Obdachlos in Linz

Spattstraße. Heim für schwererziehbare Mädchen. Nicht gerade der passende Ausgangspunkt für eine Reportage über Obdachlose, aber ich hoffe, hier trotzdem einige Informationen und Adressen zu bekommen. Außerdem ist dieser Ort (für mich) ein guter Übergang von Vertrautem zu Unbekanntem.

Skulptur Mit der Adresse einer Notschlafstelle in der Tasche stehe ich wieder auf der Straße. Hinein nach Linz gehe ich zu Fuß, renne mit einem Gefühl von Übermut. Mittlerweile ist es dunkel, an der nächsten Haltestelle steige ich in den Bus Richtung Bahnhof. Dort, im Bahnhofscafe, trinke ich eine Cola. Der Kellner ist sehr freundlich, was er auch die nächsten vier Tage bleibt. Das Trinkgeld nimmt er allerdings vom zweiten Tag an nicht mehr. Ich bin ziemlich überdreht und finde es (noch) lustig, daß mir die Leute meine Rolle offensichtlich abnehmen.
Es ist zehn Uhr abends. Ich unterhalte mich mit einem jungen Mann, der mir erzählt, daß er jeden Monat ungefähr eine Woche hier ist. Er hält es zuhause nicht mehr aus, kommt hierher, säuft sich zu und schläft irgendwo. Heißt das, er lebt freiwillig auf der Straße? Oder sollte man besser sagen, er lebt lieber so als bei seiner Familie mit geregelter Arbeit.
Ein Sozialarbeiter sagt mir, man könne diesen Menschen nicht helfen, da die meisten von ihnen so leben wollen. - Wenn es so ist, hat dann unsere Gesellschaft nicht irgendwo einen Fehler. Menschen nehmen Hunger, Kälte und ein Leben voller Unsicherheit in Kauf, nur um nicht in diesem geregelten System leben zu müssen. Abgesehen davon, leben die meisten von ihnen nicht freiwillig so, sie rutschen in Folge von Schulden, Vorstrafen oder einem Gefängnisaufenthalt in diese Situation. Es kommt oft vor, daß sie nicht zugeben, obdachlos zu sein. Auch deshalb ist die Dunkelziffer bei Obdachlose sehr hoch. Viele, vor allem Frauen und Jugendliche, lassen sich in Krankenhäuser aufnehmen oder schlafen bei Freunden, da sie sich keine Wohnung leisten können.

Skulptur 2 Ein älterer Mann kommt auf uns zu: "Wenn ich euch einen Tip geben darf, ab elf Uhr ist hier die Hölle los, es wird jeder kontrolliert, der nach Sandler aussieht."
Er lädt uns in ein Lokal hinter dem Bahnhof ein. Das passiert mir öfter in den nächsten Tagen. Obwohl der Bahnhof Treffpunkt der Obdachlosen zu sein scheint, versuchen sie dich nach fünf Minuten Gespräch von dort wegzubekommen.
B. fragt uns, was wir hier machen und nach unseren Namen. Ich erzähle zum zweiten Mal ein Märchen, mit schlechtem Gewissen. Dann erzählt er uns von seinem Leben. Nach der ersten Geschichte wird mir klar, daß der übliche Begriff von Wahrheit hier nicht zählt. Was er uns erzählt, ist ein Bild von seinem Leben, an das er glaubt, und ich denke, kein Mensch hat das Recht, seine Geschichten anzugreifen. Dieses Leben ist in seinem Kopf genauso real wie der dreckige kalte Bahnhof, und es hilft ihm, darin zu leben.
B. nimmt zwei Hunderter aus meiner Tasche, so etwas ist hier genauso normal wie daß er uns mit seinem letzten, wirklich letzten Geld einlädt. Nach zwei Stunden kommt ein junger Mann an unseren Tisch. Zu B. sagt er etwas von "dort oben", dieser wird daraufhin wütend und geht. Erst später komme ich dahinter, daß mit "dort oben" die Notschlafstelle in der Waldeggstraße gemeint ist. Der junge Mann stellt sich als Sozialarbeiter vor und zeigt dem inzwischen völlig betrunkenen A. seinen Ausweis. Mir gibt er seine Adresse und verspricht, mir noch in dieser Nacht einiges von dem zu zeigen, was ich sehen will.
Den Rest der Nacht verbringe ich mit den beiden am Hauptplatz, am Würstelstand und am Bahnhof.
Irgendwann um fünf Uhr früh rede ich mit einem 75jährigen Mann, der mir erzählt, daß er nicht mehr rechtzeitig in die NOVA (Notschlafstelle) gekommen sei. Dort sperren sie um Punkt elf Uhr zu, außerdem könne er dort sowieso nicht mehr hin, weil die Nacht 25 ÖS koste.

So früh am Morgen sieht man hier all das, was ich sehen wollte. Zur gleichen Zeit gebe ich das letzte von meiner Rolle auf. Das hier sind nun vier Tage, die ich leben muß, nicht spielen. Es gibt uns, die Obdachlosen, und die anderen, die Normalen.
Um halb acht sitze ich mit dem "Sozialarbeiter" und zwei Obdachlosen im Bahnhof. Der Mann neben mir gibt mir meine Jacke und meint: "Leg sie weg von mir, wenn ich Stoff brauche, weiß ich nicht mehr, was ich tue." Ich sitze nur da und versuche die Gesprächsfetzen in meinem Kopf zu speichern. "Du mußt dich zusaufen, Mensch! Du kannst den Kühlschrank aufmachen und hast was zu essen. Wir müssen ins B 37 (eine Notschlafstelle mit der Möglichkeit zu essen und Arbeitsvermittlung, kostet allerdings 55 ÖS pro Nacht, die wenige haben) fahren, schwarz, so ein Frühstück kann uns 400 ÖS Schulden einbringen und eine Vorstrafe mehr. Auch der "Sozialarbeiter" erzählt mir einiges, und ich frage mich, ob er nicht eher Hilfe braucht als "seine" Obdachlosen. Seine Einstellung kommt mir vor wie die einer Mutter, die für ihre Kinder zwar alles opfert, sie in Wirklichkeit aber haßt.

Um halb zwölf fordert uns ein Polizist auf, mit auf die Wache zu kommen. Seine Arroganz macht mich ziemlich wütend. Außerdem bin ich übermüdet. Wir sind zu dritt. Der "Sozialarbeiter" versucht schnell, seine Felle ins Trockene zu bringen, was mich erst recht ärgert. Draußen in der Bahnhofshalle schreie ich ihn an, sage ihm, daß ich seine Einstellung krankhaft finde - und gehe.
Mittlerweile verstehe ich jede Aversion gegen den Bahnhof, ziehe bis zum Abend durch die verschiedenen Institutionen für Obdachlose und höre Geschichten. Ob sie der allgemein üblichen Wahrheit entsprechen oder nicht, ist gleichgültig. Was zählt, ist nur das Verhalten des Gegenübers, und auch das ist nicht mehr mit dem üblichen Maßstab zu messen.

Anfangs dachte ich, ich könnte die Geschichten, die mir erzählt wurden, an die Öffentlichkeit bringen, aber diese Geschichten wurden mir in den vier Tagen erzählt, in denen ich versucht habe, einer von diesen Menschen zu sein. Ich glaube nicht, daß ich das Recht habe, dieses Vertrauen zu mißbrauchen.
Am nächsten Tag nach sechs Stunden Schlaf treffe ich einen Streetworker, der mir u.a. mitteilt, daß der "Sozialarbeiter", den ich gestern getroffen habe, gar kein Sozialarbeiter sei. Daraufhin rufe ich die Nummer an, die mir der "Sozialarbeiter" gegeben hat. Das einzig Richtige war sein Name. In der Zwischenzeit war ich in einer Verfassung, in der ich niemand mehr trauen konnte. Ich marschiere wieder durch die Straßen, mittlerweile ist mein Aussehen abgerissener als das von manchem Obdachlosen.
In der ARGE für Obdachlose esse ich zum zweiten und letzten Mal in diesen vier Tagen. Die Stimmung hier ist angenehm, aufbauend. Hier scheint es den menschlichen Unterschied zwischen Sozialarbeiter und Obdachlosen nicht zu geben. Eine Frau fragt mich, ob ich schon in der Waggonie gewesen sei. Dort erst wisse man, was es heißt, obdachlos zu sein. Trotzdem rät sie mir ab hinzugehen, erstens sei es wirklich gefährlich, zweitens müsse man die Intimsphäre der Leute respektieren.
Ähnliches sagt mir auch ein Streetworker, nachdem er gefragt hat, wo ich heute Nacht schlafen wolle. Ich übernachte dann in der NOVA. Nachdem der dortige Sozialarbeiter gefragt hat, warum ich überhaupt hier sei (ich verschweige nur, daß ich für eine Zeitung schreibe), meint er: "Es geht, solange man wieder zurück kann!"
Das ist es, was mich von den Menschen hier unterscheidet, ich kann zurück.
In "meinem" Zimmer stehen drei Betten. Eins ist leer; die hochschwangere Frau, die normalerweise hier übernachtet, sei heute nicht gekommen, sagt mir die junge Frau im zweiten Bett. Das Zimmer ist von den Straßenlaterenen vor dem Fenster hell erleuchtet. Vom Flur her ertönen Schreie mit kurzen Unterbrechungen fast die ganze Nacht durch. Die junge Frau neben mir ist an solche Nächte gewöhnt. Wir diskutieren, ob ihre Schuppenflechte von den scharfen Waschmitteln oder vom Dreck im Bettzeug kommt.
Ich schlafe auch diese Nacht nicht. Um halb acht müssen wir rauß, für mich die letzte Nacht, für die anderen?

Ich wollte eine Reportage über Obdachlose schreiben, herausgekommen ist ein kleiner Teil von dem, was ich in diesen vier Tagen erlebt habe.
Vielleicht nicht sehr informativ und sicher nicht das, was ich mir erwartet habe. Aber immer noch besser als zu persönlich über irgendjemand zu schreiben, den ich in diesen Tagen kennengelernt habe.
Natürlich könnte man die Intimsphäre dieser Menschen mißachten und einen wirklich sensationellen Bericht schreiben, vielleicht würde man damit sogar helfen, sie zum Thema der Öffentlichkeit zu machen.
Ich kann's nicht! Wenn sich jemand wirklich für diese Menschen interessiert, so soll er hingehen und sehen, was sie ihm erzählen.


MÄRZ 96


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