Satire vom Feinsten
Erwin Riess: Groll erfährt die Welt
Keine Atempause
Marlene Streeruwitz: Verführungen
Nicht zu mieten, nicht für die Miete
Stacy Wakefield & Grrrt: Not for Rent


Satire vom Feinsten

Erwin Riess ist schon seit längerer mit seinen Groll-Dialogen in diversen Zeitschriften wie "Der Streit", "Konkret" oder der in Linz herausgegebenen "Domino" in Erscheinung getreten. Riess, selber Rollstuhlfahrer und Aktivist der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen arbeitet seit 1995 als freischaffender Schriftsteller und veröffentlichte vor allem Theaterstücke und Essays. Als Essayist setzte Riess, beispielsweise mit seinem Aufsatz zu Elfriede Jelineks neuestem Roman "Die Kinder der Toten" und dessen Rezeption, in Österreich kaum erreichte Standards in Stilistik und Gedankenschärfe.
Als Dialogschreiber ist Erwin Riess seit langer Zeit bestens im Training: Lange schon betreibt er seine Groll-Dialoge, überdies legte er in den letzten Jahre vier Theaterstücke ("Kuruzzen", "Adieu Madrid", "Hawkins Traum", Krüppelgespräche") vor, die zum Spannendsten zählen, was Österreichs zeitgenössische Dramatik derzeit zu bieten hat.
Was längst schon überfällig war, hat nun der renommierte Berliner Verlag Elefanten Press besorgt: Rollstuhlfahrer Grolls Gespräche mit dem wohlmeinend in sämtliche Fettnäpfchen tretenden sozialdemokratisch angehauchten Soziologen Tritt sind gesammelt unter dem Titel "Groll erfährt die Welt" erschienen. Diese gesammelten Grollschen Ausritte, diese zeitweilig zynischen (so Tritt), immer skalpellscharfen Ausführungen von Groll treiben seinen soziologischen Freund fast zur Verzweiflung. Denn Groll ist in jedem Fall ein Radikaler: Was seine Wortgewalt betrifft, was seine stets ins Grundsätzliche gehenden Analysen betrifft und was seine spektakulären Aktionen betrifft. Insgesamt sind diese Groll-Dialoge Satire vom Feinsten. Meine Lieblingsgeschichte in diesem Band: "Groll trinkt Nordhäuser Doppelkorn", eine besoffene Geschichte über die zweifelhaften Vorzüge der Demontage der DDR und über nicht leugenbare Nachteile derselben.
Erwin Riess: Groll erfährt die Welt
Elefanten Press, Berlin 1996, 189 Seiten.
ff

Keine Atempause

"Verführungen" heißt der erste veröffentlichte Roman von Marlene Streeruwitz. "Verführungen". Untertitel: Frauenjahre. Das weist schon darauf hin, worum es geht: Um den alltäglichen Überlebenskampf einer Frau mit zwei kleinen Kindern in all seiner Banalität und Brutalität. Kann man darüber heutzutage noch schreiben? Kann man das heutzutage noch lesen? Man muß.
Marlene Streeruwitz ist eine bekannte Dramatikerin. Vor drei Jahren wurde in Linz "Waikiki Beach" vom Theater Phönix und "Sloane Square" vom Landestheater gespielt. "Verführungen" gibt Gelegenheit, der Autorin sozusagen Aug in Aug gegenüber zu stehen. Und es trifft sich, daß der Roman im Jahr des Sparpakets II erschienen ist, das einer Faustwatsche für alle Frauen gleichkommt. Obwohl es um das Sparpaket in Marlene Streeruwitz' Roman natürlich nicht geht. Aber darum, wie mit Frauen umgegangen wird. Und darum, wie sie dagegen bis zum Umfallen ankämpfen.
Es geht um Helene. Sie ist 30. Das Kunstgeschichtestudium hat sie mit der Kinder aufgegeben. Der Mann ist wegen seiner Sekretärin davon, die Schwiegermutter wohnt nebenan in der gemeinsamen - geteilten - Wohnung, die beste Freundin ist eine überdrehte Egozentrikerin, der Job in der Werbeagentur unerträglich, auf den Liebhaber kein Verlaß und eine Lehrerin will bei der kleinen, daumenlutschenden Tochter Verhaltensauffälligkeiten entdeckt haben, weil sie nicht ringturnen will. Und über allem die Geldsorgen. Der Ehemann zahlt seit zwei Jahren weder Alimente, Unterhalt noch, Familienbeihilfe. Der mickrige Lohn für den 20 - Stundenjob reicht nicht zum Leben. Der Liebhaber, ein Musiker, läßt sich aushalten und sagt, so wäre die Liebe.
Helene bewegt sich im selben Wiener Milieu wie die Frauenspersonen in Ingeborg Bachmanns Erzählungen und Romanen. Sie wohnt in Döbling, kauft beim Meinl ein, geht auch schon einmal ins Kaffee Landtmann frühstücken, trifft sich im Cafe Sacher und in der Nacht mit Freundin Püppi im Alt Wien. Im Roman schärft dieser Hintergrund den Blick fürs Wesentliche der Machtstrukturen. Auch in diesen Kreisen werden Töchter geschlagen, Alleinerzieherinnen sich selbst überlassen, Kinder unangepaßten Müttern weggenommen und haufenweise Pulverl und Valium geschluckt, um durch die Tage und Nächte zu kommen.
Dieses Frauenleben wird von Marlene Streeruwitz so präzise und scharf nachgezeichnet, daß es beim Lesen die Luft nimmt. Kurze Sätze, ganz kurze Sätze geben keine Gelegenheit zur Ablenkung. Es steht, was ist. Und was ist, treibt an. Die Sprache spiegelt die Hektik wieder, die der ewigen Jagd nach ein bißchen Leben zugrunde liegt. Es gibt keine Atempause. Manchmal steht nur ein "Und" zwischen zwei Punkten für Gedanken, die aus Zeitmangel nicht gefaßt werden können.Und schon geht es weiter. Und kein Ende ist in Sicht. Die Hoffnung darf nicht aufgegeben werden.
"Alles war falsch. Helene suchte nach den Valiumtabletten von Dr. Stadlmann. Fand sie nicht. Sie konnte auch nicht mehr weinen. Schreien. Sie hätte schreien können. Aber die Kinder. Zwischen den Schluchzanfällen. Wenn sie wieder Luft bekommen konnte, stand sie still. Oder lehnte sich gegen eine Wand. Sie konnte es nicht fassen. Daß das das Leben sein sollte. Und sie wußte zur gleichen Zeit, daß sie es mild abbekam. Daß das Grauen zu steigern war....."
Marlene Streeruwitz: "Verführungen"
Suhrkamp Verlag, 296 Seiten, 281 Schilling
Eugenie Kain

Nicht zu mieten, nicht für Miete

Großbritannien nach Thatcher, Großbritannien unter Major:Das Interviewbuch "Not Fro Rent" nach dem Vorbild der RE/Search-Serie gibt Aufschluß über das Salz der britischen Erde ­p; Squatter, radikale UmweltschützerInnen, Riot Grrrls, Rave-Piraten, Plattenlabels, alternative Kommunen und sonstige AktivistInnen zwischen London und Glasgow. In 21 von Stacy Wakefield und Grrt geführten Interviews finden die verschiedenen Szenen und Projekte einen gemeinsamen großen Nenner:creative activity. Sei es der ausdauernde Protest gegen unsinnige Schnellstraßen durch vitale Lebensräume mit anhaltenden Baustellenbesetzungen durch BaumhausbewohnerInnen, seien es autarke Kommunen wie das "Exodus"-Center in Luton oder mobilen Rave-Kollektiven, ausgelöst wurde die Repolitisierung zunächst durch die skandalöse poll-tax, dann durch die Mobilisierung aller von guten Geistern noch nicht Verlassener durch den Criminal Justice Act, der der Polizei alle Vollmachten gibt, gegen travelling people (egal ob Roma, moderne Nomaden oder mobile Raver) sowie gegen Demonstrationen, HausbesetzerInnen oder "illegale"Parties brutal vorzugehen, Autos und Wohnwägen und dergleichen zu beschlagnahmen.
Die Interviews entstanden während eines UK-Trips der Autorinnen und brauchen zum Großteil den Qualitätsvergleich mit dem deklarierten Vorbild RE/Search nicht zu scheuen. Die Gespräche mit reichlich menschlichem Tiefgang verhindern bloße Parolendrescherei oder das reine Abhandeln von Theorie. "Not For Rent" ist ein zutiefst praktisches Buch, das sich als Anregung zum Ausscheren aus dem 08/15-Leben versteht und zahlreiche Kontaktadressen im UK auflistet. Besonders erwähnenswert auch die optische und graphische Gestaltung des Buches mit zahlreichen Fotos und Artworkrepros. Piktogramme bei den Einleitungen der Texte fungieren als thematischer Wegweiser ("squatting", "music", "anarcho-collective") durch die 90 A4-Seiten.
"Not For Rent" sollte dem eher zähfließenden Informationsfluß zwischen Insel und Kontinent (was übrigens viele der AktivistInnen beklagen) auf die Sprünge helfen.
Schwere Empfehlung
Stacy Wakefield & Grrrt: Not For Rent
Conversations with creative Activists in the U.K.
Evil Twin Publications, Seattle ­p; Amsterdam, 1995.
90 A4- Seiten, ca. ÖS 100,-.
Evil Twin / PB 11286 /NL-1001 GG Amsterdam.
In Österreich erhältlich über den V.E.B. Sacro.
Flo Sedmak


MAI 96

wir lesen hören schauen linz