Die Befreiung meiner Großmutter aus der Sicht des deutschen Idealismus.


Meine großbürgerliche Großmutter hatte ihr Lebtag keinen bürgerlichen Beruf erlernt, kannte - außer im Krieg - keine Geldsorgen, und wäre am liebsten so wie die Helden ihrer geistigen Welt Schriftstellerin geworden. Der Krieg kam ihr dabei gerade recht, und sie hortete Kopien ihrer Korrespondenz und ihre Tagebucheintragungen, um daraus einen grand roman aus den bitteren Zeiten zu zimmern. Nach dem Krieg hatte sich tatsächlich ein Verleger mit fragwürdigem Geschmack gefunden, der bereit war, "Die Braune Not. Tagebuch einer Unpolitischen " drucken zu lassen. Glücklicherweise verstarb der gute Mann rechtzeitig oder ging in Konkurs, so daß nur ein Exemplar erhalten geblieben ist, nämlich jenes, das mein Vater aus dem Typskript binden ließ. Ich versuchte jahrelang "Die Braune Not" zu lesen, doch allein das Vorsatzblatt mit dem Gedicht "Ich frage..." genügte, um die Mehrfachportion Pathos wieder ins Regal zu stellen.
"Wie arm und schwach müßt ihr sein / daß solch ein Glück es bedeutet / in Trachten und buntem Rock zu gehen / das blitzende Messer / und die Pistole zur Seite / Fühlt ihr so sicher und männlich euch / gegürtet in Waffen? " - das war die zweite Strophe. Als Luxuspazifistin und Individualistin ("Was nützt es in dieser Zeit der Kriegsnot, meinen Pazifismus immer wieder zu betonen? Nein, es nützt nichts und niemandem, stammelte ich auch tausendmal oder brüllte es hinaus: Ich hasse den Nationalsozialismus, ich hasse den Krieg und verneine ihn und müßte er sein - müßte - ich verneine und hasse ihn!") war ihr das geistige Klima ihrer Zeit, wie sie es wohl genannt hätte, zuwider; ein wenig Hurrastimmung hatte sich doch auch bei ihr eingeschlichen. "An einen Freund in Ostasien " schrieb sie, den unschuldigen Mann in ihren Roman hineinziehend "...ist es doch in hohem Grade alarmierend, wie sich die Berichte über den Siegeszug der deutschen Armee in ihr Gegenteil verwandeln. Sind wir von Gott denn ganz und gar verlassen, daß all das möglich ist? Der Name Stalingrad dürfte Geschichte werden ".

Am meisten machte ihr allerdings nicht das Leid anderer zu schaffen, sondern ihr Leiden daran, keine großen Gesten gegen den Faschismus setzen zu können. "Oh Schande ob der heutigen Menschheit, für die alles nichts als Kinoleinwand ist! ", menetekelte sie, als der Krieg noch weit weg von Wien war. Im Großen und Ganzen schickte sie sich drein und versuchte, dem Krieg wenigsten ästhetische Prosa abzugewinnen. "Ein Segen ist manchmal die vielgelästerte Gewohnheit! Wie sonst vermöchte mancher, der geistig Verfeinerte vor allem, in diese Art von Leben sich schicklich zu fügen, ja ihm noch bessere Seiten abzugewinnen? " Die "besserenSeiten " wurden rarer. Im Burggarten kündigte sich das Eintreffen der Front bei Wien an, vorerst in Form der Verwundeten: "Auf dem kiesbestreuten Vorplatz zum Garten und auf einer weitgedehnten Seitenterasse machen Beinverwundete gymnastische Übungen. Faustball und Fußball ergötzen die Minderversehrten ". Die Autorin dieser Zeilen ergötzte sich, solange es noch möglich war, an dem "was köstlichster, ja heiligster Besitz: Dein Innerstes, das Ich!". In diesen Momenten von "Seelenseligkeit" kam ihr dann regelmäßig das schlechte Gewissen dazwischen: "So lebst du! Da kannst und darfst noch selige Minuten haben! Was aber ist's mit jenen, die nicht anders fühlen mochten und die man verdarb? ", und erinnerte sich an die Deportationen der Wiener Juden. "Konnte man auf der Straße stehen und schreien: 'So helft ihnen doch!'? Man konnte nicht und ging zum Alltag über."

Im Frühjahr 1944 donnerten die ersten alliierten Bomber über Wien, und die Großbürgerin mußte den Luftschutzkeller mit dem gemeinen Volk teilen: "Gemeinschaft webt ein Band um die Versammelten, seien sie auch sozial verschieden. "Man war ja tolerant. Den Sommer, den letzten Kriegssommer, verbrachte sie im Sommersitz der Familie in einem Osttiroler Seitental. Als eine zu dicke Tischplatte das Ableben des Gröfaz verhinderte, klagte sie: "Es ist nicht gelungen! Trauer erfüllt, so wie mich viele, die mit seinem Tod das Ende des Völkermordens erhofften". Eine benachbarte Bäuerin, "ein kreuzbraves Weib", faßte sich kürzer und meinte lakonisch: "Der Hund ischt wieder nit hin worscht'n". Zurück in Wien wurde die Lage brenzlig, da sich die Luftangriffe der Alliierten mehrten. "Der aus dem Haus Gehende überdenkt die Lage und eventuelle Sicherheit seiner Sachen. Je mehr er besitzt, desto mehr hat er Anlaß, besorgt zu sein."
Im November ängstigte sie die vor Budapest stehende Rote Armee, während sich Großmutter in ihrer fensterlos gewordenen Wohnung nahe am Prater umschaute: "Vorhänge? Teppiche? Nichts mehr von all dem ziert die Räume ", denn "Kristall und Silber - bei mir wie bei den meisten anderen - in Aufbewahrug in einer eigens hiefür geschaffenen Branche, bestimmt bewahrt, errettet zu werden ." Während sie der Errettung ihres Saloninterieurs harrte, mußte sie auch selbst kochen und den Haushalt führen ­p; alle Dienstmädchen waren zum Arbeitsdienst eingezogen worden. Im Jänner 1945, nachdem sie sich noch in Wien über das allzu volkstümliche Operetten-Programm der Wiener Philharmoniker beim Traditionskonzert empört hatte, rauschte sie auf Drängen ihrer Familie wieder ins vergleichsweise sichere Osttirol ab, wo sie dann feststellen mußte, daß infolge fortgeschrittenen Zerfalles des 1000jährigen Reiches jedweder Zivilreiseverkehr eingestellt worden war. Nach dem ersten Schock beschwatzte sie den Beamten am Lienzer Bahnhof und ergatterte eine Genehmigung für die Rückreise ins bereits dauerbombardierte Wien - sie fürchtete um ihren Besitz. Irgendwie, denn darüber hat sie sich in der "Braunen Not " ausgeschwiegen, gelang ihr der Weg aus Wien heraus ein zweites Mal. In Osttirol tauschte sie das Familiensilber gegen Speck und Butter und hatte das Haus bis oben voll mit "Evakuierten aus dem Westen des Reichs ". Am 11. April erreichte sie die Nachricht vom Einmarsch der Sowjets in den Wiener Außenbezirken: "Die äußeren Bezirke Wiens, durch die der feindliche Durchzug fast reibungslos (wo sind die bestellten Werwölfe, wo die befohlenen Kämpfenden?) sich abgewickelt habe, stünden unter Flaggenschmuck. Macht das Proletariat mit den Befreiern gemeinsame Sache? Immerhin bezeichnet man ­p; von Deutschland her ­p; diese reibungslose Besetzung als Kulturschande, die der Wiener, der ewig Charakterlose, auf sich geladen habe ".
Zehn Tage später wurde auch Lienz mit dem ersten und einzigen Bombenangriff überzogen, den Großmutter gelassen hinnahm und abschätzig notierte: "Die Lienzer Weiblichkeit ist nichts gewohnt, die Frauen kreischen und schluchzen und werden gelabt. "

Nur ein einziges Mal stellte sie etwas Weises fest:"Ich hörte gestern erstmals von einer sogenannten Widerstandsbewegung der Österreicher reden. Könnte das möglich sein? Ist sie wirklich vorhanden?Werden nicht später einmal, so es opportun würde, manche, vielleicht viele sagen, sie seien seit eh und je bei dieser gewesen? Natürlich heimlich, wie hätte man es anders können?Ähnlich, wie es mit der Illegalität stand, seinerzeit ." Im Mai geriet die Bürgermeisterkanzlei kurz in Verlegenheit, da kein Mensch wußte, welches Bild nun in der Amtsstube zu hängen habe. Die findigen Tiroler kramten einfach ein Andreas Hofer-Bild hervor, und damit war der Fall erledigt.
Nazifanatiker "gehen mit geballten Händen einher, sofern sie sich nicht überhaupt verbergen."

Und mit diesem Abschluß der Chronologie schritt Großmutter nun zur Schlußrechnung: "Groß ist die Zahl der Enttäuschten, der Enterbten, der Unentwegten vor allem, die es noch immer gibt! Dummköpfre, Idealisten, Verbrecher! Rein sind die Idealisten, wenn auch unreif! Und zu bedauern sind sie allein. Denn ihr Glaube, ihr Tun, ihr Leben, ihre Hingabe an die Kraft der Idee war wert, ihnen bessere und schönere Früchte zu tragen, als die, die ihnen geworden sind. Die Idealisten gehen verlorenen Blickes ihren Weg oder bleiben in ihren vier Wänden, wo sie - es ist die nackte Wahrheit - weinen. Daß es zum Weinen ist, leugne ich auch nicht. Daß Deutschland, das Gebiet der europäischen Mitte, seiner Sendung nicht treu blieb, vor allem das Reich des Geistes beizubehalten: Darum trauere ich, das ist mein Leid ". KZs, Völkermord, Diktatur ­p; das war also alles halb so wild, Großmutter. Immerhin hat ihr Hitler ja doch auch zu etwas verholfen: Wie Großmutter feststellte, sei durch den Krieg eine gute Hausfrau aus ihr geworden.

Florian Sedmak


MAI 96

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