Bertolt Brecht

Radio
- eine vorsintflutliche Erfindung?

bertolt brecht Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal vom Radio hörte. Es waren ironische Zeitungsnotizen über einen förmlichen Radio-Hurrikan, der an der Arbeit war, Amerika zu verwüsten. Man hatte aber trotzdem den Eindruck einer nicht nur modischen, sondern wirklich modernen Angelegenheit.
Dieser Eindruck verflüchtigte sich sehr rasch, als man dann auch bei uns Radio zu hören bekam. Man wunderte sich natürlich zuerst, woher diese tonalen Darbietungen kamen, aber dann wurde diese Verwunderung durch eine andere Verwunderung abgelöst: Man wunderte sich, was für Darbietungen da aus den Sphären kamen. Es war ein kolossaler Triumph der Technik, nunmehr einen Wiener Walzer und ein Küchenrezept endlich der ganzen Welt zugänglich machen zu können. Sozusagen aus dem Hinterhalt.
Eine epochale Angelegenheit, aber wozu? Ich erinnere mich einer alten Geschichte, in der einem Chinesen die Überlegenheit der westlichen Kultur vor Augen geführt wurde. Er fragte: "Was habt ihr?" Man sagte ihm: "Eisenbahnen, Autos, Telefon." - "Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen", erwiderte der Chinese höflich, "das haben wir schon wieder vergessen." Ich hatte, was das Radio betrifft, sofort den schrecklichen Eindruck, es sei eine unausdenkbar alte Einrichtung, die seinerzeit durch die Sintflut in Vergessenheit geraten war.
Es ist bei uns alte Gepflogenheit, allen Dingen auf den Grund zu gehen, auch den seichtesten Straßenlachen, wenn sonst nichts da ist. Wir haben einen ungeheuren Konsum von Dingen, denen wir auf den Grund gehen können. Und wir haben sehr wenige Leute, die bereit sind, davon gegebenen Falles Abstand zu nehmen. Tatsache ist, daß wir uns immerfort von Möglichkeiten an der Nase herumführen lassen. Diese Städte, die Sie ringsherum jetzt sich erheben sehen, sind einer völlig erschöpften, durch Taten und Untaten verbrauchten Bourgeoisie zweifellos überraschend gekommen. Solange diese Bourgeoisie sie noch in der Hand hat, werden sie fortdauernd unbewohnbar sein. Die Bourgeoisie beurteilt sie lediglich der Chancen wegen, die sich aus ihnen natürlich ergeben. Daher die ungeheure Überschätzung aller Dinge und Einrichtungen, in denen "Möglichkeiten" stecken. Kein Mensch kümmert sich um Resultate. Man hält sich einfach an die Möglichkeiten. Die Resultate des Radios sind beschämend, seine Möglichkeiten sind "unbegrenzt". Also ist Radio eine "gute Sache".
Es ist eine sehr schlechte Sache.
Würde ich glauben, daß diese Bourgeoisie noch hundert Jahre lebte, so wäre ich überzeugt, daß sie noch Hunderte Jahre von den ungeheuren "Möglichkeiten" faselte, die zum Beispiel im Radio stecken. Jene Leute, die das Radio schätzen, tun es deshalb, weil sie in ihm eine Sache sehen, für die "etwas" erfunden werden kann. Sie würden recht behalten in dem Augenblick, wo "etwas" erfunden würde, um dessentwillen man das Radio, wäre es nicht schon da, erfinden müßte. In diesen Städten beginnt jede Art künstlerischer Produktion damit, daß ein Mann zu dem Künstler kommt und sagt, er habe einen Saal. Daraufhin unterbricht der Künstler seine Arbeit, die er für einen anderen Mann unternommen hat, der ihm gesagt hat, er habe ein Megaphon. Denn das Metier des Künstlers besteht darin, etwas zu finden, wodurch es hinterher entschuldigt werden kann, daß man Saal und Megaphon unüberlegterweise gemacht hatte. Es ist ein schwieriges Metier und eine ungesunde Produktion.
Ich wünsche sehr, daß diese Bourgeoisie zu ihrer Erfindung des Radios noch eine weitere Erfindung mache: eine, die es ermöglicht, das durch Radio Mitteilbare auch noch für alle Zeiten zu fixieren. Nachkommende Geschlechter hätten dann die Gelegenheit, staunend zu sehen, wie hier eine Kaste dadurch, daß sie es ermöglichte, das, was sie zu sagen hatte, dem ganzen Erdball zu sagen, es zugleich dem Erdball ermöglichte, zu sehen, daß sie nichts zu sagen hatte.
Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.

Aus: Bertolt Brecht "Gesammelte Werke 18, Schriften zur Literatur und Kunst I", Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1967


APRIL 96


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