Nur ein paar Tage Sandlerzeitung

Ein Bericht aus der Werkstatt

Eugenie Kain

Eine "Kupfermuckn" ist in der Obdachlosensprache ein Abbruchhaus. Die "Kupfermuckn" ist eine Zeitung, an der Linzer Obdachlose seit August gearbeitet haben. Noch ist die "Kupfermuckn" eine Eintagsfliege, denn es gibt nur eine einzige Ausgabe, die am ersten Adventwochenende vor Pfarren und auf der Landstraße, die Tage darauf an einschlägigen Plätzen verteilt wird.

Die "Kupfermuckn" war das heurige Freizeitprojekt der Arge für Obdachlose. Freizeitprojekt bedeutet einerseits begrenzte Zeit, begrenztes Budget, begrenzter Raum. Freizeitprojekt bedeutet andererseits die Eröffnung neuer Perspektiven, Platz für Kreativität, Abwechslung im Sandleralltag. Was macht ein Obdachloser in seiner Freizeit? Es gibt da bestimmte Bilder aus dem öffentlichen Raum: Männer mit verfilzten Haaren und rauhen Stimmen, die sich auf den städtischen Sitzgelegenheiten zwischen Bahnhof, Volksgarten, Landhauspark oder Taubenmarkt breit machen, ein Nylonsackerl ist dabei und der Doppler auch. Als Symbol für eine falsche Arbeitsmarkt - und Wohnungspolitik sehen sie die wenigsten. Eher als Anstoß für öffentliches Ärgernis.

Die Arge für Obdachlose hat vor dem Zeitungsprojekt bereits eine Literaturwerkstatt und ein Malworkshop eingerichtet, aus der Erfahrung heraus, daß Freizeit für Obdachlose vor allem eines bedeutet: Streß. In der Notschlafstelle dürfen sie sich am Tag nicht aufhalten, von den öffentlichen Plätzen werden sie vertrieben, dazu kommen die Rennereien von Amt zu Amt zur Betreuungseinrichtung und wieder zurück, weil die Bürokratie hartleibig ist und die Fälle meist sehr kompliziert. Der nächste Schlafplatz muß organisert werden, etwas Geld auch oder wenigstens ein Unterstand für das "Handgepäck" mit den persönlichen Sachen. Um zumindest einen Fuß aus dem Treibsand zu kriegen, braucht es eine regelmäßige Arbeit. Die zu bekommen, ist am allerschwierigsten, auch ohne Lohnpfändung und Vorstrafen. Das Selbstwertgefühl bleibt auf der Strecke.

Der Ansatz für das Zeitungsprojekt war klar definiert. Obdachlose, die sich dafür interessieren, sollen die Möglichkeit haben, eine Zeitung zu machen. Sie sollen über das schreiben können, was sie interessiert und das muß nicht unbedingt ihre persönliche Situation sein. Sie sollen aber nicht nur selbst schreiben, sondern die Zeitung auch selbst gestalten. Die Arge stellt ihnen Räumlichkeiten, Budget und eine Nummer ihrer Vereinszeitung "Arge - Nachrichten" zur Verfügung. Bei Redaktionsschluß gab es Artikel, Interviews und Geschichten für mindestens drei weitere Ausgaben, das machte die Auswahl schwer. In die Zeitung kamen dann doch vor allem Geschichten, die sich in irgendeiner Form mit dem Problem Obdachlosigkeit beschäftigen. Nicht, um in vorweihnachtlicher Zeit Mitleid zu erregen, sondern um ein Zeichen von Selbstbewußtsein zu setzen. Linz hat zwar ein relativ gut ausgebautes Netz an sozialen Einrichtungen für Erste Hilfe, für Arbeitsprojekte, Streetwork, ausreichend erschwingliche Wohnungen, nachhaltige Betreuung und gesundheitliche Versorgung der Betroffenen fehlt Geld. Linz sollte sich nicht nur als Cyber City sondern auch als Social City in der Welt einen Namen machen.

Am Anfang war die Unsicherheit: Nenn' ich einen Obdachlosen Wohnungsloser oder Sandler? - Es gibt viele Bezeichnungen: Sandpatschen, Speckfuß, Sandhase... Die Unsicherheit gab sich bald, denn die Kollegen haben Namen und Profil. Anton, Gerhard, Willi, Walter und Thomas. Willi ist Elektronikexperte und Computerfreak, Anton ärgert sich über die nicht funktionierende Mülltrennung und engagiert sich gegen Lambach und Temelin, Gerhard steht auf das Pop - Museum und kann Egoismus und Rücksichtslosigkeit nicht leiden, Walter ist Künstler, Märchenerzähler und baut Tipis, Thomas ist ein meisterhafter Dart - Spieler und mag Katzen.
Eine Zeitungswerkstatt ist kein Ort für einseitige Wissensvermittlung. Für Grundzüge des Zeitungsmachens, Anmerkungen zur Rechtschreibung und Hilfe beim Formulieren gab es nicht nur eine Fülle von Begriffen aus dem "Milieu" sondern auch eine neue Topographie von Linz. Die Stadt aus der Sicht von Obdachlosen hat völlig andere "Wildwechsel" als aus der Sicht von Seßhaften, die sich vorwiegend entlang der Landstraße bewegen.Vom Bahnhof und der Waldeggstraße mit Notschlafstelle und Wärmestube gibt es wichtige Verbindungen ins Neustadtviertel, wo unter anderem die Zentralstelle für Haftentlassne und das Wohnheim für entwöhnte Alkoholiker ist. Knotenpunkte sind die Parks und natürlich die Marienstraße, dem Sitz der Arge für Obdachlose. Von dort führen Pfade an die Peripherie, wo die Wohnplattform billige Wohnungen zur Verfügung stellen kann und der Trödlerladen sein Hauptlager hat. Der einzige Trinkwasserbrunnen - außerhalb von Kinderspielplätzen - steht auf der Spittelwiese. Duschen und Wäschewaschen kann man in der Waldeggstraße und der Marienstraße, um 5 Schilling mittagessen am "Kleinen Mittagstisch" der Caritas in der Starhembergstraße. Ein Zuhältergulasch ist ein Grießkoch und das beste Essen gibt es am Freitag in der Marienstraße. Da kochen die Obdachlosen selber.
zeitungenBestimmte Informationen müssen Redaktionsgheimnis bleiben. Dort gibt es eine Kupfermuckn mit Strom, da und dort können Obdachlose übernachten, wenn sie sich ruhig verhalten. Einzelgänger bevorzugen bestimmte Schlafplätze, beheizte Waggons sind sowieso ein Geheimtip..
In der Arkade dürfen sich Obdachlose nicht aufhalten. Wer mit einer Maxi - Tageskarte unterwegs ist, sollte sie nach Gebrauch nicht tagelang in der Manteltasche mit sich schleppen, sondern an der Ausstiegsstelle deponieren.
Hund Rexi, der während eines Lokalaugenscheins seines Herrchens beim ORF in der Arge bleiben mußte, nützte die erste Gelegenheit, um auszubüchsen. Kurze Zeit später klingelte das Telefon. Rexi war am Damenklo vom Bahnhof und die Klofrau bat, ihn von dort abzuholen.
Die "Kupfermuckn" wollte von Bürgermeister Dobusch und Sozialstadträtin Holzhammer wissen, wie sie sich im Falle von Obdachlosigkeit verhalten würden. Bürgermeister Dobusch, der nach eigenen Angaben auch nur mit einem Seesack nach Linz gekommen war, würde sich an die Obdachloseneinrichtungen der Stadt wenden. Stadträtin Holzhammer würde zuerst versuchen, bei Freunden oder Verwandten Unterschlupf zu finden. Eine typische weibliche Strategie. Die weibliche Obdachlosigkeit ist eine große Unbekannte, weil sich Frauen nur in größter Not an soziale Einrichtungen wenden.
Rund 1000 Obdachlose gibt es offiziell in Linz. Die Dunkelziffer dürfte weitaus größer sein. Der Sandler als Aussteiger ist ein Mythos und vor Sozialromantik sollte man sich hüten. Während der Sommermonate wurde die Arge für Obachlose renoviert. Nach dem Ausweißigen werden Photos an die Wand gehängt. Es entwickelt sich eine Diskussion, ob man diese Photos, sie zeigen SozialarbeiterInnen und Sandler bei einer Feier - noch aufhängen kann. Denn drei der abgelichteten Sandler sind in der Zwischenzeit gestorben.

Obdachlose machen Zeitung. Das klingt gut und ist notwendig. In Wien behauptet sich der "Augustin", in allen wichtigen deutschen und europäischen Städten haben sich Sandlerzeitungen etabliert. In Linz gibt es fürs erste das Pilotprojekt "Kupfermuckn" in einer Auflag von rund 3000 Stück.Die Zeitung wird vrteilt. Spenden kommen den Obdachlosen zugute. Für die Zukunft sollte mehr möglich sein. Schließlich stehen nicht nur für Obdachlose kalte Zeiten bevor. An der Verdrängung der Obdachlosen aus dem öffentlichen Raum wird in ganz Europa gearbeitet. In Frankreich haben sich die Bürgermeister der Cote Azur im Sommer gegen die Clochards zusammengeschlossen, die jedes Jahr wie alle anderen Pariser auch in den Ferien in die Sonne wollen. In Wien entfernte man kurzerhand die Sessel im Jonasreindl. Wo kein Sessel, da kein Sandler. In Linz soll Hubert mit seinen vielen Nylonsackeln nicht mehr auf der Steinbank am Hauptplatz sitzen dürfen.
Das wäre noch eine Geschichte für die nächste "Kupfermuckn".

Dezember 96


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