Marthe Ling & Mark Zed
Wie grausam, wie paradox,
wie unvorhersehbar und,
manchmal, wie gerecht!
Eine ansehnliche Zahl verschiedener Rezensenten hat in den letzten Monaten
diese Seite des hillinger - man könnte sagen - gefüllt: Terence
Marcus, Marvin Apiary, Marcus Zetticus und eine unter dem Pseudonym M. Zeindlinger
schreibende junge Dame mit einem Postfach im Mühlviertel, um nur einige
zu nennen.
An der gleichen Stelle lassen wir nun erstmals zwei Filmbesessene aufeinanderprallen:
Marthe Ling und Mark Zed liefern sich Wortschwälle über Subjektivität,
Ruhm, Konspirationen und den neuen Film von Pedro Almodovar "Mein blühendes
Geheimnis".
Marthe Ling: Mark, Du hast für unsere Unterhaltung quasi einen
Rahmen vorgegeben, der eigentlich keine Begrenzung hat. Es ist, wenn ich
mich recht erinnere, ein Satz, den Marisa Peredes gegen Schluß im
neuen Film von Pedro Almodovar spricht. Und sie meint damit das Leben. Das
Leben wird, so der Versuch, mit diesem Satz eingegrenzt, und diese Grenzen
sind nach allen Richtungen offen. Warum dieser Satz?
Mark Zed: Wenn ich einen Film sehe, das heißt, wenn ich ihn nicht
auf die Leinwand projiziert sehe sondern einen Blick in einen Vorführraum
werfe und irgendwo eine Rolle Film herumliegt, dann bin ich jedesmal schockiert
über die Winzigkeit dieser Bilder. Sie sind so klar eingerahmt und
begrenzt, daß es für mich schwer vorstellbar ist, sie könnten
jemals Bewegung abbilden. Auf der Leinwand fließen diese Lichtbilder
ineinander, eines geht in das nächste über. So lösen sich
zuerst die oberen und unteren Grenzen der Bilder auf. Dann passieren aber
in guten Filmen jede Menge spannender Dinge im Off, also außerhalb
des sichtbaren Bildes. In dem Sinn verschwindet der Rahmen der einzelnen
Kader völlig. Wir haben es also mit völlig offenen Grenzen zu
tun.
Was aber nicht heißt, daß Du Filme jetzt als Metapher für
die EU verwendest?
Wo gibt's in der EU völlig offene Grenzen? Der Satz hat aber auch in
"Mein blühendes Geheimnis" eine begrenzende Funktion. Er
wird von Leo gesprochen, die den ganzen Film über irgendwie ausgeronnen
ist, ganz ohne Gefäß war, weil das, was ihr Leben war, nach und
nach zerbrochen ist. Gegen Ende, wenn sie ihr Lächeln ganz zart wieder
ihr Gesicht erhellen läßt, nachdem sich alle Grenzen verschoben
haben, sichtet sie mit diesem Satz ihre neue Situation. Von der sie jetzt
weiß, daß es auch die alte war.
Das ist ja nicht der einzige Satz in diesem Film, der wie eine Blume
auf der Leinwand explodiert. Es gibt immer wieder diese ich nenne es: Poesie
der Erkenntnis. Menschen streiten und schreien sich an und plötzlich
schneidet so ein Satz wie ein Lichtstrahl in diese Konversation.
Na, mir wird rund um diese Sätze ein wenig zu viel gestritten und geschrien.
Gerade im ersten Teil habe ich den Pop von zum Beispiel "Kika"
arg vermißt.
Ich gebe zu, mir ging es zuerst ähnlich. Und dann habe ich plötzlich
begriffen, daß Almodovar zum ersten Mal keine dauerejakulierenden
Pornodarsteller oder RealityTV-besessenen Reporterinnen auftreten läßt.
Diese grellen Abziehbilder hatten ihren Reiz in einem sehr schrillen Kontext
mit überdrehten und vielleicht deshalb so wahren Stories, aber
Ich fand ihn wesentlich unkonventioneller, frecher, subversiver.
Vielleicht, ja, aber jetzt sehe ich zum ersten Mal Menschen aus Fleisch
und Blut, die bis in die Gesten stimmig porträtiert sind. Und trotzdem
läßt es sich Almodovar nicht nehmen, seine ureigenen Bilder zu
finden. Von weniger subversiv kann da keine Rede sein.
Ich liebe ja auch die Szene, wenn Angel in dieser langen Nacht auf der Straße
zu tanzen beginnt und dann hinfällt, und man hat das Gefühl, er
tut es ein bißchen absichtlich, damit Leo ihm dann aufhelfen muß.
Er liegt auf dem Kopfsteinpflaster, und es hat etwas kurios Komisches, wie
sein Bauch in den Sternenhimmel steht.
Almodovar geht dabei mit den Orten, in der die Geschichte spielt, sehr
abstrakt um. Madrid scheint nur aus Innenräumen zu bestehen, und auch
Leo's Heimatdorf, in das sie kurz zurückgeht, wird mehr grafisch aufgelöst
als zu einer schlüssigen Topographie verknüpft.
Ja, die Autofahrt durch die Felderlandschaft von La Mancha ist der große
Kontrast. Es geht um Innenräume, auch um die der Charaktere. So zersplittert
wie das von den Spiegeln aufgespaltene Bild des Begrüßungskusses
(siehe Foto oben, die Red.) ist auch die Beziehung zwischen Leo und Paco.
Und die Szene, wenn Paco endgültig geht, ist genauso architektonisch
wie psychologisch, wenn man das so sagen kann.
Da fällt mir ein, daß es bei Woody Allen dieses Thema auch
gibt. Einer seiner Filme heißt sogar "Interiors". Ist Almodovar,
nachdem er immer der spanische Tarantino war, nun der spanische Woody Allen?
Weißt du, diese Schubladisierung und dieses Namensschildchenumhängen
halte ich für ziemlich bescheuert. Da spricht man doch Künstlern
ihre Eigenständigkeit ab.
Nun ja, Kritik, nicht zuletzt Filmkritik, hat ja immer solche Einteilungen
getroffen. Da pauschalisiert man und faßt zusammen, um einen Überblick
zu gewinnen.
und verliert dabei die Individualität. Und gleichzeitig, das ist das
Perverse, glaubt jeder Kritiker, daß nur er recht hat oder sie. Da
bescheißt man ja auch die Rezipienten der Kritik.
Jeder weiß, daß Kritiken subjektiv sind. Das liegt in der
Natur des Menschlichen Klingt beinahe prosaisch, aber gerade
Sicher! Dann muß man sich aber doch auch um Formen kümmern, die
viel subjektiver sind als diese ewigen Kurzrezensionen, die mit jedem Satz
die Referenz dafür ausatmen müssen, wie seriös sie zu sein
glauben. Das ist mir zu fadenscheinig. Pseudoobjektivität ist dermaßen
langweilig. Anstatt irgendeinen lauwarmen Essay würde ich zum Beispiel
viel lieber ein fingiertes Interview mit Almodovar lesen. Zu glauben, daß
man objektive Kritiken schreiben könne, ist ja selber schon eine Fiktion.
[...]
Da die Seite - man könnte sagen - gefüllt ist, brechen wir
an diesem heißen Punkt einstweilen ab. Sollte die Red. es gnadenhalber
gutheißen, werden an dieser Stelle bald weitere Gespräche veröffentlicht.
Oder war die Redaktion auch nur eine Fiktion? In einem Monat wissen wir
mehr.