Herwig Strobl

"51 Jahre Befreiung"


von was? würde Herr Karl fragend antworten. Persönlich versuche ich dies seit ca. 55 Jahren und ein paar Monaten. Wohin? frag ich mich. - Vom abhängigen, geliebten, geschlagenen, geförderten Nazisohn heraus zu einem HS-Lehrer mit Tendenz, die Kindheitserfahrung weiterzugeben.

Nicht 1 zu 1, aber immerhin schlimm genug. - Das ist Diluvium, verflossene Steinzeit meines Daseins. Nun steh ich woanders: schaffe frei als Musiker, Kompositör, Manager, Telefaxer ... Frage: Wo? steh ich jetzt, wie? befreit bin ich von was? - siehe oben.

Mehr als 100 Konzerte hab ich mit Freunden in 10 Ländern gegeben auf Brettern, die nicht die Welt bedeuten. Erstens: die ganze Welt ist Bühne und: ich fühle mich selbst als Experimentierfeld für neue Ideen. Und die Musik, die mich anzieht, ist nur EIN Medium, formbar und durchlässig: Klänge, farbliche Stimmung, Räume und deren Aura, Texte, Gestaltungselemente auf der Bühne, Programme all dies fasziniert mich, ohne mich abzustumpfen, immer aufs neue. Ich spüre die Befreiung von Zwängen, die tief "inside" als Einflüsterer sitzen und denkbare eigene Möglichkeiten behindern. Sie reden bekannte Sätze wie: "Bleib ängstlich, tu das deinem Ruf (welchem?) nicht an; Ach, was du schon kennst (wie lange noch?); denk an Pension und Publikum. Und so weiter. Und so weiter? - Nein, denn es gibt noch solch eine Menge sogenannter "Aufarbeitungs"arbeiten.

In meinem kreativ-chaotischen Arbeitszimmer erinnert ein Plätzchen an die in Stichworten gesammelten Erinnerungen, journalistisch-memoirenhaft der werten Nachwelt, Unter- oder Mitwelt zugänglich gemacht zu werden. Ich zitiere nun Aussprüche von ZeitgenossInnen, KonzertbesucherInnen, VeranstalterInnen, die Einblick gewähren auf Jahre der Befreiung, auf die geistige Landschaft, die nur wir beackern z. B. - zum Beispiel?

Einladung, zu einer Hochzeit in Wien, Musik zu spielen. Braut aus dem Innviertel, nun katholische Religionslehrerin - am Telefon: "Könnt Ihr außer jiddischer Musik auch was Normales spielen?"
Josua Sobol, den ich in Tel Aviv kennenlernte, zu mir: "Ich kenne auch unter Juden Antisemiten."
Vor Jahren, als ich der Martin-Luther-Kirche in Linz ein Konzert mit jiddischer Musik anbot, kam die Antwort von Presbytern: "Wenn die Juden 'eine große Burg ist unser Gott' in ihrem Tempel singen, dürfen Sie bei uns spielen."
Einladung einer (pragmatisierten) Lehrerin zu einem Workshop: Ich hab geglaubt, ihr seid so begeistert und spielt gratis."

Ich biege in den Broadway N. Y.s ein und treffe einen Schwarzen: "You are a musician." - sagt er, und wir gehen auseinander.
Aus einem Brief an mich: " Mein Vater hat als Kind Greuel an Juden mitansehen müssen, ist aber dennoch innerlich gespalten, weil er glaubt, seinen Vater verteidigen zu müssen, der ja ein anständiger Mensch war."

Konzertbesucherin: "Euer Abend war für einige der totale Widerspruch zu alten Wertvorstellungen, etwas, das ihnen den Boden unter den Füßen entzieht."
Josef Ackerls Antwortschreiben, 1989, wegen Beteiligung an Städtepartnerschaftsveranstaltungen: "Es scheint mir wichtig zu sein, daß Sie darüber nachdenken, ob Sie österreichische Volksmusik oder Arbeiterlieder in Ihr Programm aufnehmen können ..."

Ein Veranstalter: "Wir sind nicht mehr interessiert, Veranstaltungen zu organisieren, wenn Publikum und die Unterstützung der Gemeinde fehlen."
Der Veranstalter einer Europa-Wahlveranstaltung: "Ich hoffe, Sie bringen keine Musik vom Balkan, zum Beispiel Ex-Jugoslawien."
All dies: kein Blick zurück im Zorn, eher der Kaffeesatz von Erinnerungen, der hilft, die verwirrende Gegenwart in Zukunft befreiter zu verstehen.


MAI 96

wir lesen hören schauen linz