aus:

The Church of John F. Kennedy

Roman von Thomas Meinecke

"Auf der Suche nach den transatlantischen Luftwurzeln der europäischen - und vor allem auch: der deutschen - Kultur in Amerika bewahrheitet sich dem Reisenden Wenzel Assmann die These, daß die USA zwar imstande sind, die ganze Welt über den Einheitskamm ihres "Way of Life" zu scheren, daß sie nach innen jedoch eine bis heute äußerst heterogene Kulturlandschaft voller weißer Flecken und schwarzer Löcher aufweisen. Jene Kadenzen, die von den einzelnen ethnischen Gruppierungen der Salatschüssel U.S.A. auf die europäische Nationalstaatlichkeit, der sie einst entflohen sind, angestimmt werden, erscheinen dabei als nach wie vor utopischer Vielklang, der in krassem Gegensatz zu den engstirnigen Bestrebungen des während seines sogenannten Einigungsprozesses in lärmende National- und wütende Kleinstaaterei zerfallenden Europas steht."

Seien wir froh, daß die historische Abstimmung über die amtliche nordamerikanische Landessprache, wenngleich äußerst knapp, so doch entschieden und endgültig gegen das Deutsche ausgefallen ist, beruhigte Wenzel Assmann seine immer noch gegen Arno Schmidt und dessen im Ruhrpott-Slang parlierende Negroes aufgebrachte Geliebte, die wahre transatlantische Dialektik entfaltet ihre Früchte erst in der Zweisprachigkeit. Nichtsdestotrotz, wußte das Halbblut einzuwenden, hatte gerade die bilinguale Erziehung so manchen braven Diplomatenknaben in allerunglücklichste Odysseen, nicht selten sogar durch die zwielichtigen Ebenen der Transsexualität, gestürzt. Doch wer ist hier der Vater, wer die Mutter; kaum durch Mullers Hintertür, hatte der Deutsche seine Böhmin schon auf dessen buntbestickte Laken geschmissen, und welche der beiden Welten nun tatsächlich eher matriarchalische und welche eher patriarchalische Qualitäten besaß, mußte ein anderes Mal, und wenn sofort, dann allenfalls im Nonverbalen, geklärt werden. Kaum hatte Barbara Kruse allerdings ihr haitianisches Kleidchen fahren lassen, flog eben noch der Schmidt'sche Faulkner in den Müll; Assmann hatte das Buch lediglich seines umfangreichen Vorwortes über die interessante Beziehung zwischen Faulkner und Sherwood Anderson halber in die Staaten mitgenommen. Allein, die Aussicht auf Barbaras Schoß ließ Wenzel jede eventuelle Auswertung derlei marginaler Fakten vorerst ganz schnell vergessen.

Die Sonne war mittlerweile hinter der Hofmauer sowie den farbigen Holzdächern der Nachbarschaft untergegangen, und Wenzel Assmann goß sich gerade einige Gallonen kalten Wassers über den erhitzten Leib, hierzu diente ihm die Badewanne und ein gigantischer gläserner Krug, in dem Barbara zwei Tage vorher noch leckeren Apfelzider besorgt gehabt hatte, als Ferdinand Muller durch die windige Tapetentür platzte, welche seine vorderen Räume von dem rückwärtigen Liebesnest der Reisenden trennte, und geradewegs, pardon, auf den Gästefernseher zustürzte. Barbara, die hohen Wangen sanft gerötet, zog das Laken etwas höher, und Wenzel, unbeholfen, hielt den gläsernen Gallonenkrug vor sein immer noch halb erigiertes Glied: What's happening, Muller? Wie sich herausstellte, hatte des Vermieters tragbarer TV-Apparat seinen Geist aufgegeben, das heißt, einem seiner schwarzen Gärtner-Buben war wohl der Henkel abgerissen und daraufhin, so Muller, technisch ahnungslos, die Röhre durchgeknallt; dies ausgerechnet nun, da sein Idol, Mae West, die Unverwechselbare, über den frühabendlichen Bildschirm flimmerte. Auch Assman hatte der aufregenden Tochter eines irischen Preis-Ringers und eines bayerischen Korsett-Modells immer schon gern zugesehen und -gehört, also ließ er den Vermieter, ungeachtet seines ziemlich unpassenden Ein- und Auftretens, unwidersprochen anschalten. Kaum hatte Mae West die erste Hüfte geschwungen, erschien schon ein dunkler Schatten über der Kruse in der Tür. Kommen Sie doch rein, Lester, rief Barbara; Muller hätte seinen treuen kleinwüchsigen Gespielen glatt bis zum Abspann vor der Tür warten lassen. Hatten sich Barbara und Wenzel die letzten Fernseh-Abende ganz mit dem Russen-Putsch vertrieben, fanden sie es nun äußerst erfrischend, von W. C. Fields, bürgerlich Dukenfield, und seiner Klondike Annie auf den Boden jener Tatsachen zurückgeholt zu werden, welcher Geschichte erst verständlich macht, nämlich das virtuose Spiel der Hormone, Säfte und Enzyme. Die Reisenden hatten noch ein paar Sechser Dixie in der Eisbox, und als der Film schon längst gelaufen war, saßen die beiden ungleichen Liebespaare noch Stunden auf der untervermieteten Bettkante und erzählten sich lustige Andekdoten aus ihren bewegten Existenzen.

So hatte beispielsweise Muller einmal einen Kerl geliebt, der eine Agentur für sogenannte Humor-Bilder betrieb. Wann immer die beiden gemeinsam unterwegs gewesen waren, hatte der Mann seinen Fotoapparat dabei gehabt, von der klammheimlichen Hoffnung beseelt, eine alte Tante könnte etwa auf einer Bananenschale ausrutschen, dem Würstchenverkäufer das Toupet davonflattern oder Ferdinand Muller selbst könnte einmal mit dem Jackett in der Unterhose vom Klo kommen. Diese Liebschaft, schloß der Vermieter unter wieherndem Gelächter, war nur von kurzer Dauer, denn der Fotograf hatte sich urplötzlich in einen Bassett, den er regelmäßig im Tirolerhut zu knipsen pflegte, verknallt. Die frivole Dunkelkammer aber, brüllte Muller, war schon kurz darauf, Ihr könnt es glauben oder nicht, einem Orkan zum Opfer gefallen. Während sich Lester und Ferdinand nun über die zweifelhaften Qualitäten von Hundeärschen ausließen, begannen es Wenzel und Barbara zu bedauern, daß die Tapetentür von ihrer Seite aus nicht abzuschließen war. Bislang war der Vermieter immer nur nach kurzem, aber deutlichem Klopfen und meistens auch nach einer ebenso erklärten Antwort seiner Gäste eingetreten, um etwa hier ein zierliches Klunkerkettchen aus der Schatulle, dort einen ausgeleierten Paillettenslip aus der Schublade zu nehmen und sogleich wieder, auf pedikürten Zehenspitzen, in seinen plüschigen Räumen zu verschwinden; der heutige Überfall war eindeutig mit dem Ausfall des vorderen Fernsehapparates zu erklären. Tatsächlich ist der Amerikaner, dachte Assmann, wenn seine Röhre einmal aussetzt, zu fast allem fähig; hieran hatte schon mancher Franzose seine Philosophie entzündet. Ein letztes Bier und Feierabend, den Fernseher könnt Ihr gerne mit nach vorne nehmen! Schon schlichen die Hinterlader durch die Tür; Lester, so schnell keinem Henkel mehr sein Vertrauen schenkend, hatte den kleinen Sony dabei ganz sorgfältig untergefaßt und trug ihn nun, beinahe zärtlich, wie einen Bassett über die Schwelle. Barbara schlug das zerknitterte Laken zurück; endlich konnte auch sie sich mit Gallonen kühlen Leitungswassers übergießen.

Don't you feel my leg? Muller und Lester hatten eine ziemlich furiose Nacht hinter sich gebracht und trällerten nun bei ihrer vormittäglichen Gartenarbeit eines jener riskanten Liedchen in den blauen Himmel, die der Jazz-Veteran Danny Barker seiner wilden Frau Blue Lu einst auf den wollüstigen Leib geschrieben hatte. Assmann, der am Fliegengitter stand und sich rasierte, mußte unweigerlich an den texanischen Befreiungskrieg denken. Im April 1836 war die Lone-Star-Truppe von den Mexikanern beinahe in den Buffalo Bayou, und damit in die Niederlage, getrieben worden. Kommandant Sam Houston, als ahnte er, daß diese Gegend einen hübschen Standort für eine Siedlung mit seinem Familiennamen abgeben könnte, entschloß sich zu einem verzweifelten Überraschungsangriff auf die zahlenmäßig weit überlegenen Landsknechte unter Santa Anna. Nein, Santa Anna hatte die zukünftige Golf-Metropole wohl auf keinen Fall heißen sollen, sponn Assmann den diffusen, wenig roten Faden fort, schlimm genug, daß die Russen ihr Leningrad gerade vor kurzem in Sankt Petersburg zurückbenannt hatten. Sowohl Wenzel als auch Barbara hatte der kürzliche Russenputsch nicht eben gefallen. In einer Situation des labilen Gleichgewichts hatte der fette Jelzin alle Macht und allen Pöbel an sich gerissen; allein, was ließ sich da schon machen, man konnte ja nicht einfach, wie die Chinesen, in die Menge hineinfahren. Das schlimmste Pack sitzt immer in den Metropolen, hatte Assmann behauptet, schon dreißig Meilen weiter draußen, auf dem flachen Land, hätten sie vielleicht die sogenannte chinesische Lösung beklatscht. Auch Barbara erinnerte sich, 1989 ein Interview mit einem verhutzelten Chinamann gesehen zu haben, einem Reisbauern aus der Provinz, in welchem dieser geäußert hatte, sich von der amerikanischen Freiheitsstatue auf dem Tiananmen Platz beunruhigt, ja gänzlich bedroht zu fühlen. Kann man verstehen, hatte der Mannheimer daraufhin bemerkt. Barbara aber hatte auch die semipolitische Sucht der chinesischen Studenten nach farbenfroher italienischer Freizeitkleidung einsehen können. Tatsächlich wiesen sich oft die größten Konflikte dadurch aus, daß man beide Seiten verstand; eine Assmann'sche Erkenntnis, welche Erika wiederholt als Waffenhändler-Mentalität hinuntergeputzt hatte. Die in der Werbung unentwegt herausgestellte, angeblich völkerverbindende, sogenannte friedliche Revolutionen lostretende Qualität der bunten Freizeitsignale war allerdings auch Erika, der extravaganten, die ungefärbte Felle und dergleichen liebte, vom Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. And if you grab my thigh you wanna go up high. Little Lester war aus Assmanns Blickwinkel verschwunden, aber Muller fuhrwerkte ganz ungestüm mit einer Giftspritze an der Hauswand herum.

Wußtest du, liebe Barbara, schallte es aus dem Badezimmer, daß sich auch die blutige Entstehung deines Heimatstaates unter der süßen Melodie einer kaum weniger schweinischen Kanzone vollzog? Nachdem Houston nämlich beschlossen hatte, die in der Mittagssonne dösenden Mexikaner zu überrennen, versuchte er, eine kleine Band zusammenzustellen, welche seiner Truppe den Marsch blasen sollte. Jedoch, kaum einer der rauhbeinigen Söldner hatte sich jemals musikalisch betätigt gehabt, und erst in der sprichwörtlich letzten Minute vor dem Angriff stieß der Kommandant auf einen deutschen Rekruten, welcher die Pfeife blasen, und einen freigelassenen Mohren, der die Trommel rühren konnte. Kurzum, das einzige Lied, das beide gekannt hatten, war Come To the Bower, ein sogenanntes riskantes gewesen. Seines schlüpfrigen Textes entkleidet, mit deutschem Odem geflötet und von afrikanischem Schmiß beschwingt, diente es der historischen Niederwerfung der Mexikaner als motivierende Musikbegleitung. So mancher Texas-Kämpfer wird sich damals, von Pfeife sowie Trommel stimuliert, gleichsam zu seinem fernen Liebchen durchgesäbelt haben. Kein Laut von Barbara; Wenzel bespritzte sich mit einem billigen Rasierwasser, das er in Schwegmann's Supermarkt, Ecke Saint Claude, gekauft hatte, verließ das Bad und schaute nach seinem blondsprossigen Halbblut. Mit Assmanns Kopfhörer auf den Ohren, eine Etude Louis Moreau Gottschalks in denselben, hatte sie kein Wort von Wenzels historischem Histörchen mitbekommen. Auch der Deutsche liebte des New Orleanser Romantikers Klavierwerke, aber insgeheim zog er ihnen die schweinischen Lieder des kreolischen Ehepaares Danny und Blue Lu Barker vor.

Thomas Meinecke (2. v. l.) und seine Bandkollegen von FSK


Thomas Meinecke, 1955 in Hamburg geboren, ab 1977 in München lebend, seit 1988 die USA bereisend, 1994 in ein oberbayrisches Dorf gezogen, ist Schriftsteller (Mit der Kirche ums Dorf, 1986; Holz, 1988), Musiker ("Freiwillige Selbstkontrolle/FSK", seit 1980) und Radio-DJ (BR2 "Zündfunk", seit 1985).
The Church of John F. Kennedy ist Thomas Meineckes erster Roman und ist Ende Mai als Suhrkamp Taschenbuch es 1997 erschienen.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags Frankfurt/Main.

JUNI 96

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