Die Spezies `homo sapiens' kann wissenschaftlich als Herdentier betrachtet werden. Selbstverständlich verstehen wir uns alle als Individualisten. Doch abgesehen von einer handvoll Eremiten, die sich selbst nicht als Glied der sozialen Ankerkette betrachten, formiert, plaziert und degeneriert sich die Menschheit in Gruppierungen - mehr oder weniger friedlebend. Herrscht geistige Übereinstimmung zwischen menschlichen Wesen, konzentrieren sie sich an einem Ort, um ihrer gemeinsamen Einstellung Ausdruck zu verleihen. Die Ursachen dieser Zusammenkünfte sind vielfältig: sei es die Empörung über Beschlüsse der Regierung, die Faszination einer Musik-Ikone, ein sportliches Ereignis, ein religiöses Fest, eine Schießbude, ein Toter, und und und.
Die andere Masse `Mensch`, die daran nicht teilhaben kann oder will, wird automatisch mit detailierten Informationen gespeist: auf Papier, durch Wellen in der Luft, über den Telefonanschluß. Mündlich, schriftlich, bildlich, so als wären sie Teilnehmer.
Diese täglichen Massen, die uns schon morgentlich in der Straßenbahn verschlingen, mittags in Selbstbedienungsrestaurants verdauen und abends aus dem Kino ausscheiden, hat Elias Canetti in eine gewaltige Masse an Buchstaben verwandelt.
"Masse und Macht" präsentiert nicht nur die Macht über die Masse, sondern auch die Macht der Masse. Die Vielfältigkeit einer Masse beginnt in ihrer äußerlichen Erscheinungsform. Sie bildet und entlädt sich nach einem erfaßten Schema.
Wer ist noch nicht bei einem Konzert in der erdrückenden Menge vom Umschlagen der Berührungsfurcht in ein Einheitsgefühl ergriffen worden? Formen und Phänomene läßt Canetti wie ein Dauerfeuer aufs Papier: Fluchtmassen, Jagdmeuten, Festmassen, Klagemeuten, ... Traditionelle Rituale, wie die Erdrückung von Todgeweihten durch Freunde und Verwandte, reihen sich an Massensymbole, wie Feuer, Regen, Sand, Wald, Schatz,... Die Elemente der Macht reichen von Urteil bis Gnade, von Befehl bis Diktat.
"Masse und Macht" ist ein Informationspfuhl, in dem sichs gemächlich planschen läßt. Sogar das Springen ist erlaubt. Aber schon während man darin watet und taucht, ist es gewiß: diese Quelle versiegt niemals. Denn solch geballte Ladung läßt sich auch nach dem dritten Mal nicht vollends im Erinnerungsvermögen nieder.
Das Erstaunlichste an >Masse und Macht< ist nicht der Artenreichtum, den Canetti zusammengetragen hat. Es ist die Art und Weise, wie er diese Vielfalt vermittelt: spannend, wogend, beinahe wie eine Schlacht. Er weckt auch Erfahrungen, die die Kindheit mit ihrer Unbekümmertheit verdeckt hat: der erhobene Zeigefinger der Eltern, das Versteckspiel im Wald, Ecke-stehen in der Schule, der Glasstückchen- und Steinereichtum unter dem Bett. Und plötzlich sitzt man wieder rotbäckig, mit Popcorn auf dem Schoß, zwischen hunderten johlenden, trampelnden Zuschauern im Zirkus und klatscht gemeinsam über jeden Ausrutscher der Clowns.
"Masse und Macht", Elias Canetti, 1960
APRIL 96
wir lesen hören schauen linz