Von der anderen
Seite des Hauptbahnhofs
19h, Hauptbahnhof Linz. Ich bin auf dem Weg zum
Schalter, als mich jemand an der Schulter nimmt: "Das ist gut, daß
Du wieder da bist, wir haben ein Gedicht für Dich. Hier, das ist die
'Tante', das der S., der 'Dichter' hat uns bei dem Gedicht geholfen."
Vier Leute stehen um mich herum, ich "kenne" nur den Sprecher,
mit ihm hatte ich im Februar für ein paar Stunden zu tun, als er mir
in der NOWA über Sozialarbeiter erzählte. Die Tante und S. kenne
ich vom Sehen, vom Dichter habe ich von einem Sozialarbeiter gehört.
Eine Viertelstunde später. Wir stehen in der Abfahrthalle und der Dichter
trägt ein Gedicht nach dem anderen vor, er reimt während wir reden,
manchmal recht ordinär, aber es klingt irgendwie professionell. Die
Unterhaltung wird von einem Polizisten gestört, der dem Dichter eine
Anzeige wegen Ruhestörung anhängen will, dies aber, nach kurzer
Diskussion, bleiben läßt. Ich sollte schon längst auf dem
Weg zur Redaktionssitzung sein, stehe aber mit S. und dem Dichter, die uralte
englische Schlager und lungauer Volkslieder singen, vor dem Bahnhof.
Als ich mich endlich auf den Weg mache - mit dem Versprechen, gegen 22h
wieder hier zu sein - bleiben die zwei im Regen stehend zurück und
winken mir nach.
21.18h, wieder am Bahnhof. Die Gruppe hat sich inzwischen
vergrößert, eine Ausweiskontrolle ist gerade im Gang. E. winkt
mir zu und gibt mir zu verstehen, daß ich weitergehen soll. Nach Beendigung
der Kontrolle folge ich den ausführenden Polizisten Richtung Wachzimmer.
"Grüß Gott, was brauchen Sie?" Ich erkläre, eine
Fortsetzung der Obdachlosenreportage machen zu wollen, unerwartererweise
wird mir daraufhin versprochen, Leute, mit denen ich mich unterhalte, nicht
zu belästigen. Mein Name wird aufgeschrieben und durchgegeben. Alles
sehr zuvorkommend. "Entschuldigen Sie, aber dürfte ich Ihnen einige
Fragen zum Thema 'Obdachlose' stellen?" Mir wird erklärt, daß
es nicht erlaubt sei, für die Öffentlichkeit bestimmte Stellungnahmen
abzugeben, ich solle stattdessen morgen auf die Direktion kommen, dort würde
man mir weiterhelfen.
21.31h. Zurück von der Wache, erzähle ich "meiner"
Gruppe, daß ich heute hierbleiben werde. "Na, das sollst Du nicht",
meint die Tante, "es wird so stark kontrolliert und Du hast doch keinen
Ausweis." Ich erwidere ihr, daß mich die Polizei in Ruhe lassen
wird.
Es ist ein sonderbares Gefühl, hier mit den Leuten zu stehen. Einige
kenne ich vom Februar und die Erinnerungen sind eigentlich nicht besonders
angenehm. Alle zeigen sich erfreut, weil ich hier bin und das verändert
meine Stimmung, ich fühle mich fast wohl.
"Gefällt dir der E. als Mensch? Er ist so in Ordnung!" E.:
"Geh, leg` eine andere Platte auf." E. redet nicht besonders viel
und läßt sich auf die Sticheleien der anderen nicht ein, er erinnert
mich an einen Sozialarbeiter, aber irgendwas an seiner Art paßt nicht
dazu. Ich frage, was sich seit Februar getan hat. E.: "Immer mehr Junge
kommen, die saufen zwar nicht viel, nehmen aber Tabletten oder so, die gehören
auch nicht zu uns." "Was ist mit den Streetworkern?" "Unsere
Gewerkschaft, aber ohne Möglichkeiten. Sie haben viel zuwenig Leute,
nicht einmal ein richtiges Büro." D.: "Bezahlt ja niemand."
Die Tante: "Es war eh` schon lang keiner mehr da!" S. sagt schon
zum xten Mal, daß der E. schon in Ordnung ist, die Tante tritt ihm
dabei gegen das Schienbein.
23.07h, der Dichter hat einen epileptischen Anfall, E. und ich bringen
ihn in die NOWA, kurz bevor diese zusperrt. "Hat er das öfter?"
E.: "Weil er so sauft, ich glaube, das kommt vom Saufen, das haben
viele hier, man könnte sagen, das ist unsere Hauptkrankheit."
Im strömenden Regen marschieren wir, den Dichter in der Mitte, zur
NOWA; E. versucht vergeblich, uns unter seinen Schirm zu quetschen. Ich
warte unten, während E. den Dichter in sein Zimmer bringt, in der Halle
sitzen ein paar Leute und pokern. "Trinkst Du Kaffee?" Dankbar
nehme ich den Becher entgegen. Nach einigen Fragen fangen die Leute an,
zu erzählen, auch davon, daß sich seit Februar einiges geändert
hat. Zwar gibt es, genauso wie vor einigen Monaten, eine große Zahl
von Obdachlosen, die bedingt durch Entlassung, Gefängnisaufenthalt,
Verschuldung, Scheidung, Alimente usw. auf der Straße gelandet sind,
wobei auch oft Alkohol mitgespielt hat, dazu kommen jedoch immer mehr Jugendliche,
die auf der Straße stehen. Die Obdachlosigkeit zieht immer weitere
Kreise, das drückt sich auch in einem permanenten Ansteigen der Dunkelziffern,
vor allem bei Frauen, aus.
Etwa zwanzig Minuten später: ein Sozialarbeiter dreht alle Lichter,
bis auf unseres, ab. "Normalerweise schickt er uns jetzt rauf."
"Was schreibst Du denn über uns?" "Die Polizei? Schlimmer
wird`s! Sie wollen die Stadt sauberhalten, wir sollen weg vom Bahnhof und
der Straße." "Aber wer von uns kann denn Arbeit finden,
es wird ja niemand genommen."
E. kommt und wir gehen. "Ich bring` Dich jetzt zum Bahnhof,
dann muß ich heim." Ich kenne mich nicht ganz aus mit ihm, zum
Bahnhof würde ich lieber alleine gehen. Zu gut ist mir der angebliche
Sozialarbeiter in Erinnerung, der mich im Februar am Bahnhof und an der
Nase herumgeführt hat. Andererseits hat E., soweit ich das mitbekommen
habe, den ganzen Abend nichts getrunken und er gibt klare Antworten. Zurück
am Bahnhof, mit E.: "Schau, ich hab`s geschafft, wirklich geschafft,
könnte man sagen." "Darf ich aufschreiben, was Du mir erzählst?"
"Sicher, da liegt der Fehler, den jeder Ausgegrenzte macht, er versucht,
zu unterdrücken, daß er anders ist, dadurch rutscht er immer
wieder zurück. Ich habe gesoffen, war insgesamt acht Jahre im Häfn,
meistens wegen Raufereien, ich habe für vier Kinder Alimente zu zahlen,
aber ich hab`s geschafft! Ich trinke nicht mehr, Job und Wohnung habe ich
auch und ein gutes Verhältnis zu meinen Kindern. Aber ich habe mich
nicht angepaßt, ich bewege mich auch jetzt noch in meiner Gesellschaft."
Frage an E.: "Was haben die "Alten" gegen die jugendlichen
Obdachlosen?" "Gegen die können sie was haben, die stehen
unter ihnen, sie stecken noch tiefer im Dreck und sind auch dreckiger als
die meisten hier. Auf die kann man spucken, wenn man etwas zum Abreagieren
braucht."
0.47h. E. geht und ich treffe die Tante wieder, die mir von der anderen
Seite des Hauptbahnhofs erzählt. Es mag an ihrer Ausstrahlung liegen,
daß meine Eindrücke von der Einsamkeit des Einzelnen an Intensität
verlieren. Sie erzählt von gemeinsamen Unternehmungen, von Solidarität
in gewissen Situationen, z.B. auf der Wache, bei Kontrollen, unter den Frauen
in der Waggonie. Es gibt auch Bahnhofsarbeiter, die helfen und in letzter
Zeit, so scheint es, dürfte auch die Öffentlichkeit die Augen
etwas weiter geöffnet haben.
Die Tante: "Ich habe einen Verwandten, der hier arbeitet, ein
bißchen Druck und er läßt uns in einen Waggon." Sie
kichert. "Holen wir uns einen Kaffee." Je näher wir dem Kaffeeautomaten
kommen, desto unternehmungslustiger wird sie. Ich sehe sie immer wieder
von der Seite an, sie ist kleiner als ich, aber stämmig, zäh.
Völlig zerbissene Lippen, halblanges, fettiges Haar. Und, als nachhaltige
Abrundung meiner Eindrücke, das Fehlen von Anzeichen der Resignation.
Sie beantwortet Fragen, wenn`s
ihr paßt, sonst antwortet sie mit "hm" oder "Auf Dich
paß` ich auf". Für die Waggonie bin ich, bei aller Sympathie
für die Tante, nicht wirklich zu begeistern. "Wir können
uns zusammen auf eine Bank legen", meint sie.
Etwas später stehen wir in einem Flur, vom Kaffeeautomaten durch eine
versperrte Tür getrennt. Die Tante spricht vorbeigehende Arbeiter an
und bittet sie, uns aufzusperren. Wir warten, bis endlich einer kommt, aufsperrt
und uns sogar den Kaffee zahlt. Ich will protestieren, aber meine Begleiterin
zupft mich am Ärmel: "Laß doch den Herrn." Der Bahnbeamte
sagt, er würde, sobald er Zeit habe, in die Halle kommen und allen
Kaffee bringen. Ich nehme das solange nicht ernst, bis er - vier Kaffeebecher
balancierend - in der Wartehalle ankommt und ankündigt, bei Gelegenheit
auch noch für den Rest der Leute Kaffee zu bringen.
Wir sitzen und reden, es ist mir nicht möglich, dabei Interviews
zu führen, weil ungefähr sechs Menschen gleichzeitig/durcheinander
reden, die meisten der Anwesenden sind völlig blau, aber die Stimmung
ist gut.
Nur der Bahnbeamte = der Verwandte der Tante wirkt irgendwie betreten, warum,
kann ich nicht herausfinden. Die Tante erzählt, daß er sehr hilfsbereit
sei und oft sogar Kontrolle spielt, wenn die Polizei in den Warteraum kommt.
3.27h. Ich verlasse die Wartehalle, draußen am Gang ist es
ziemlich kalt. Ein Mann wird von der Rettung abgeholt, etwas abseits steht
ein zweiter, abgemagert und ziemlich schmutzig. "Ich hab` doch gesagt,
daß er nichts trinken soll", sagt er, offensichtlich selbst völlig
betrunken, zu mir. "Das ist mein Freund, wo bringen ihn die denn hin?"
Einer der Sanitäter sagt mir, in welches Krankenhaus sie fahren werden,
ich schreibe dem Betrunkenen auf, wo er seinen Freund wiederfinden kann,
falls er sich am nächsten Tag nicht mehr daran erinnern sollte. Er
schluchzt laut vor sich hin, ich bringe ihn in die Wartehalle, da er vor
Kälte mit den Zähnen klappert.
4.15h. Die Halle ist nicht beleuchtet, nur vom Gang und vom Bahnsteig
dringt Licht herein, wir unterhalten uns flüsternd, zum Schlafen scheinen
heute nur die Güterzüge in Frage zu kommen. Der Betrunkene liegt
mit seinem Kopf auf meinem linken Knie, die Tante lehnt an meiner rechten
Schulter, mir ist relativ warm. Meine Vorurteile gegen die Waggonie sind
nicht geringer geworden. Zum Schreiben muß ich auf den Gang gehen,
hier herinnen ist es zu dunkel.
Gerade als ich vor mich hinkritzle, kommt der Eisenbahner, der uns zuvor
den Kaffee gebracht hat, mit einer neuen Lieferung. "Bist müde,
komm`", sagt er zu mir; als ich frage, ob die anderen nicht mitkommen,
schaut er mich erschrocken an. "Ich bekomme einen Haufen Schwierigkeiten,
wenn uns jemand sieht." Trotzdem bringt er zuerst S. weg, dann mich.
Wir gehen zum Bahnsteig 3, dort schickt er mich zuerst über
die Gleise, währenddessen geht er am Bahnsteig auf und ab. Erst als
er sicher ist, daß ihn niemand (außer mir) beobachtet, kommt
er nach. Er weiß, daß ich eine Reportage mache und mich auf
der Wache gemeldet habe, also habe ich kein allzu schlechtes Gefühl
dabei. Er zeigt mir, wie man die Türen öffnet und schließt,
dann läßt er mich warten und sieht nach, ob die Abteile alle
leer sind. "Du mußt unbedingt um halb sechs hier raus, o.k.?!"
Ich frage ihn, ob er auch den Leuten hilft, die wirklich auf der Straße
stehen: "Manchmal, aber die helfen sich ohnehin meistens selber",
meint er darauf. Als er - nach Ablehnung seines Angebotes, mir noch einen
Kaffee zu holen - gegangen ist, schaue ich noch einmal durch alle Abteile
und lege mich anschließend nieder.
6h? Entweder ich bin unsichtbar, oder die Züge werden nicht
genau kontrolliert, jedenfalls weckt mich der Eisenbahner, der mich vor
etwa zwei Stunden zum Waggon gebracht hat, auf. Schnell raus aus dem Personenwaggon,
zum Glück also doch kein Güterwagen, und über die Gleise
zum Bahnhofsgebäude zurück. In der Abfahrtshalle grüßen
mich zwei Zeitungsverkäufer, die mir ansehen, daß ich im Zug
geschlafen habe. Ich grinse sie an, kaufe mir eine (kalte) Pizza und einen
Fahrschein, zurück in die "heile", andere Welt des Bahnhofs.
Nachsatz: Falls jemand, der diesen Artikel gelesen hat, zufälligerweise
nach Dienstschluß der Klofrauen eine der Bahnhofstoiletten benützen
sollte: Klemmt bitte irgendwas zwischen Tür und Türstock, damit
das Schloß nicht einschnappt.
Anna Kopta