MORGEN FRÜH, WENN GOTT WILL, ...

Über den Sandmann und was ihm so alles in die Schuhe geschoben wird.

Astrid Bartsch

Während Frau Holle noch kräftig die Betten ausschüttelt, träumen wir bereits von der Frühjahrsmüdigkeit. Nicht, daß es etwa schon so weit wäre: Väterchen Frost verläßt uns noch lange nicht, und erste Frühlingsboten lassen auch noch etwas auf sich warten. Doch scheint bereits eine unbändige Sehnsucht danach ausgebrochen zu sein. Kieferstarres Aufreißen der Mundhöhle und lautstarke Gähnlaute durchbrechen vermehrt die winterliche Stille.
Wie immer sucht der wißbegierige Mensch nach einer Antwort. Und zwar dort, wo er sie garantiert findet: im unbegrenzten Reich der Märchen. Übermäßiges Verlangen nach Schlaf wird auf einen Alkoholkonsum des Sandmanns zurückgeführt ( nicht auf den eigenen ). An der Unaufindbarkeit des Autoschlüssels sind die Heinzelmännchen schuld ( nicht Unordentlichkeit ). Und Frau Holle wird dafür verantwortlich gemacht, wenn zur Schi-Saison der Schnee ausbleibt.
Doch hier schlägt die faule Unwissenheit ihr Lager auf. Wer kennt schon die Arbeitsweise des Sandmanns so genau?

Auf jeden Fall - Wil Huygen und Rien Poortvliet! Und nicht nur das. Sie wissen sogar über das ABC des Schlafes so genau bescheid, daß sie es gewagt haben, "Das Buch vom Sandmann" auf den Markt zu bringen. Und das ist tatsächlich ein riskantes Unterfangen. Wer weiß, vielleicht straft der Sandmann sie jetzt mit einem ohnmachtsähnlichen Winterschlaf. Oder noch schlimmer: er hetzt die Wachschratzen auf sie. Doch kennt jeder, der das Buch gelesen hat, die Gutmütigkeit des Sandmanns. Sie wird seine Scheu vor Enttarnung schon mindern.
Sandmann Sein Schlößchen auf der Spitze des nebelumschwadeten Berges ist tabu. Kein Mensch hat es jemals von innen gesehen. Wer aber Glück hat, findet das geheimnisvolle Buch des Johann Poberschnigg und somit möglicherweise den Weg zur Hütte der altbekannten Frau Holle. Ja, es gibt sie. Hat vielleicht irgendjemand jemals daran gezweifelt? Sie kennt den Sandmann persönlich und weiß auf verzaubernde Art über ihn und seine Helfer zu berichten. Über den Esel Susanne, die rüstige Elfe Roberta, die das Haus in Schuß hält und das kleinste, gelehrteste Steinkäuzchen der Welt: Petronius. Der Sandmann hat annähernd soviel Arbeitsstreß wie der Weihnachtsmann, nur eben nächtlich. Der Sand muß gesiebt, mit Träumen besungen und sortiert werden. Um den Sand treffsicher in die Augenwinkel der Mensch- und Tierwelt zu schnippen, sind Konditionstraining und Geschicklichkeitsübungen unerläßlich. Auf der kräfteraubenden Tour rund um die Welt verteilt der Sandmann ungezogene Träume, Angstträume und schöne Träume. Er schnippt aber auch mit Einnicksand, Schnarchsand und Schlafwandelsand um sich. Er hat schwere Herausforderungen bei Brillenträgern, Hirtenhunden, eingerollten Igeln und schlitzäugigen Asiaten zu bestehen. Und stets muß er dabei die richtige Menge erwischen. Der Sandmann ist ein Teufelskerl.

Märchen sind nicht Metier der Kinderwelt. Sie sind für Erwachsene geschrieben, um ihre rudimentäre Naivität wieder auf ein Normalmaß zu bringen. Der Sandmann ist real, dank Huygen und Poortvliet. Und wer nach dem Genuß dieses Buches noch immer nicht davon überzeugt ist, der kann mit einer gemeinen Attacke der Wachschratzen rechnen. Na dann:
Gute Nacht John-Boy!...

Wil Huygen, Rien Poortvliet "Das Buch vom Sandmann", Verlag Paul Parey 1989


MÄRZ 96


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