Franz Kain

aus:

Auf dem Taubenmarkt


Sein Heranwachsen und Wachsen fiel in eine Zeit großer Umwälzungen. Aber das Zeitmaß war durcheinandergeraten. Alles sprach für einen zwar steilen, aber kurzen Weg bis zur Umwälzung aller Werte. Nach dem Krieg oder dem Zeitpunkt, da er sich dem Ende nähert, kommt die Revolution, das war das Amen im Gebet der Revolutionäre. So war es bei der Pariser Kommune, bei der Oktoberrevolution 1917 und bei der Revolution 1918 und 1919. Nach dem Februar kommt der Oktober, wirklich und symbolisch, mögen die wenigen Monate auch einige Jährchen sein, aber eben nur wenige, das weiß doch jedes Kind.
Und daß ein System, das den Krieg in sich trägt, wie die Wolke das Gewitter, wie es der alte Jean Jaurès ausgedrückt hätte, und dies auch in grauenvoller Weise in einem Menschenalter gleich zweimal manifestiert und erlitten wurde; daß der Krieg für immerwährende Zeiten kompromittiert sein würde, war ebenfalls völlig klar. Wenigstens bei allen Menschen, die guten Willens sind. (Bei solchen Wunschgedanken stiegen stets biblische Sprachbilder aus dem Geistesstoff seiner Jugend auf.)
Das meiste von allem Ungemach, das er erleiden mußte, kommt aus dem Widerspruch zwischen großem Sprung und beharrender Realität. In dieses Mißverhältnis läßt sich beinah alles einordnen an Fehlmeinungen, Fehlverhalten und Fehltaten. Dieses Übel kannten sie aus der Geschichte und sie waren nicht müde geworden, es anzuprangern und davor zu warnen; zu wenig und zu spät. Dadurch erkannten sie zu langsam, daß das Rezept, das sie selbst verschrieben, auch von Übel war: zu viel und zu früh. Es knirschte und knirschte. Dabei war es zunächst gar nicht leicht auszumachen, ob es ein Knirschen der Widersprüche war, oder ein Krachen der Knochen, wie es schnelles Wachstum mit sich bringt.
Sie dachten in Strukturen, die sich als richtig erwiesen hatten in schwierigen und entscheidungsschwangeren Zeiten. Sie vergaßen jedoch dabei, daß die Richtigkeit solcher Strukturen meist nur für die Zeit gilt, die sie hervorgebracht hat. Das Sein bestimmt auch heute das Bewußtsein. Wenn das Sein unausgewogen ist und karg, dann kann das Bewußtsein zwar vorübergehend euphorisch, aber nicht wirklich tragfähig sein für die Realisierung der großen Vision.
Jugendzeit, so bitter sie im Einzelnen auch gewesen sein mag, ist immer überglänzt, die "Sachen" treten zurück, auch wenn sie sichtbar bleiben. In den Mannesjahren aber kommen die Fakten stärker hervor, der Schmelz wird sperriger. In der Vergangenheit kennen die Leut' sich aus, nicht aber in der Gegenwart, sie ist in jeder Hinsicht verwirrend. Damit aber auch die Gegenwart einst "überglänzt" sein wird, ist Fixierung des Gerippes der Zeit notwendig, der Zustände und ihrer Personen. Die mittleren Konturen gehen meist unter und doch sind es vorwiegend sie, die den Bau tragen. Was unterhalb der Haupt- und Staatsaktionen geschieht, ist das wirkliche Leben. Dessen Ingredienzien erscheinen manchmal dürr und trocken, weil sie, ganz anders als die Vergangenheit, nicht anschmiegsam sind. Davon mag man weniger gerührt sein, aber eine Heimstatt schaffen, heißt zunächst Bauarbeit zu leisten. Bald beginnt sich hinter den Ereignissen der Horizont zu verfärben. Dort wird das Eckige abgerundet und das Gewöhnliche wieder emporgehoben in ein wärmeres Licht.

Er hätte sich gerne einige Wochen versteckt, wurde aber von der Partei sofort nach Linz "einberufen".
Sein Einzug war zwiespältig. Bei der Landesleitung ging es recht zivil zu und eine Sekretärin klagte, wie schwer es sei, die diversen Ausschüsse immer mit den geeigneten Leuten zu besetzen, denn "wir haben keine Amtsräte, die man auch während der Dienstzeit abstellen kann."
Der Landesobmann war von hoher sportlicher Gestalt. An den Händen fehlten ihm einige Finger, die er bei einem Bergunfall eingebüßt hatte. Er war zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt gewesen und war auch in der Strafanstalt Garsten ein Kernpunkt der illegalen Bewegung. Damasus legte einige Gedichte auf den Tisch.
Der Funktionär nahm die Papiere und legte sie auf zwei hohe Papierstöße. Er sagte nebenbei, darüber werde man noch reden müssen. Dann eröffnete er Damasus, daß er für die Arbeit in der Zeitung vorgeschlagen sei, denn man habe erfahren, daß er auch in der Gefangenschaft schon schreibend tätig gewesen war. Er bemerkte die unschlüssige Haltung des Besuchers und meinte lachend: Zum Ausruhen und Erholen wird erst später Zeit sein. Wenn's wahr ist, fügte er sarkastisch hinzu.
Ein anderer Funktionär trat in das Zimmer, warf einen Blick auf die Gedichtmanuskripte und sagte spöttisch, da komme ja schon wieder so ein Verserlschreiber. Als ihn der Landesobmann aufklärte, daß es sich bei dem jungen Mann um "einen "alten Genossen" handelte, sah der Funktionär den Gebirgsbauern zweifelnd an.

Damasus fand in der schwer mitgenommenen Stadt Unterkunft bei einem Verwandten, der Mitglied der NSDAP gewesen war und sich von der Anwesenheit eines "KZlers" in der Wohnung einigen Nutzen versprach. Er wurde mit Arnolt Bronnen bekannt, der ihn durch dicke Brillengläser musterte und mit heiserer Stimme empfing, die von einer Verletzung im Ersten Weltkrieg herrührte.
Der Schriftsteller, der einige Wochen Bürgermeister von Goisern gewesen war, war nun Kulturredakteur bei der KP-Zeitung.
Damasus war gekränkt, als ihn Bronnen zur ersten Arbeit einteilte: Auf der Bühne eines Gasthaussaales in "Hertha Kumpfmüllers Volksbühne" wurde von einer Truppe, deren Mitglieder gegenwärtig ohne Engagement waren, Ludwig Anzengrubers "Der G'wissenswurm" gespielt. Diese Premiere sollte er rezensieren.
Die Aufführung war voll derber Komik. Damasus hatte zwar viel Lenin, auch die "Männer" (Thomas und Heinrich Mann) und sonst allerlei gelesen, Ludwig Anzengrunber aber war ihm nur wenig bekannt.
In der Wohnung des Verwandten wurde er dann in einem Lexikon aus den Neunzigerjahren fündig, dort gab es einen längeren Aufsatz über Anzengruber. Er schrieb die ganze Nacht an seiner Rezension, dabei die Quelle aus dem Lexikon vorsichtig benützend. Er schrieb die Rezension mehrere Male, bis sie sich "leicht und locker" las, brachte das Manuskript, das er mühsam auf der alten Schreibmaschine heruntergestottert hatte, am frühen Morgen in die Redaktion und legte es Bronnen auf den Schreibtisch. Dann verließ er fluchtartig wieder die Stadt, denn er wollte einer Diskussion über den "Schmarrn" aus dem Weg gehen.
Er war daher nicht wenig erstaunt, als die Rezension zwei Tage später in der Zeitung erschien, ohne Änderungen und mit seinem vollen Namen, zu dem der Geburtsort hinzugefügt war, so daß sich die Bezeichnung las wie der Familienname eines Adeligen, nachdem das "von" ja 1918 abgeschafft worden war: Brunner-Waldenfels oder Woinovich-Sprinzenstein.
Bronnen hatte ihm später gesagt, er habe es wohl gerochen, daß Damasus bei der Rezension des Anzengruberstückes abgeschrieben habe, aber es sei in gefälliger Form und "progressiver Weise" geschehen. Nach diesem "Gesellenstück" wurde Damasus mit 1. Mai 1946 in die Redaktion aufgenommen mit einem Bruttogehalt von 234 Schilling im Monat.

Die Stadt eroberte sich Damasus nur langsam. Die mächtige Donau war die Demarkationslinie zwischen amerikanischer und sowjetischer Besatzungszone, sie wurde ein Gebirgsersatz und er überquerte sie täglich mehrmals.
Politisch hatte er noch keine "tätige" Bleibe gefunden. Er war in der Wohnorganisation der Gehilfe des Vertrauensmannes und in der Bezirksleitung der Gehilfe des Volksbildungsreferenten. Sein vermeintlicher "Informationsüberhang" aus der Gefängnis- und Gefangenschaftszeit war nicht recht gefragt. Sie gaben damals Mitgliedsbücher aus, mit denen sie, so wurde erklärt, bis in die Volksdemokratie marschieren würden.
In Goisern hatte ihm der Gemeindearzt, der schon den Häftlingen in Garsten geholfen hatte, (deswegen ihn der Bürgermeister, ebenfalls ein "Garstener", in die Gemeinde holte,) Lebensmittelkarten für TBC-Kranke verschrieben. Von der Wirtschaftsstelle bekam er einen neuen Luftwaffenrock, den ihm eine befreundete Schneiderin mit Hornknöpfen und grünem Kragen ausstattete, so daß ein "Trachtenrock" entstand. Eine schwarz gefärbte Uniformhose, in der er heimgekehrt war, wendete ihm die Mutter. Das Ölfarben-"PW" schimmerte zwar noch durch, aber die Hose war aus altem guten Tuch der amerikanischen Friedenszeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Er wollte da und dort an alte Sehnsüchte anknüpfen, aber es gelang ihm nicht, weil ihm die Jahre fehlten, in welchen sich so vieles "von selbst" ergibt und abschleift. Wie schwer ihn die Vergangenheit belastete, zeigte sich bei einer kuriosen Begegnung in Linz.

Auf der Donaubrücke, mitten im "Niemandsland", sprach ihn ein Mädchen mit der kuriosen Feststellung an, er mache einen "vertrauenswürdigen Eindruck".
Das Mädchen hatte seinen Ausweis vergessen und konnte nicht vor und zurück, denn die Russen kontrollierten Aus- und Eingang, die Amerikaner nur den Eingang in ihre Zone. Die Frau gab ihm den Schlüssel zu ihrem Zimmer, dort sei eine Freundin und von der werde er den Ausweis bekommen.
Das Haus, in das er kam, war das Gefängnis des Landesgerichtes und das Zimmer war eine ehemalige Zelle. Die Freundin hatte gerade Mannsbesuch, sie war nicht freundlich über den Interruptus, aber er bekam den Ausweis und brachte ihn der Jungfrau über der Donau, die hochangeschwollen Schmelzwasser der Nordalpen abführte. Und sie, der er so vertrauenswürdig vorgekommen war, entpuppte sich als eine junge Aufseherin im Gefängnis. Sie kamen sich näher in Wiesen und Auen, bei saurem Most und faulig schmeckendem Rübenschnaps. Er dachte frohlockend, daß es ganz besonders "geil" zugehen werde in der ehemaligen Gefängniszelle mit der ausgezogenen jungen Aufseherin im Arm. Es würde eine Leidenschaft voll von Widersprüchen sein. Aber da war noch immer der Geruch von Steckrüben im Mauerwerk und ständig klirrten die Schlüssel drüben im Zellentrakt. Er war wie gelähmt und unfähig, ihre und seine Erwartungen zu erfüllen. Das Trauma der Vergangenheit hatte ihn eingeholt.
In der Partei dominierten die "Vierunddreißiger", die im Februar 1934 mit der Waffe in der Hand versucht hatten, den Faschismus abzuwehren. Diese Funktionäre brachten große Erfahrungen mit, weil sie lange in der sozialdemokratischen Bewegung organisiert gewesen und durch mächtige Jugendorganisationen gegangen waren. 1934 hatten sie sich von der Sozialdemokratie abgewandt aus Enttäuschung über deren Politik. Sie hatten allerdings auch Eigenschaften von Konvertiten angenommen und ließen an der Bewegung, der sie selbst so lange angehört hatten, kein gutes Haar. Ihr Verhältnis zur Sozialdemokratie war ständig von größter Bitterkeit geprägt.

Diese Verbitterung wurde allerdings genährt durch das sichtbare Einschwenken der "neuen" Sozialdemokratie auf die Linie der Wiedererrichtung der alten "Ordnung" und auf eine primitive Feindseligkeit gegen "die Russen". Sozialdemokraten hatten die einheitliche Jugendbewegung gesprengt, den einheitlichen Verband der Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus aufgelöst und ein sozialdemokratischer Innenminister begann schon 1946 den Sicherheitsapparat von Kommunisten zu "säubern".
Da gab es im Linzer Rathaus ein Mitglied der Stadtregierung, das für den Stadtteil Urfahr, also den sowjetischen Sektor der Stadt verantwortlich war. Bei den Sitzungen des Gemeinderates hatte der Funktionär jahrelang nur ein und denselben Zwischenruf parat, wenn kommunistische Mandatare das Wort ergriffen. Der Zwischenruf lautete "USIA". Dieses Wort war die Abkürzung für die russische Bezeichnung der Verwaltung des sowjetischen Eigentums in Österreich, das ihr als ehemals deutsches Eigentum auf Grund der Potsdamer Beschlüsse zugefallen war. Es entstanden sogenannte USIA-Läden, in denen Waren billig feilgeboten wurden, die aus solchen Betrieben oder deren Handelsverkehr stammten. Der Haß der Kaufleute auf diese Einrichtung war verständlich. Der Hauptagitator gegen die USIA aber war der sozialdemokratische Stadtrat, ein Friseur, dem seine Feinde vorwarfen, er habe früher "die Huren frisiert".
Oder da war ein akademischer Schulmeister Bürgermeister. Warf ein Kommunist einem ehemaligen Sozialdemokraten vor, daß er zu den Nazi übergelaufen sei, versäumte der akademische Bürgermeister nicht zu "ergänzen", daß auch der Redner "übergelaufen" sei, nämlich zu den Kommunisten.
Die Arbeit in der Redaktion war zunächst "rein" kulturell. Bronnen teilte Damasus zum Besuch von Veranstaltungen der "Volksbühnen" ein, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Die Aufführungen fanden meist am Samstag oder Sonntag statt und in Gemeinden, die nur mühselig zu erreichen waren.
Zu verschiedenen Gedenktagen gab es "zentrales Material". Aufsätze von Hugo Huppert und Georg Knepler. Öfter aber wurde Damasus auch beauftragt, "Hunderter-Aufsätze" zu schreiben, also Aufsätze zu hundertsten Geburts- oder Todestagen.
Um Lebensläufe und Werkanalysen nachzulesen, ging er in die Stadtbücherei, die im Keller jener Realschule untergebracht war, die Adolf Hitler besucht und in der er entscheidende deutschnationalistische und antisemitische Eindrücke empfangen hatte. Im breiten Vestibül der Schule war an der Stirnwand zwischen den Stiegenaufgängen noch ein großer weißer Fleck zu sehen. Hier war 1938 eine Tafel angebracht worden, auf welcher der Schulbesuch des "Führers" für "ewige Zeiten" festgehalten war. 1945, fast genau sieben Jahre später, wurde die Tafel wieder entfernt, aber so, daß ihr Fehlen schmutzig grau noch lange zu bemerken war. Die träge Schulbürokratie zeigte "Gesinnung", denn natürlich wäre genug Kalk zum Übertünchen des "Führer"-Fleckes da gewesen.

Kaum hundert Meter entfernt von der "Führerschule" war der Platz, an dem bis zur "Kristallnacht" im November 1938 das jüdische Bethaus gestanden war. Die Ruine wurde nach der Einäscherung der Synagoge abgetragen. Der jüdische Friedhof wurde an Schrebergärtner vergeben.
Vor dem Krieg war das Bethaus für die rund 600 Juden von Linz zu klein. Auch beim Wiederaufbau der Synagoge nach dem Krieg, der erst in den Sechzigerjahren erfolgte, wäre sie eigentlich zu klein gewesen, denn zu den wenigen Rückkehrern kamen doch nach und nach Zuwanderer aus Ungarn, Böhmen und Jugoslawien, die sich stolz als "Altösterreicher" bezeichneten.
Der Präsident der Kultusgemeinde, der Konfekthersteller Schwager, anheimelnd "Zuckerl-Schwager" genannt, zitierte nach der Wiedereröffnung beim Mittagessen den alten Wortwitz: Wenn alle hineingehen, dann gehen nicht alle hinein, weil aber eh nicht alle hineingehen, gehen alle hinein.
"Zuckerl-Schwager" ersuchte Damasus, er möge bei "seinem Genossen" Sigmund Margulies vorfühlen, ob er nicht bereit wäre, die Funktion des Vorbeters in der Synagoge zu übernehmen, denn die Gemeinde habe keinen. Margulies, dessen Frau Camilla 70 Verwandte in Konzentrationslagern verloren hatte, lehnte ab. Er wolle und könne für Israel nicht beten, sagte er.

Damasus studierte die Lebensläufe und Werksbeschreibungen, wie sie in den robusten Ausgaben des Max Hesse-Verlages Leipzig als Einleitung standen. Er ackerte die Aufsätze von gelehrten Professoren durch und begann dann, die Belehrungen marxistisch "aufzufrischen". Manchmal, wenn er später solche Aufsätze mit Neueinschätzungen großer Männer wieder las, mußte er lachen über vulgärmaterialistische Vergröberungen, die er da kühn hineingearbeitet hatte, um eine neue Sicht der Dinge zu bewirken.
"Gesellschaftlich" war er in zwei Beiräten der Stadtverwaltung und in einem des Landes Oberösterreich tätig. Im Brennstoffausschuß ging es darum, die staatliche Forstverwaltung zu drängen, bestimmte Waldstücke zur Eigenschlägerung freizugeben, damit sich die Leute "legal" Brennmaterial für den Winter beschaffen könnten.
Die Forsträte wehrten sich hartnäckig. Diese Bestände seien von altersher für Katastrophen reserviert, argumentierten sie, damit im Fall eines Brandes oder eines sonstigen Elementarereignisses sofort Holz für den Wiederaufbau zur Verfügung stünde.
Damasus widersprach den Forstexperten, die er als konsequente Streiter der "kaiserlichen Bundesforste" wiedererkannte. Die frierende Bevölkerung brauche ohnehin kein Bauholz, sondern Brennholz. Die Buchen werde man also wohl freigeben können, nachdem man ja jetzt keine Schießbaumwolle mehr brauche.
Der akademische Bürgermeister, der den Vorsitz führte und fleißig Sittennoten verteilte - "der Herr meint schlägern, wenn er hauen und schlagen sagt" -, konnte in diesem Fall nicht umhin, dem "Herrn Vorredner" recht zu geben, der da, so dürfe er wohl sagen, den Nagel auf den Kopf getroffen, respektive das Kind beim Namen genannt und, volkstümlich ausgedrückt, gezeigt habe, wo der Bartl den Most hole.
Ein Waldstück am Attersee wurde schließlich den frierenden Linzern zur Schlägerung zugewiesen. Wenn auch das Holz bis zum Herbst nicht trocken war, es brannte doch, wenn man es nur klein genug spaltete. In diesem kalten Winter 1947 roch es in den Straßen der Stadt kräftig nach Rauch von Buchenholz wie in einem Bauerndorf.
In der ersten Zeit seiner Linzer Jahre gab die sowjetische Besatzungsmacht ein größeres Barackenlager zum Abbruch frei. Es war ein riesiges Lager für "Fremdarbeiter" gewesen. Neben dem Lager stand ein einziges steinernes Haus, das als Bordell gedient hatte und nun das einzige Spital für den sowjetisch besetzten Teil der Stadt war.
Zusammen mit einer Freundin machte sich auch Damasus mit einem kleinen Leiterwagen auf den Weg zu den Baracken. Schrebergärtner hatten schon die stärkeren Balken requiriert, zum Verbrennen blieben die schönen gehobelten Bretter.
Beim Umgang mit der Handelskammer entdeckte Damasus einen Beamten mit dem Namen Dr. Kaltenbrunner, der in der Sektion Industrie der Kammer tätig war. Es war der Bruder von Ernst Kaltenbrunner, der gerade vor dem internationalen Gerichtshof in Nürnberg stand. Die Familie war offenbar "geteilt": die eine Hälfte katholisch-konservativ und daher handelskammerwürdig, die andere faschistisch bis zur direkten Verantwortung für den Massenmord. Es war nicht bekannt, daß der Kammer-Kaltenbrunner sich irgendwann in irgendeiner Weise von den Untaten seines Bruders distanziert hätte. In der Stadt gab es auch eine Elektrofirma und ein Rechtsanwaltsbüro, die den Namen Eichmann trugen. Der Rechtsanwalt war der Bruder des Judenschlächters Eichmann, der um diese Zeit wohl gerade auf dem Weg ins südamerikanische Versteck war.
Die Namen Eichmann und Kaltenbrunner waren also in der Stadt auf eine makabre Weise lebendig. Und die Sippe des berüchtigten Gauleiters Eigruber, der wegen seiner Greueltaten bald hingerichtet werden sollte, war auch da. Selbstverständlich. Sie begann sich kräftig wirtschaftlich zu regen.
Sein Verwandter war inzwischen "entnazifiziert" worden und drängte Damasus, sich ein anderes Quartier zu suchen. Als politisch Verfolgter wurde er schließlich in ein Untermietzimmer eingewiesen, in die Wohnung einer alten Dame, die ihn mit "Herr Kollege" anredete, weil sie früher einmal in der Inseratenabteilung einer Zeitung gearbeitet hatte. Das Haus war schwer bombengeschädigt und das Schilfrohr des Plafonds hing ins Zimmer herab. Die alte Dame mußte Beziehungen zum Land haben, denn in der Küche bewahrte sie immer ein großes Stück Speck auf. Sie legte es, wenn sie einkaufen ging, so hin, daß er es sehen mußte, ihn so indirekt verführend, gelegentlich ein dünnes Scheibchen diebisch abzuschneiden.

Im Haus gegenüber wohnten einige Ami-Mädchen mit großem Zulauf. Damasus kam sich vor wie an einer Straße, die zu einem Truppenübungsplatz führte. Er spürte, daß er hier sehr leicht noch einmal zum "Troublemaker" gestempelt werden könnte.
Später fand er auf der nördlichen Donauseite, im "demokratischen Sektor", wie er spöttisch sagte, eine Unterkunft.


"Auf den Bücherregalen verstauben die kühl gestylten Bestseller. Aber der Franz Kain wird mich und den Stoascheißer-Karl ein Leben lang wärmen."
Paul Yvon

Franz Kains Roman "Auf dem Taubenmarkt" ist 1991 in der "Bibliothek der Provinz" erschienen.




MAI 96
wir lesen hören schauen linz