Nichts ist natürlich

Geschlecht als soziale Konstruktion

Zur Legitimation von herrschenden Verhältnissen wird immer wieder die Natürlichkeit derselben bemüht. Argumentationen dieser Art, die sich auf die Hautfarbe von Menschen beziehen, sind relativ leicht als rassistisch zu entarnen, schwerer ist es, die Naturgegebenheit der Rollenzuweisungen von Frauen und Männern zu widerlegen. Doch nur weil gewisse Verhaltensweisen scheinbar mit dem biologischen Geschlecht gekoppelt sind, heißt dies noch lange nicht, daß dies tatsächlich so ist.

Es gibt verschiedenste Merkmale nach denen sich Menschen voneinander unterscheiden, bzw. sich voneinander unterscheiden lassen. Schuhgröße; Haarlänge; Verhältnis zu Produktionsmittel; Abstammung; Farbe der, die Haut färbenden Pigmente; Frisuren; Bildung; Kleidungsstil; Ausprägungsformen der primären oder sekundären Geschlechtsmerkmale sind nur einige von vermutlich unendlich vielen, möglichen Unterscheidungsmerkmalen zwischen Menschen. Nun haben diese Unterscheidungsmerkmale für das Leben einer Person in der sie umgebenden Gesellschaft unterschiedliche Bedeutung, werden also von den Mitmenschen als unterschiedlich wichtig wahrgenommen. Wobei auch auf den ersten Blick scheinbar unwesentliche Merkmale für manche Menschen enorme Bedeutung für ihr Leben bekommen können. Dies merken vor allem Leute, die sich in solchen Merkmalen besonders von anderen unterscheiden: Schuhgröße 62 kann das Leben genauso zur Hölle machen wie eine Körpergröße von 132 cm.
Am weitesten verbreitet ist allerdings eben die Unterscheidung in zwei Geschlechter anhand der Geschlechtsorgane. Für einen Großteil der Menschen gilt dies als natürliche Ursache für ihr Mann bzw. Frau sein. Auch die jeweiligen eigenenen typisch "männlichen" bzw. "weiblichen" Eigenschaften werden hauptsächlich mit der Ausprägung des eigenen Geschlechtsorgans in Verbindung gebracht. Nun gibt es allerdings berechtigte Zweifel, daß sich über diese biologischen Unterschiede das Verhalten oder gar die angeblichen Pflichten der in Frauen und Männer unterteilten Menschen erklären bzw. begründen lassen.

Um diese Zweifel zu verstehen, sollte betrachtet werden, ab wann das Geschlecht eines Individuum für es selbst bzw. für seine Umwelt feststeht. Formell wird die ofizielle Geschlechtszuweisung kurz nach der Geburt durch ÄrztInnen oder HebammErn durchgeführt. Oftmals wird das jeweilige Geschlecht auch schon vor der Geburt durch Ultraschalltests festgestellt, was den werdenden Eltern die Möglichkeit gibt, sich bereits während der Schwangerschaft darauf festzulegen, ob rosa oder blaue Schnuller gekauft werden müßen und ob der Balg nun Susi oder Thomas heißen wird. Scheu schrieb: "Weiter geht es mit dem Stillen, Mütter stillen weibliche Babys anders als männliche: kleine Mädchen müssen schneller trinken und werden im Schnitt drei Monate früher entwöhnt. Schon hier akzeptiert die Mutter unbewußt die Autorität des kleinen Mannes, läßt ihm seinen natürlichen Trinkrhythmus - während sie diesen Rhythmus beim Mädchen unterbricht, weniger bereit ist, auf es einzugehen, es einem fremden Willen unterwirft."(1) Dann kommt der Kindergarten, die Schule, Zeichentrickfilme für Mädchen (mit Pferden), für Buben (mit Transformern), AmDamDes, die Pubertät, vorher noch 100.000 weitere Filme, Bücher, Onkeln und Tanten, Bravo Girls, Barbiepuppen, Matchbox-Autos, Playmobil Cowboys und rosa Playmobil Puppenhäuser, FreundInnen, LehrerInnen ... die alle das "natürliche" Schema vermitteln, ja und dann ist mensch "Mann" oder "Frau". Meistens, denn manche sind mit dieser Zuweisung nicht zufrieden.
Einige von denen lassen sich dann "umoperieren", wechseln das Geschlecht. Dies führt dann wieder zu juristischen Problemen, etwa wenn ein ehemaliger Mann trotz der Geschlechtsumwandlung weiterhin verheiratet sein will. Das geht nicht, zumindest nicht formaljuristisch(2). Doch Gesetze und soziale Tatsachen haben wohl noch nie besonders viel miteinander zu tun gehabt.

Wenn Geschlecht hauptsächlich sozial konstruiert ist, bedeutet das vor allem, daß gegebene Strukturen nicht bis in alle Ewigkeit beibehalten werden müssen; was konstruiert ist, kann auch anders, besser, konstruiert werden. Besser heißt für mich, daß bei einer Neukonstruktion nicht einfach neue Herrschaftsstrukturen geschaffen werden, sondern, daß Herrschaft an und für sich so weit wie möglich eliminiert wird. Weder Penis noch Vagina berechtigen irgendjemand über jemand anderen zu herrschen.

(1) Ursula Scheu, Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht, Frankfurt/Main, 1977 -^-
(2) Willkommen Österreich -^-


MÄRZ 96


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