der Kleinseite ist es schwierig geworden, ein günstiges & zugleich gutes Restaurant zu finden, Smíchov, noch immer eher ein Stadtteil der Arbeiter & des Mittelstandes, ist vom Massentourismus bislang noch verschont geblieben, aber wie lange noch? Seit 2 Jahren wird an einem Tunnel von Stresovice nach Smíchov gebaut & eine internationale Hotelkette hat schon zwei Komplexe - geländebedingt untereinander mit einer Gondelbahn verbunden - in günstigster Lage errichtet.

Ja, Prag ändert sich täglich. Kaum hat es der ehrwürdige Präsident geschafft, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, wird schon einer seiner bedeutendsten Autorenkollegen in nämliche Anstalt eingeliefert, Bohumil Hrabal ist seit ein paar Tagen im Spital & sein Stammplatz im Goldenen Tiger verwaist. Nur ein paar Fotos von ihm (darunter eines, auf dem er - über Havel hinweg - Clinton die Hand reicht) hängen über dem typischen, von ihm immer wieder beschriebenen Brausen der Stimmen der Trinkenden & Diskutierenden.

Bohumila Gršgerova & Josef HirsalJa, & die Autoren Bohumila Grögerová & Josef Hirsal haben mir erzählt, daß die Situation bezüglich Kaffeehäuser immer schlimmer werde, das Café Slavia sei aufgrund von kriminellen Spekulationen einer Amerikanerin noch immer geschlossen, im Privatisierungstaumel habe man ihr das Lokal oder das ganze Gebäude um einen Pappenstiel auf Jahre hinaus verpachtet; & in der "Malostranská kavárna", einem Café, das zwar seit einigen Monaten wieder geöffnet ist, jedoch aufgrund baulicher Veränderungen & eines konstanten Geräuschpegels aus beliebiger wie belangloser "Hintergrundmusik" nicht mehr die ehemalige Atmosphäre aufweist, habe ich in der Prager Zeitung gelesen, daß nun auch das 1886 gegründete Café "Deminka" zusperrt, weil die Eigentümer das Lokal an eine Bank(!) verpachten wollen! Dieses Café in der Skrétova Nr. 1, in unmittelbarer Nähe des Nationalmuseums, ist für die Prager Boheme, deren Künstler & Literaten ebenso bedeutend gewesen wie das "Union" & das bereits erwähnte "Slavia".

Abgesehen von der Kälte & den Touristenmassen hat mich diesmal in Prag vor allem eine Ausstellung beeindruckt: "Cesk´y surrealismus - retrospektivní v´ystava období 1929 - 1953", eine großartige Dokumentation
& Präsentation der cechisen Surrealisten-Gruppe, die mit der internationalen surrealistischen Bewegung, vor allem mit den Kampfgefährten in Paris (allen voran André Breton) in Verbindung gestanden hat. Eine notwendige Relativierung, wer kennt denn im deutschsprachigen Raum schon Namen wie Jindrich Styrsk´y, Toyen (die eigentlich Marie Cermínová hieß), Karel Teige, Vítezslav Nezval oder Frantisek Hudecek? Nicht nur der cechise Kubismus war eine sehr eigenwillige Variation des von Frankreich ausgehenden Stils (wo sonst noch sind kubistische Bauten & Möbel entstanden?), sondern auch der Surrealismus in Prag hatte in Theorie (Manifeste!) & Praxis (Malerei, Graphik, Objektkunst, Fotografie, Literatur etc.) eine Dynamik, die eher international bzw. nach Paris, eigenartigerweise jedoch nicht nach Wien (oder Berlin) ausgerichtet war ...

Schließlich hielt ich die Atmosphäre nicht mehr aus im Warteraum & trat wieder hinaus in die Kälte. Mein bescheidener Begleiter vom Abteil, jener mit den religiösen Schriften & dem Kalender als Geschenk, bog in diesem Moment ums Eck des Bahnhofs, er überbrückte die Wartezeit offensichtlich mit einigen Runden ums Bahnhofsgebäude, ein Verhalten, das ich bei dieser Kälte nur als Bußübung interpretieren konnte. Oder spürte er etwa Abneigung oder gar Ekel vor dieser Art von Menschenansammlungen?

Eine rote E-Lok schob eine Garnitur, bestehend aus drei Waggons, in den Bahnsteig 2 ein & hielt mit leisem Quietschen. Der Zug Nr. 3823 Summerau - Linz stand zur Abfahrt um 19.52 Uhr bereit.


Josef Hirsal, geboren 1920 in Chomuticky u Horic, war Lehrer, Forstbeamter, Verlagsredakteur, Hilfsarbeiter, »Propagandaredakteur« mehrerer Verlage und Experimentalbühnen und seit 1966 freiberuflicher Schriftsteller und Übersetzer - seit 1972 mit Publikationsverbot (das erst 1989 aufgehoben wurde!); in diesen Jahren konnte er nur im Samisdat und Exilverlagen publizieren. Hirsal lebt heute in Prag.
Erste Publikation 1940, danach außer Lyrik- und Prosabänden - seit 1952 in enger Zusammenarbeit mit Bohumila Grögerová - zahlreiche Anthologien, Kinderbücher und Übersetzungen. Auf Deutsch erschien von ihm Böhmische Boheme (1994).
Bohumila Grögerová, geboren 1921 in Prag, wo sie bis heute lebt. Auch sie publizierte Hörspiele, Kinderbücher, Tagebücher in Form literarischer Montagen, Übersetzungen aus dem Deutschen, Französischen und Englischen. Auf Deutsch liegt vor Die Mühle (gemeinsam mit Hirsal, 1991).
1988 erhielten beide den Österreichischen Staatspreis für Übersetzungen.

Bio-Bibliographisches
Richard Wall, geb. 1953 in Engerwitzdorf/OÖ. Autor von Bildern & Texten. Wohnt & arbeitet - wenn nicht auf Reisen - in Au bei Katsdorf/OÖ. Seit 1980 Ausstellungen & Veröffentlichung der Texte in Anthologien & Literaturzeitschriften.
Buchveröffentlichungen (Auswahl):
"Blackthorn", ein Irlandjournal mit Zeichnungen & Fotografien des Autors, 1989
"Sommerlich Dorf", Miniaturen, Variationen, Spaziergänge, 1992
"Schwellenlicht/Schattenbahn", Gedichte, 1995
"HerzAsphaltMörderGrubenRhapsodie", Prosa, mit Illustrationen von Paul Jaeg, Verlag CC. U Rovell, 1996
"Steine Spuren Labyrinthe", Reiseskizzen & Essays, Verlag Grosser, Linz 1996.






Februar 97


wir lesen hören schauen linz