Und wie geht es
den "Befreiern"?


Spricht man von der "Befreiung", fallen den MühlviertlerInnen natürlich gleich DIE RUSSEN ein. Natürlich ist es historisch nicht korrekt, einfach DIE RUSSEN zu sagen, da es ja eigentlich DIE SOWJETS bzw. DIE ROTE ARMEE heißen müßte. Aber um solche Feinheiten scheren sich die MühlviertlerInnen, wie um so vieles, herzlich wenig.
Eine Gruppe, die noch immer großen Wert auf solche Dinge legt, ist der KV KANAL in Schwertberg. Sie stellen anläßlich des Jahrestags der "Befreiung" die Frage: Und wie geht es nun unseren sog. Befreiern?
Daß die ROTE ARMEE des längeren nicht mehr existiert, wurde mitlerweile - wenn auch mit Widerwillen - auch im Josefstal akzeptiert, und, daß der rote fünfzackige Stern nur noch an sehr wenigen Plätzen präsent ist (an der verrostenden Flotte der einstmaligen ROTEN ARMEE, auf dem Mond, in good old China und neuerdings auch auf dem Haus des KANAL - soviel zu den Plätzen im Universum, wo die Sturheit und Halsstarrigkeit noch fröhliche Urständ´ feiern) mußten sie, wohl unter Schmerzen, auch einsehen. Bei manchen KANAL-AktivistInnen mag dennoch der Gedanke an die "Roten" und die "Befreiung" Wehmut hervorrufen. Aber da die Kanalis und Kanalinnen zwar aus viel Herz, aber nicht nur aus diesem bestehen, haben sie über ihre Rührung hinaus auch noch einen Schritt weiter gedacht. Das Bild, das heute von den ehemaligen Sowjetstaaten bei uns besteht, ist vor allem geprägt vom Eindruck des Chaos und der Verwirrung. Daß aber eine Weltregion nicht nur aus solchen Nebenerscheinungen eines eingestürzten Ordnungssystems beschaffen ist, das versucht der KANAL in seiner Veranstaltungsreihe DIE RUSSEN KOMMEN dem Publikum zu vermitteln.
Daß die Staaten der ehemaligen Sowjetunion unter anderem auch ein wahrer Quell des kulturellen Reichtums und der musikalischen Experimente sind, soll in diesen Maitagen eindrucksvoll bestätigt werden.
Um diesen Nachweis zu erbringen, hat der KANAL zwei Gruppen eingeladen, deren Arbeit geeignet ist, selbst die/den letzte/n ZweiflerIn zu überzeugen.

Am 4. Mai spielen die Brain Drain
Eine Gruppe, die den Kanal bereits kennengelernt hat, und die das Publikum wie die AktivistInnen gleichermaßen beeindruckte.
Über sie schreibt der Kanal in seiner eigenen Zeitung: "Rock ist angesagt, mit ein wenig Folk. Was erwartet da der/die Musikbeflissene? Eine E-Gitarre vielleicht, eine Fiedel, ein Schlagzeug und das obligate Keyboard. Gerademal mit dem Schlagzeug (Alexander Kondraschkin) entspricht Brain Drain den Erwartungen. Überraschend beleben ein Akkordeon, eine klassische Balalaika (Fjodor Fomin) und eine überdimensionale zweite Balalaika als dreisaitiger Bass (Michail Semlonow) das musikalische Geschehen."
Der Rhythmus - die Seele der Musik. Ihm huldigen sie fanatisch; der exzellente Bassist mit breit-mimischer russischer Erhabenheit und Dr. Bajan (im Zivilberuf Doktor der Physik) selbst mit ekstatischem Gesang. Trinklieder? Geschichten vom einfachen Leben, bei denen man/frau die Slawische Seele fühlt, und Rußland und den Rhythmus schmecken kann.
Brain Drain, alte und gute Bekannte des Kanal, werden wieder für uns spielen. Eine Band, die nicht nur gerne mit uns trinkt, sondern auch mit wilder Leidenschaft FLEISCH ißt - eine wahre Wohltat.

Ne Zhdali blasen am 27. Mai im Kanal
Eine Gruppe (siehe Foto, die in ein ganz anderes Horn stößt als Brain Drain. Sie verbreiten nicht diesen wehmütigen und ein wenig schummrigen Flair wie Brain Drain. Vielmehr handelt es sich bei Ne Zhdali um eine Gruppe, der man die Lust am Experiment richtiggehend ansieht. Aber lassen wir abermals die Schwertberger selbst zu Wort kommen:

Ne ZHDALINE ZHDALI oder "Unerwartet" ist der Name von Ilya Repin's Bild des klassischen späten 19. Jahrhunderts, das einen trotzenden politischen Gefangenen zeichnet, der unerwartet zu seiner Familie nach Hause kommt. NE ZHDALI ist aber auch der Name der bekanntesten russisch-estonischen Rockgruppe.
Die Gruppe gründete sich 1987 als Hausband des russischen Dramaturgietheaters in Talinn, spielte auf Rock-Festivals der gesamten ehemaligen Sowjetunion, wo sie bald zur Kultband in der sowjetischen Underground-Szene wurden und bald drauf- und drangingen, den "Westen" zu erobern.
Die Musik basiert auf expressiven, rhythmischen Strukturen, die sie "Rhinoceroses" nennen, neben folkorientierten Einflüssen auch auf die Verarbeitung der "Surfmusik", was nicht nur für Expertenohren eine musikalische Zauberwelt darstellt. Filigrane Virtuosität auf herkömmlichen und "entdeckten" Instrumenten, verbunden mit viel Energie und Spaß. Und sie nerven nie.

Auf jeden Fall darf man gespannt sein, was den SchwertbergerInnen über diese beiden Konzerte hinaus noch so einfällt zu "ihren Befreiern".
pr


MAI 96

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