Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten  
Elfriede Jelinek
 
 

bleiben dann in der metallischen Wassermasse stecken wie ein Löffel im Pudding, krabbeln heraus, verheddern sich mit ihren Riemen ineinander. Das Ausland pflegt unsere Persönlichkeit nicht genug! Es kommt lieber her, um sich pflegen zu lassen. Daher geigen wir ihnen bald wieder heim oder löschen ihre Lebenslaternen gleich hier bei uns aus. Wir schwimmen auf der Einbrennsuppe immer oben. Und was wir dabei nicht schlucken können, das graben wir hundeartig im Boden ein, damit wir Proviant für ein riesiges Gelage, bei dem wieder einmal Menschen gegessen werden, luftschutzbunkern können. Jawohl. Alles Essen! Linksherrum, rechtsherrum! Den Herrn zeigen, die Partnerin schwenken und dann drehen! Gut so.


 
Elfriede Jelinek
 
 

Die Ringstraße wälzt sich wie ein breiiger Lavastrom unter der Last von ein paar Straßenbahnlinien und, gestützt von den einander dauernd widersprechenden Bestrebungen und Bestemmungen von ein paar Hunderttausenden Autos, dennoch genußvoll herum und läßt sich am 1. Mai den Bauch kraulen, ein alter Brauch. An den Seiten kann man gehen und ebenfalls fahren. Diese minimalen Umstände des Beschreibens und Beschreitens mach ich mir auch nur, um Sie drauf aufmerksam zu machen, daß wir uns einem Punkt nähern, an den wir genausogut auch hätten zu Fuß gehen können, wenn wir nicht allzu weit weg gewohnt hätten. Für den aufrechten Gang sind unsere Leiber ursprünglich gezüchtet, weil man aus uns etwas Besseres als ein Tier herstellen wollte. Die Anmut ist uns jedoch ausgetrieben worden, dafür jagen in den Gemütern unsere Empfindungen spielend umher, zerren kopfschüttelnd mit ihren Reißzähnen an den letzten Resten von Mitleid, die sie uns aus dem Bauch holen, wo wir uns unsere Gedanken schneidern lassen; sie tollen wie Jagdhunde, diese Gefühle, die uns manchmal, wenn es Nacht wird, zerreißen, weil wir einer Göttin (Spitzname: die Wahrheit) heimlich beim Baden zugeschaut und nichts gesehen haben, da wir an ihrer Statt unser Kontakt-Linsengericht aufgefressen haben. Es heben die Toten unter unseren Sohlen die müden Rücken an und straffen ein letztes Mal die Schultern, damit wir besser auf sie draufsteigen können. Wie sollten wir sonst all die Haken in die Wände unserer Berge schrauben, um Leute daran aufzuhängen? Bis die Toten, endlich abgehangen, zum Verzehr geeignet sind und wir uns ihre Eingeweide in den Mund schaufeln können. Das Fleisch muß ordentlich unter unseren Hintern ruhen können, sonst ist es zu zäh. Wir sind so froh, daß wir Recht haben, es ist gar nicht auszuhalten. Warum ich das sage? Inzwischen enthüllt sich mir ein grauer, ein grauenhafter Ort, das Kellergeschoß des sogenannten Kunsthistorischen (drüben: eins für die gute Völkerkunde!) Museums, kommen Sie, schauen Sie es sich an, aber nicht aus der Nähe, wir haben wenig Zeit, wir müssen uns später noch die eingeglasten Gehirne am Steinhof anschauen, also das Museum ist einfach super groß, allein der Eingang! Es besitzt Säle noch und noch, in denen die zerschlagenen Formen von Menschen gezeigt werden. Man kann sehen, wie sie gedacht waren, bevor sie uns und unserem Insektengift entkommen konnten. Als man sah, daß es so nicht gut war, haben wir, ihre Götter, diese schönen Formen zerschlagen, sind aber nie mehr dazu gekommen, neue zu machen. So konnten diese Leute auch vorher niemals dagewesen sein. Davor, bevor sie nie dagewesen waren, haben wir sie aber noch fotografiert und abgemessen, wie ihre Lebensfristen, damit sie vor ihrem Tod noch erfuhren, wie sie, um uns zu gefallen, niemals hätten aussehen dürfen. Heute würde man gar nicht mehr glauben, von welch rasendem Rausch diese Stadt einmal erfaßt gewesen ist, und das nur wegen Menschen, die, aus heutiger Sicht, eine ganz normale, alltägliche Außenansicht gehabt haben. Keine Hundescheiße drauf, die Hände noch nicht von einem Zaun-Waffelrost gegrillt, keine Peitschenmarken, mit denen sie ins Jenseits hätten abgeschickt werden können, nichts hätte ihnen etwas genützt.

 
Elfriede Jelinek
 
  Elfriede Jelinek. Die Kinder der Toten.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995, S. 555 - 558.
 

 

 

 
 




Elfriede Jelinek

Elfriede Jelinek wurde 1946 in Mürzzuschlag/Steiermark geboren. Kindheit und Jugend in Wien, Studium der Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft und Musik in Wien. 1972 Aufenthalt in Berlin, 1973 in Rom. Lebt als freie Schriftstellerin in Wien, München und Paris. Mit dem „ersten konsequent durchgehaltenen Poproman deutscher Zunge“ hinterließ Elfriede Jelineks Romandebüt „wir sind lockvögel baby“ einen nachhaltigen Eindruck.