Tag fürTag
Die Bohème und der Hofer
Interview mit Rolf Schwendter von Eugenie Kain
Vor einem Jahr wollten wir mit Rolf Schwendter über dessen eben
erschienene "Neuere Sozialgeschichte der zentraleuropäischen Gastronomie"-
ARME ESSEN - REICHE SPEISEN reden. Wegen Schwendters Gastprofessur in Ungarn
wurde nichts daraus.
Ein Jahr später sind zwei neue Bücher erschienen. Auch die interessieren
uns. Wir machen uns also auf den Weg ins Ottakringer Cafe Weidinger. Kurzfristig
muß Rolf Schwendter für den erkrankten H.C. Artmann in der Schule
für Dichtung einspringen. Die Zeit für das hillinger - Interview
wird knapp. Aber immerhin: in einer halben Stunden kommen wir auf Subkultur,
das Telefonieren, Haferflocken, den libidinös besetzten Kochakt, Klassenströmungen
und Literatur zu sprechen. Ein paar Stunden später erlebten wir Rolf
Schwendter im Weinhaus Sittl als Akteur des 1. Wiener Lesetheaters und Interpret
eigener Lyrik.
hillinger: Das Bild, das du in deinem Buch "Tag für Tag"
vom Alltag zeichnest, ist kein erfreuliches?
Schwendter: Nein, ich sehe auch wenig Grund dafür im Moment, daß
es erfreulich aussähe.
Zur Information der Leserinnen und Leser: Bei "Tag für Tag"
handelt es sich um eine Kultur - und Sittengeschichte des Alltags, den Schwendter
als "anpassendes Ensemble kompakter Majorität" analysiert.
Er stellt fest: "Wer...die Schule (mitsamt ihren ewigen Hausaufgaben,
Prüfungsvorbereitungen und vorweggenommenen Chancenverteilungen nach
der Gaußschen Notenkurvenverteilung) absolvieren, Überstunden
leisten (während andere erwerbslos sind), den Haushalt verrichten,
die Kinder (unter den Bedingungen heutiger Infrastrukturen) versorgen, als
Abendmensch morgens aufstehen (oder als Morgenmensch nachts aufbleiben),
sich die Tage und Nächte mit Reparaturen, Steuererklärungen, anschaffungsbezogenem
Werbematerialienstudium, Versicherungspolicen, Schuldendiensten, Chefarztbesuchen,
Behördengängen, telefonischen Besetztzeichen....um die Ohren schlagen
und dazu noch Dutzende ebenfalls zeitaufwendiger Kompensationsangebote wahrnehmen
muß, um das Ganze überhaupt auszuhalten, wird mit Sicherheit
nicht über genug Muße verfügen, um irgend etwas Kreatives
sich einfallen lassen zu können, damit er/sie wenigstens eine Zehe
aus dem Rattenrennen rausstrecken kann."
Rolf Schwendter beschäftigt sich als Devianzforscher an der Gesamthochschule
in Kassel mit allem, was abweicht, naturgemäß auch mit Subkulturen.
Subkulturen werden, so seine Theorie, nachdem sie eigene Organisationsstrukturen
und Normen herausgebildet haben, früher oder später vom Alltagsleben
eingeholt und vereinnahmt, weil der Alltag aber so ist, wie er ist, entstehen
neue Subkulturen.
Welche subkulturellen Entwicklungen zeichnen sich zur Zeit ab?
Subkulturen hängen sehr stark
mit Subjektivität zusammen und welche Subjektivitäten sich entwickeln,
können wir nicht prognostizieren. Daß das so ist, können
wir schon bei Antonio Gramsci und anderen Theoretikern nachlesen. Ich formuliere
entsprechend vorsichtig: Ich würde es für nicht unwahrscheinlich
halten, daß es Subkulturen geben wird, die sich gegen die allumfassende
Computerisierung wenden, entweder mit den Strategien der Hacker, es können
sich aber auch Bürgerinitiativen gegen Computerschäden entwickeln.
Auch Subkulturen und soziale Bewegungen gegen die Gentechnologien werden
eine gewissen Zukunft haben.
Weiters prognostiziere ich ein Wiederaufleben der Boheme und zwar aus materiellen
Gründen. Wir können beobachten, daß die Anzahl der literarisch
Tätigen, der darstellerisch Tätigen, der musikalisch Tätigen
usw. von Jahr zu Jahr steigt und gerade auch in unfreiwilligen Subkulturen.
Ich gehe da von Erfahrungen in Deutschland aus, wo die künstlerisch
Tätigen unter den Psychiatrierten im Moment ein eigenes Zentrum haben.
Ein weiterer Indikator für das Aufleben der Boheme sind inoffizielle
Zahlen aus dem Umfeld der IG Autoren. In einem kleinen Land wie Österreich
haben wir bereits 9000 Autorinnen und Autoren. Vor einigen Jahren waren
es erst 6000.
Folgendes sage ich mit allergrößter Vorsicht: Es könnte
wieder einmal zu einer explizit politischen Bewegung kommen. Also zu einem
zweiten 1967 und folgende, selbstredend in einer anderen Formbestimmung,
über die sich dann meine Generation oder die nächste, die der
68er, in Einzelfällen ärgern würde. Aber es würde mich
nicht wundern, wenn die diversen Sparpakete, die vermehrte Repression gegen
Studierende, die ständige Ausweitung der Erwerbslosigkeit wieder zu
einer Bewegung führen würden. Oder, sagen wir zu Diskussionen,
wie sie ja in den aufgeklärteren Teilen des Establishmentes - siehe
"Globalisierungsfalle" bereits geführt werden."
Eine wichtige Rolle im Alltag spielt auch das Essen. Das wäre jetzt
der Übergang zu deinem Buch "Arme essen - Reiche speisen".
Darin gibst du den Ausblick, daß wegen der Sparpakete ein beträchtlicher
Teil der Bevölkerung Notzeiten entgegengeht. Notzeiten mit Wasser,
Mehl und Schmalz?
Zwischenzeitlich ist ja auch das Schmalz beinahe eine Art von Luxusgut.
Die Tendenz geht eher zu Primitivmargarinen. Brot und Margarine ist ein
häufiges Abendessen von Armen. Das ist das eine. Andererseits werden
die Fastfoodgebräuche zunehmen.
In "Arme essen - Reiche speisen" habe ich über 200 Jahre
hinweg die Frage von Klassencharakter der Küche nachzuvollziehen versucht.
Ich habe mich dann, weil das wahnsinnig verästelt ist und viel mehr
Forschungszeit in Anspruch nehmen würde, zu der Schematisierung arme
Arme, reiche Arme, arme Reiche, reiche Reiche durchgerungen, wobei ich selbstredend
weiß, daß das von einer präzisen Klassenanalyse weit entfernt
ist. Aber ich bin der Auffassung, daß wir diese schematische Vierteilung
heute noch haben. Die Haubenküche, für die Namen wie Gehrer oder
Matt stehen, ist im allgemeinen nur für die reichen Reichen zugänglich,
für die armen Reichen nur an hohen Festtagen. Den armen Armen bleibt
die eine oder andere fast food -Schiene und der Hofer.
Die Armen schlagen sich die Bäuche mit meist ungesundem junk food
voll. Geht ihnen da nicht auch die Lust am Kochen verloren?
Im großen und ganzen : Ja. Ich switche jetzt zum Alltagleben zeitgenössischer
Art zurück: Die Sache ist die, daß die Mitte verloren geht. Es
sind entweder wahnsinnig aufwendige libidinöse Kochakte, wo an einer
Sauce 4 Stunden lang gearbeitet wird oder es wird auf Grund der Doppel -
und Mehrfachbelastung der Familien irgendetwas in die Pfanne geknallt. Ich
denke, daß es für die nicht hegemonialen Klassenströmungen
seit Jahrzehnten eine großangelegte Erziehungsaktion zum libidinösen
Mangel beim Essen gibt, was durch das Auftreten verschiedener Haubenköche
in den "Seitenblicken" kompensiert wird.
Wie ist in diesem Zusammenhang die Tatsache einzuordnen, daß Gastrokritiker
die Haferflockensuppe entdecken und von den vielfältigen Gerichten
aus Erdäpfeln und Porree schwärmen?
Gastrosophisch ist gegen Haferflocken nichts einzuwenden. Sachen, die billig
sind, sind nicht unbedingt schlecht. Die erste Bewegung von unten in dieser
Richtung war das soul food in den USA, wo sie Rückgriffe auf die Sklavenküche
gemacht haben und entdeckt haben, daß ein Tier auch Kutteln hat und
ein Schwein Füße und Rüssel. Zurück zu den Haferflocken.
Wenn jetzt gesagt wird, es ist nicht schlimm, daß ihr arbeitslos seid,
ihr habt ja die gute, nahrhafte und billige Haferflockensuppe, dann hört
man die Absicht und ist verstimmt.
Was wäre für dich ein libidinöser Kochakt?
Das Libidinöse ist bei mir die Bereitung einer Vielzahl kleiner Gerichte,
eine Küche, wie sie der utopische Sozialist Charles Fourier vorgeschlagen
hat. Das wäre zum Beispiel die indonesische Reistafel, orientalische
oder südamerikanische Festtagsgerichte oder das kalt - warme Buffet,
kurzum ein Essen mit 20, 30 oder 40 verschiedenen Speisen, von denen sich
die Leute dann nehmen können, wie sie das mögen."
4 Stunden später im Extrazimmer vom Weinhaus Sittl am Gürtel,
schräg gegenüber vom Chelsea. Rolf Schwendter legt nicht nur beim
Essen Wert auf demokratische Strukuren, sondern auch bei der Theaterarbeit.
Ihn reizt die Ensembleformierung und das Stückeschreiben. Zu zehnt
wurde das Gemeinschaftsstück "Kasperl trifft Sysiphos" geschrieben.
Rolf Schwendter ist im Leitungsgremium des 1. Wiener Lesetheaters, das "so
basisdemokratisch wie möglich" arbeitet und macht von Kassel aus
die Öffentlichkeitsarbeit. Zu seinem Aufgabenbereich gehört es
auch, auf ein ausgewogenes Verhältnis bei den Produktionen zu sorgen:
klassische Stücke, zeitgenössische Stücke, unbekannte AutorInnen
und Stücke, die bereits aufgeführt worden sind. "Wir haben
die Norm, daß wir im allgemeinen keine Stücke machen wollen,
die innerhalb der letzten 3 Jahre in einem großen Theater gespielt
worden sind". Jeder, der will, kann die Verantwortung für eine
Produktion übernehmen. Das richtige Stück am richtigen Ort: Kaffehaus,
Weinhaus, Literaturhaus, Großkatzenhaus in Schönbrunn. Im "Sittl",
auch Gasthaus zum Goldenen Pelikan, paßt alles. Das 1. Wiener Lesetheater
ist heute "gaunz tiaf". Dem Publikum werden unter anderem die
dramatiserte Fassung von Thomas Northoffs Roman "Dharma Bau" über
Dichten, Leben Lieben und Saufen im Gemeindebau und Lyrik und Lieder von
Rolf Schwendter vorgestellt. Alte Hadern wie "do is a Haus in Ottakring"
oder "mir werns scho dapockn" stehen ebenso auf dem Programm wie
Nachdichtungen von Traditionals, des Schlußlieds von Shakespeares
Narren aus "Was ihr wollt" oder von Trinkliedern aus Carl Orffs
Carmina Burana. In dem alten Weinhaus verkehren auch Gezeichnete und Getretene.
Das Extrazimmer vom Sittl ist voll. Die Ober verlangen wie Menschen behandelt
zu werden. Wer beim Bestellen ungeduldig ist, durch Tischwechsel die Übersicht
stört und beim Servieren sein bestelltes Getränk ignoriert, bekommt
einen Verweis, im Wiederholungsfall gar nichts mehr. Der Sturm schmeckt
nach mehr. Das Publikum verlangt von den Lesenden, Singenden und Musizierenden
Zugaben, Zugaben und wieder Zugaben. Irgendwann ist Schluß, weil Sperrstund
ist . Draußen herrscht Wahlkampf und Sauwetter. Der Zusammenhang mit
den "Drizzling Fifties" ist in Rolf Schwendters jüngstem
Gedichtband nachzuvollziehen.
Rolf Schwendter ist Jurist, Philosoph, Politologe, Dramaturg, Regisseur,
Schriftsteller und Liedermacher.
Zuletzt sind folgende Bücher erschienen:
Theorie der Subkultur, neue Auflage, EVB - Taschenbuch, Hamburg 1993
Utopie . Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff, Edition ID Archiv,Berlin
1994
ARME ESSEN REICHE SPEISEN. Neuere Sozialgeschichte der zentraleuropäischen
Gastronomie, Wien 1995
Tag für Tag. Eine Kultur - und Sittengeschichte des Alltags. Hamburg
1996
"Drizzling Fifties" Gedichte, Wien 1996
Rolf Schwendter drizzling fifties 45
Stramm dagestanden, Hände in den Jeans - Taschen,
mit jenem "Was - kostet - die - Welt" - Lächeln, dem überzeichneten,
zwischen Ankauf der Lufthansa&Friedhof der Namenlosen,
wenn der Vater "Auf dich kommt nicht soviel" gesagt hat
- der Neue Sozialisationstyp ist immer schon uralt.
Noch kein Crack, nein: Alkohol reicht noch.
Ein dufter Typ: Pomade und Kölnischwasser.
Nicht sorgt noch der Fußball für Bataillesche Entgrenzung:
Ein Christbaum voller Mercedes - Sterne, ein Strauß Autoantennen
vor der Fahrt im Burberry aufs Hafelekar.
Ein Rhythmus Rock, ein Holzstück, das nachgibt,
Motorroller, allenfalls eine Autofahrt Richtung Abgrund,
noch keine Polizei, die auf gut Glück Parties überfällt,
Hands up und Handschellen, pro Gast zwanzig Liegestütze,
diese Art L.A. Law: Gestapo, gemildert durch Medien.
Noch nicht mit Scheinwerfern in alle Häuser geleuchtet.
Denn: noch keineswegs fünfundzwanzig Prozent arbeitslos,
noch nicht White Fence, nein, der weiße Zaun vor der
Wüstenrotsiedlung. Wenige Jahre: das Lächeln ist ganz
verschwunden,
und "Was kostet die Welt" bringt die Antwort: Zuviel
Entnommen aus Rolf Schwendters Gedichtzyklus "Drizzling Fifties",
Deuticke, 1996.